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Hegel widersprochen

Bundestag debattierte über Umgang mit der NS-Vergangenheit

Von René Heilig *

Am Vorabend des Tages, an dem man der beispiellosen Folgen brennender Synagogen gedenkt, wurde im Bundestag über Kontinuitäten zwischen der Nazi-Diktatur und dem Aufbau der Bundesrepublik gestritten. Eineinhalb Stunden lang wurden Antworten auf eine Große Anfrage der Linksfraktion analysiert. So viel Zeit hatten sich die Abgeordneten für dieses Thema, dass auch durch den NSU-Skandal Aktualität gewinnt, noch niegenommen.Doch nicht immer war die Debatte dem Themaangemessen.

Alte Nazis in westdeutschen Behörden – die Kontinuität beim Personal hatte auch politische Folgen. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung war lange überfällig und hat zögernd begonnen. Am Donnerstag befasste sich der Bundestag mit dem Thema.

Etwas verwegen ist er schon, der Bundestagsabgeordnete Jan Korte. Er tritt – unterstützt von seiner Fraktion – nicht nur wider das Vergessen und Vertuschen an, er mag sich auch einfach nicht abfinden mit der etwas fatalistischen Erfahrung des Idealisten Hegel, den Umgang mit der Geschichte betreffend (siehe Zitatkasten).

Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte



Mit einer Großen Anfrage hatte sich die Linksfraktion 2010 an die Bundesregierung gewandt, um deren Umgang mit der NS-Vergangenheit zu ergründen. Immer wieder bat die Regierung um Aufschub für die Antwort (Drucksache 17/4126), um dann vor knapp einem Jahr festzustellen, »dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft die generell am besten erforschte Periode des 20. Jahrhunderts ist«. Belegt wird das mit dem Hinweis darauf, dass in der letzten Auflage der »Bibliografie zum Nationalsozialismus « von Michael Ruck aus dem Jahr 2000 über 37 000 entsprechende Titel verzeichnet sind. Für die Zeit von 2000 bis 2010 werden im Jahresbericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften knapp 26 000 deutsche Titel zum Thema ausgewiesen. Das ist zwar nicht Verdienst der Regierung und ihrer Geschichtsaufarbeitung, richtig ist es dennoch.

Auch dass die Antwort der Bundesregierung 85 Seiten umfasst, ist nicht alltäglich. Korte würdigt durchaus, dass so »nun erstmals ein umfassender offizieller Überblick über Umfang und Intensität der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Staatsapparat der frühen Bundesrepublik « vorgelegt wurde. So könne man sich »intensiver mit dem Thema befassen« und bei all jenen entschuldigen, die unter der jahrzehntelangen Nichtaufarbeitung der Nazizeit zu leiden hatten: Kommunisten, die die Konzentrationslager überlebten und deren Partei 1956 erneut verboten wurde, Sinti und Roma, deren Gedenkstätte erst vor wenigen Tagen eingeweiht wurde, Wehrmachtdeserteure, die noch vor wenigen Jahren auch im Bundestag öffentlich als Feiglinge und Verräter gebrandmarkt worden sind ...

Bis in die jüngste Geschichte hinein wurden jene, die die Kontinuität zwischen Drittem Reich und der Bundesrepublik kritisierten, als »Verleumder«, »Miesmacher der Demokratie« oder »Handlanger des Ostens« beschimpft. Nun kam die Bundesregierung nicht umhin, eine – wie der »Spiegel« meinte – »gigantische Beichte« abzulegen. Das Lob scheint angesichts unübersehbarer Lücken und kaschierender Halbwahrheiten allerdings zu hoch gegriffen.

Die Fragenden, so sagt die Regierung, gingen von dem »sehr weiten Begriff der ›NS-Belastung‹ aus. Doch auch »prominente Einzelfälle wie Oskar Schindler oder der Widerständler Ulrich von Hassel machen anschaulich, dass NSDAP-Mitgliedschaft, für sich genommen, wenig aussagekräftig ist«. Sicher ist das so. Doch es geht nicht um den Judenretter Oskar Schindler, es geht um einen Bundeskanzler und 26 Bundesminister, die der NSDAP oder anderen Organisationen, wie der SA, angehörten. Da tauchen Namen auf wie Horst Ehmke, Herbert Ehrenberg, Erhard Eppler, Hermann Höcherl, Kurt-Georg Kiesinger, Walter Scheel, Friedrich Zimmermann und Hans-Dietrich Genscher.

Darüber hinaus geht es um all die »Unverzichtbaren« beim Aufbau der BRD, um die alten Seilschaften, die man nutzte, um die Bundesrepublik als »Bollwerk gegen den Osten« aufzurüsten. Sie waren in der Justiz, den Geheimdiensten, der Polizei, der Bundeswehr, im Auswärtigen Amt und hatten Erfahrungen im Praktizieren von Antikommunismus, der rasch wieder zur Staatsdoktrin erhoben wurde. Dafür wurde umgehend Schluss gemacht mit der »Nazi-Riecherei«, so Kanzler Konrad Adenauer. Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast siebenmal so hoch wie die gegen NS-Täter.

Eine der 64 Fragen der LINKEN lautete: »Wie viele Angestellte, Beamte, Mitarbeiter in Institutionen des Bundes sind nach 1949 aufgrund ihrer NS-Vergangenheit aus dem Dienst entlassen worden? Die Antworten sind dürftig. Das Auswärtige Amt kann drei vorweisen, das BKA drei, das Bundesjustizministerium eine Person ...

Die Organisation Gehlen und der daraus entstehende BND holte Massenmörder in seine Reihen und schützte Leute wie Eichmann, Barbie, Brunner, Rauff, die den Holocaust organisierten und ausführten. Kaum weniger schändlich ging es im Verfassungsschutz zu, und auch das Bundeskriminalamt wollte auf erfahrene Kollegen nicht verzichten. Die Leitungsebenen des BKA im Jahr 1959 (insgesamt 34 Personen) bestand »zu 56 Prozent aus ehemaligen SS-Mitgliedern «, stellten Forscher der Uni Halle fest.

Gefragt nach Nazis in der Bundeswehr, versucht die Bundesregierung eine übliche Retourkutsche und erklärt, dass »im März 1964 noch 67 ehemalige Wehrmachtoffiziere aktiv in der NVA« dienten. »Ob diese Soldaten in besonderer Weise mit dem NS-Regime verbunden gewesen sind oder an Verbrechen beteiligt waren, entzieht sich der Kenntnis der Bundesregierung.« Freilich, solch Blick gen Osten ist nicht nur erlaubt, er ist notwendig, doch in Sachen Kontinuität zwischen Nazidiktatur und Nachkriegsdeutschland ist die alte Bundesrepublik unschlagbar.

In der Vorbemerkung auf die Antwort zur Großen Anfrage der Linksfraktion heißt es: »Bund und Länder haben diese Aufarbeitung von Beginn an nachhaltig unterstützt. « Die Behauptung ist dreist. Bund und Länder mussten zum Jagen getragen werden, zur Aufarbeitung, die noch lange nicht abgeschlossen ist.

Doch Korte registriert, dass es Fortschritte beim »Ehrlichmachen « gibt. Ministerien und Behörden öffnen sich notgedrungen Fragen zu ihrer Geschichte. Die gestrige Debatte, so ist ein Entschließungsantrag der LINKEN zu verstehen, muss als Anfang und nicht als Endpunkt der Aufarbeitung von institutionellen und personellen Verflechtungen zwischen der Nazi-Diktatur und Nachkriegsdeutschland verstanden werden. Schon deshalb, weil der Antrag der Linksfraktion nach einer zum Teil sehr ruppigen Debatte abgelehnt wurde.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 09. November 2012


Jede Leiche zählt

Schwarz-Gelb tut sich schwer mit der NS-Aufarbeitung – auch im Parlament

Von Fabian Lambeck **


Wieder einmal zeigten Union und FDP, dass sie NS-Verstrickungen westdeutscher Eliten gerne mit Verweis auf die »DDR-Diktatur« kontern. Einer ehrlichen Debatte ist das nicht dienlich.

»Ein Reflex«, so weiß es das Online- Lexikon Wikipedia, »ist eine unwillkürliche, rasche und gleichartige Reaktion (...) auf einen bestimmten Reiz. Auch die Politik kennt solche Reflexe. Etwa wenn die Sprache auf die braune Vergangenheit der frühen BRD-Eliten kommt. Sofort wird dann auf die »rote Diktatur« östlich der Elbe verwiesen. Auch als am Mittwoch im Bundestag der Antrag der LINKEN zum »Umgang mit der NS-Vergangenheit « diskutiert wurde, reagierten Unions- und FDP-Politiker mit den bekannten Reflexen. Da half es auch nichts, dass Jan Korte (LINKE) in Anlehnung an SPD-Legende Egon Bahr davor warnte, »die Leichenberge der Nazis mit den Aktenbergen der Stasi zu vermischen«.

Der FDP-Abgeordnete Patrick Kurth ließ sich nicht beirren. Es sei Staatsräson, so Kurth, »alle Diktaturen aufzuarbeiten«. Für ihn zähle jede Leiche, auch die »in Moskau Erschossenen«. Obwohl es in der Debatte um NS-Unrecht gehen sollte, empfahl der FDP-Mann die Lektüre des Buches »Die Stasi im Westen «. Der Liberale steigerte sich schließlich in die Behauptung, die 68er-Bewegung im Westen sei von der »Stasi gesteuert« gewesen. Damit brachte er selbst Grünen-Chefin Claudia Roth auf die Palme.

Etwas subtiler argumentierte der CDU-Abgeordnete Detlef Seif. Der Christdemokrat schloss sich der Meinung seines SPD-Vorredners Wolfgang Thierse an und betonte, der Antrag der LINKEN wäre glaubwürdiger gewesen, »wenn es einen Bezug zur DDR gegeben hätte«. Offenbar hatten beide Politiker den Antrag nicht gelesen: Unter Punkt 21 wird dort explizit gefragt, welche Kenntnisse »die Bundesregierung über die Beschäftigung von NS-belasteten Personen in den staatlichen Organen der DDR« habe.

Der ebenfalls im Antrag geforderten Freigabe westdeutscher Behördenakten stimmte Steif sogar zu. »Wir alle haben Interesse an einer Offenlegung«, so der CDU-Hinterbänkler. Allerdings müsse man vorher prüfen, welche Akten man freigeben könne. Eine vollständige Offenlegung bedeute »Informationsfreiheit für Al Quaida«, behauptete Steif allen Ernstes.

Sein Fraktionskollege Stephan Mayer (CSU) stellte sich lieber dumm. Die NS-Zeit sei die »am besten erforschte Periode der deutschen Geschichte«, so Mayer. Dass es der LINKEN aber um die Nachkriegszeit geht, ignorierte der Bayer. Ohnehin wolle die LINKE nur »politisch instrumentierbare Auftragsforschung«, so Mayer.

Auch wenn der LINKEN-Antrag keine Chance hatte. Immerhin nötigte man Union, FDP und SPD dazu, einen Gegen-Antrag zu formulieren. Demnach soll der Aktenzugang verbessert werden. Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, die »Forschung zur Bundesrepublik und zur DDR« durch gute Rahmenbedingungen zu fördern. Man darf gespannt sein.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 09. November 2012

Hier geht es zum Protokoll der Bundestagsdebatte:

Stenografischer Bericht, 204. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 8. November 2012. Der entsprechende Tagesordnungpunkt 4 ("Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Umgang mit der NS-Vergangenheit") befindet sich in dem Plenarprotokoll 17/204 auf den Seiten 24700-24723.

Die 85 Seiten lange Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist eine Dokument besonderer Qualität. Es befindet sich hier:
Drucksache 17/8134




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