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Verhängnisvoll

Der neue Kalte Krieg unterscheidet sich vom früheren in mehreren Punkten. Er könnte gefährlicher werden als der alte

Von Wladimir Kosin *

Obwohl der Kalte Krieg offiziell mit der Annahme der »Pariser Charta für ein neues Europa« am 21. November 1990 für beendet erklärt wurde, hörte diese besondere Form von Krieg nie auf. Mehr noch, der erste Kalte Krieg hat zum Jahreswechsel 2014/2015 ein qualitativ neues Ausmaß angenommen. (...)

Mit der Aufpäppelung eines weiteren antirussischen Partners in Gestalt der Ukraine und der gewaltsamen Lösung von Aufgaben anderswo durch die führenden Länder des transatlantischen Bündnisses wurde eine neue Phase des Kalten Krieges eingeleitet, die weniger berechenbar und gefährlicher ist als ihre Nachkriegsvariante.

Sie unterscheidet sich von der alten durch folgende Merkmale:

1. Es gibt vermehrte Versuche eines ungesetzlichen Machtwechsels im postsowjetischen Raum. Das geschieht insbesondere mit Hilfe von Spezialdiensten der führenden NATO-Länder, mit breiter Nutzung der Massenmedien, der Informations- und Kommunikationstechnologien sowie von Nichtregierungsorganisationen. (...)

2. Die Massierung militärischen Potentials und militärischer Aktivitäten der NATO direkt an den Grenzen der Russischen Föderation hat eine qualitativ höhere Stufe erreicht. (...)

Globale Stabilität

Zu den 150 Militärbasen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, die sich in unmittelbarer oder relativ geringer Entfernung von Russlands Grenzen befinden, sind in den letzten Monaten weitere acht Stützpunkte sowie zwei NATO-Führungszentren hinzugekommen (weitere vier werden folgen). (...)

Voraussichtlich in fünf bis sechs Jahren werden die USA mehr Antiraketen für ihr globales boden- und seegestütztes Luftverteidigungssystem produzieren, als in Russland strategische Atomwaffen verbleiben – entsprechend den Festlegungen des Prager Abkommens von 2010 über deren Begrenzung (New START) und nach dessen kompletter Realisierung im Jahre 2021. Gedeckt von einem gewaltigen Raketenabwehrschirm können die USA dann den ersten Atomwaffenschlag auf einen der sieben Staaten führen, die als Objekte eines »Initial«atomwaffenschlages in ihrem »Generalplan zur Führung eines allgemeinen Raketenkernwaffenkrieges« genannt sind. Die Schaffung dieses spezifischen amerikanischen Schildes mit Hilfe einer Reihe anderer NATO-Mitgliedsstaaten ist durch keinerlei völkerrechtliche Verpflichtungen beschränkt. Werden keine entsprechenden eindämmenden Maßnahmen ergriffen, kann die strategische Stabilität in der Welt grundlegend untergraben werden.

Diese Situation wird noch dadurch verschärft, dass entsprechend den Beschlüssen des NATO-Gipfels vom Mai 2012 in Chicago eine derartige Raketenabwehrinfrastruktur im strategisch-operativen Plan mit den Atomraketen und den konventionellen Fähigkeiten der USA und der NATO »verknüpft« wurde. Die Formulierung über die Schaffung eines solchen Mechanismus erschien erneut im Abschlussdokument des jüngsten NATO-Gipfels im britischen Newport vom September 2014.

3. Damit verbunden ist ein Merkmal, das unmittelbar mit dem zweiten verknüpft ist: der völlige Stillstand bei der Lösung von Problemen der Rüstungskontrolle. (…) Vor allem gibt es keinerlei Gespräche zu atomar bestückten Raketen, zum Verbot von Antisatellitensystemen, zur Verringerung überflüssiger konventioneller Bewaffnung, zur Begrenzung großräumiger militärischer Handlungen oder in anderen Bereichen.

Es sei daran erinnert, dass in der Periode des »Kalten Krieges 1.0« insgesamt sieben Vereinbarungen über die Begrenzung und Verringerung strategischer Angriffswaffen, zwei Konventionen über das Verbot konventioneller Massenvernichtungswaffen, eine Vereinbarung zur Vernichtung von Raketen mittlerer und geringer Reichweite, einige internationale Verträge zur Nutzung des Weltraums für friedliche Zwecke sowie über vertrauensbildende Maßnahmen bei militärischen Handlungen zu Lande und zu Wasser sowie ein mehrseitiges Abkommen über die Begrenzung konventioneller Bewaffnung in Europa abgeschlossen wurden.

4. Das vierte Unterscheidungsmerkmal besteht darin, dass die westlichen Länder begonnen haben, ökonomische Sanktionen gegen Russland in wesentlich größerem Maßstab anzuwenden, als das früher der Fall war – sowohl, was den Umfang als auch einzelne Branchen und sogar einzelne Personen betrifft. (...)

5. Zu beobachten ist eine stärkere militaristische und kriegerische antirussische Rhetorik, häufig verbunden mit direkten Drohungen an die Adresse Russlands. (…) US-Präsident Barack Obama hat bereits dreimal öffentlich ein und dieselbe Erklärung abgegeben: Russland nehme aufgrund seiner Handlungen einen Platz zwischen Ebola und dem »Islamischen Staat« ein. Die Äußerung des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan vom 11. August 1984 vor eingeschaltetem Mikrofon, er habe die Sowjetunion »außerhalb des Gesetzes« gestellt und den Befehl erteilt, ihre Bombardierung »in fünf Minuten« zu beginnen, erscheint dagegen als dummer Scherz.

»Heißer« Krieg

Obamas ähnliche Bemerkungen an die Adresse Russlands sind nicht scherzhaft, sondern äußerst gefährlich, und sie haben weitreichende negative Auswirkungen. Es scheint, dass die Mentalität des Kalten Krieges aus der militärpolitischen Führung von USA und NATO nicht verschwunden ist. Im Gegenteil, sie hat sich in ihren Vorstellungen über die Entwicklung in der Welt und die eigene Rolle in ihr fest verankert.

Das Ergebnis: Die gegenwärtige neue Phase des Kalten Krieges kann sich als langandauernd und gefährlicher erweisen als der Kalte Krieg, der fast 50 Jahre währte. Sie bringt neue Gefahren mit sich: Sie führt zu einer weiteren Militarisierung der USA und des Nordatlantischen Bündnisses und zu einer Verstärkung ihrer Aggressivität. Sie bremst den Prozess der Verständigung zwischen den Führern der Großmächte, der außerordentlich notwendig ist, insbesondere in Krisenzeiten. Sie wirkt sich negativ auf das Vorankommen bei einer ausbalancierten Rüstungskontrolle und auf die weltweiten Militärausgaben aus. Sie rückt die Realisierung der Idee der Schaffung einer atomwaffenfreien Welt in weite Ferne.

Wie auch der Veteran der amerikanischen Diplomatie und Politologie Henry Kissinger vor kurzem bemerkte, gibt es bereits den »neuen Kalten Krieg«. Er stelle eine Gefahr dar, deren Ignorierung sich in eine »Tragödie« verwandeln könne. Diese Tragödie besteht darin, dass sich die neue Phase schrittweise in einen »heißen« Krieg verwandeln kann. Die kritische Masse dafür nimmt von Tag zu Tag zu. Sie verschwindet nicht und wird auch nicht geringer. (...)

Weder Obama noch seine Minister haben auf die einfache Frage geantwortet, warum sie im Februar 2014 einen verfassungswidrigen Umsturz in Kiew vollzogen und mit welchem Ziel sie todbringende Waffen an die ukrainischen Streitkräfte lieferten. Damals erhielt die Ukraine nicht nur automatische Gewehre und optische Zielgeräte, sondern auch Panzerabwehr- und tragbare Flugabwehrkomplexe, Granatwerfer und die dazugehörige Munition. (...)

Das Resümee lautet: Die neue Phase des Kalten Krieges kann sehr schnell in einen »heißen« Krieg« umschlagen. Die Initiatoren sind die USA und die führenden NATO-Länder (...). Das Verhängnisvolle dabei ist: Die negativen Folgen dieses Krieges wirken sich nicht nur auf die russisch-amerikanischen Beziehungen und die Beziehungen zwischen Russland und der NATO aus, sondern auf die globale Situation insgesamt. Russland kann keine neue Phase des Kalten Krieges und keinen irgendwie gearteten »heißen« Krieg für sich oder für die gesamte übrige Welt zulassen.

Wladimir Kosin leitet die Beratergruppe beim Direktor des Russischen Institutes für Strategische Studien in Moskau. Auf der Konferenz »Jalta 1945: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft«, die am 4. und 5. Februar im Liwadija-Palast auf der Krim stattfand, hielt er den hier abgedruckten, redaktionell gekürzten Vortrag.

Vom 4. bis 11. Februar 1945 fand im Liwadija-Palast die Konferenz von Jalta statt, an der die führenden Repräsentanten der USA (Franklin D. Roosevelt), Großbritanniens (Winston Churchill) und des Gastgebers Sowjetunion (Josef Stalin) über die Nachkriegsordnung in Deutschland (bedingungslose Kapitulation, Entnazifizierung, Entmilitarisierung) und Europa (Curzon-Linie als Ostgrenze Polens), den Krieg gegen Japan sowie über die Charta der Vereinten Nationen (Vetorecht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats) verhandelten.


* Aus: junge Welt, Montag, 23. Februar 2015


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