Zwischen Geboten und Verboten
Imad Mustafa über Muslimbrüder, Hisbollah und Hamas, über den Krieg in Syrien und eine humanitäre Pflicht *
Er will aufklären. Die auf Unwissen basierende Sorge im Westen, islamische Parteien und Bewegungen würden arabische Gesellschaften mit der Scharia ins Mittelalter zurückkatapultieren, korrigieren. Der studierte Politologe und Orientalist Imad Mustafa, 1980 in Esslingen (Baden-Württemberg) als Sohn eines palästinensischen Gastarbeiters geboren, weist in seinem Buch »Der Politische Islam. Zwischen Mulimbrüdern, Hamas und Hizbollah« (Promedia, 230 S., br., 17,90 €) nach, dass die meisten islamischen Bewegungen genuin politische Organisationen sind, die sich einer pluralistischen Willensbildung nicht verweigern. Mit Imad Mustafa, dessen Blog »das migrantenstadl« 2013 für den Grimme-Preis nominiert war, sprach Karlen Vesper.
Vor wenigen Tagen hat das Militär in Kairo die Muslimbrüder verboten. War dieses Verbot rechtens?
Nicht alles, was legal zu sein scheint, ist legitim. Das Verbot und die spätere Kriminalisierung der Muslimbruderschaft als »terroristische Organisation« ist eindeutig ein politisch motivierter Akt, mit dem sich die neuen Machthaber am Nil um General al-Sisi die fehlende Legitimität sichern wollen.
Seit ihrem Putsch im Juli 2013 haben sie die Muslimbruderschaft als terroristisch gebrandmarkt und sich selbst als Vorkämpfer gegen den »islamistischen Terror« inszeniert. Dass dieser Vorwurf völlig aus der Luft gegriffen ist, scheint die Anhänger des Militärs aber nicht zu stören. Gleichzeitig versuchen die Militärs mit diesem Schritt, die Muslimbruderschaft als größten innenpolitischen Rivalen um die Macht weiter zu marginalisieren und letztlich auszuschalten. Doch mittel- bis langfristig betrachtet, wird dieses Unternehmen scheitern. Eine breite soziale Bewegung und Partei kann nicht per Gerichtsbeschluss beseitigt werden. Das ist ein Trugschluss.
Wenn die Verfolgung und Unterdrückung von Sympathisanten und Anhängern der Muslimbruderschaft weitergeht, dann könnte sich der Vorwurf des Terrorismus aber als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen.
Die Muslimbruderschaft wurde in den 1920er Jahren als antikoloniale, aber auch soziale Befreiungsbewegung gegründet.
Hassan al-Banna, der Gründer der Muslimbrüder, war ein sehr frommer Mensch. Die Verwestlichung des städtischen Bürgertums in Ägypten war für ihn Ausdruck von »Nihilismus und Gottlosigkeit«. Er prangerte »Gier, Fleischeslust und Zinswucher«, die »Tyrannei des Materialismus« an, mit denen der Westen arabische Gesellschaften angesteckt habe. Aber sein Antrieb, 1928 die Muslimbrüder zu gründen, war in der Tat die britische Besatzung in Ägypten. Er war entsetzt über die krasse Ungerechtigkeit und Ungleichheit: Die Briten lebten in luxuriösen Villen und das ägyptische Volk in bitterster Armut und musste sich als Tagelöhner verdingen. »Wir waren so verstört, dass wir den Tränen nah waren«, beschreibt er seine Eindrücke über die Not unter der Kolonialmacht. Hassan al-Banna war dabei, als 1919 die Revolte ausbrach, die drei Jahre später zur formalen Unabhängigkeit Ägyptens führen sollte. Für ihn war nicht nur die militärische Okkupation, sondern auch die geistige ein Übel. Dem versuchte er sein Verständnis vom Islam als ganzheitliches System entgegenzustellen, das alle Bereiche des Lebens regelt und der westlichen Ordnung überlegen sei. Es gab also von Anfang an einen Identitätsdiskurs gegen westliche Vereinnahmung.
Ähnlich der heutigen Abschottung gegenüber westlichen Werten und Normen?
Jein. Mit seinem Scharia-Verständnis vertrat Banna einen liberalen Ansatz, der eine wörtliche Auslegung des Korans ablehnte und vielmehr den Kern des Glaubens – Freiheit und Gleichheit – predigte, um einen Mentalitätswandel für die Erneuerung der Gesellschaft herbeizuführen. Die schnelle Ausbreitung der Muslimbrüder über Ägyptens Grenzen hinaus verdankte sich vor allem ihrer an den Bedürfnissen des Volkes ausgerichteten Aktivitäten, der Einrichtung von Schulen, Krankenhäusern usw. Als Banna 1949 ermordet wurde, zählten die Muslimbrüder bereits eine halbe Million Mitglieder.
Was vereint und unterscheidet, außer dem Gründungsjahr, Muslimbrüder, Hisbollah und Hamas?
Zu den Unterschieden gehört auch deren territoriale Wirksamkeit. Während die Muslimbrüder nicht nur in Ägypten agieren, beschränkte sich bis vor kurzem die Hisbollah auf Libanon und die Hamas, als jüngste der drei Organisationen, auf Gaza und das Westjordanland. Hisbollah und Hamas vertreten einen dezidiert islamischen Ansatz, allerdings relativ liberal, also – im Gegensatz zu den Taliban – ohne Hände abhacken oder das Steinigen von Frauen.
Auslöser für die Geburt der Hisbollah war der Libanonkrieg von 1982.
Und sie war damit – ähnlich den Muslimbrüdern – Reaktion auf eine Besetzung, und zwar Libanons durch israelisches Militär, die bereits zweite Invasion, die das Land innerhalb von vier Jahren erlitt. Vor allem das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila bei Beirut, begangen von mit Israel verbündeten libanesischen Milizen, löste einen Schock und eine Radikalisierung in der schiitischen wie sunnitischen Bevölkerung aus. 1985 trat die Hisbollah ins Leben. In ihrem Gründungsdokument, einem »Offenen Brief an die Unterdrückten der Welt«, signalisierte sie einen universellen Anspruch, als Vorkämpferin für die Armen und Ausgebeuteten weltweit, und dies auch mittels des Dschihads. Ihr militärisches Operationsgebiet blieb auf Libanon beschränkt – bis zu ihrem Eingreifen 2013 in Syrien. Die Hisbollah versteht sich vor allem als Verteidigerin gegen den Imperialismus Israels und der USA.
Gleiches gilt für die Hamas?
Ja, und auch sie entstand aus einer Protestbewegung gegen eine Besatzung. 1987 kam es in Gaza zu Massenprotesten gegen die israelische Okkupation, die rasch auf das Westjordanland übergriffen und in der ersten Intifada mündeten. Hamas ist ein Kind der Intifada. Maßgeblich für die Gründung der Hamas war neben den Zumutungen seitens Israels ebenso, dass »die palästinensische Sache« – wie sie 1993 in einem Schlüsseldokument artikulierte – »auf der Prioritätenliste der arabischen Staaten auf die unterste Stufe gerutscht« sei.
Auch Hamas vertrat eine liberalistische Interpretation des Koran; eine strengere hätte nicht der palästinensischen Gesellschaft Mitte der 1990er Jahre entsprochen. Die palästinensische Gesellschaft war damals eine der liberalsten Gesellschaften der arabischen Welt. Die Frauenerwerbsquote war enorm, der Bildungsstand von Frauen prozentual viel höher als anderswo. Es gab dann aber einen Regress, eine stärkere fundamentalistisch-islamistische Ausrichtung. Das muss man so sagen, obwohl ich dieses Wort nicht gern gebrauche.
Warum scheuen Sie die Bezeichnungen »islamistisch« und »fundamentalistisch«?
Wegen der inflationären, oft pauschalen, fälschlichen Verwendung.
War dieser Regress eine Antwort auf den Triumph des Neoliberalismus?
Durchaus. Das trifft zwar auf Palästina nicht unbedingt zu, weil die ökonomischen Verhältnisse dort auf Grund der israelischen Besatzung natürlich andere sind. Aber auf Ägypten unter Mubarak traf dies voll zu. Mubaraks neoliberale Politik, die Öffnung der ägyptischen Märkte und der totale Ausverkauf des Landes haben Empörung geschürt, im säkularen wie religiösen Lager. Nur eine ganz kleine Schicht der politischen und wirtschaftlichen Elite hat unter Mubarak profitiert, die Mehrheit der Bevölkerung verarmte immer mehr.
Zum Aufstieg der Hamas haben verschiedene Faktoren beigetragen, darunter auch die Schwäche oder vermeintliche Schwäche der PLO. Die Situation hat sich für das palästinensische Volk nach Unterzeichnung des Vertrages von Oslo 1993 nicht verbessert. Der israelische Siedlungsbau wurde massiv ausgeweitet, die Sicherheitslage ist immer noch desas-trös für die Palästinenser. Es sterben tagtäglich Menschen, die Besatzung ist tagtäglich schmerzhaft spürbar. In den Augen der Hamas hat sich die PLO-Führung zu Komplizen Israels gemacht, nationale Rechte aufgegeben, ohne etwas dafür zurückzubekommen. Mit dieser Argumentation stieß die Hamas im palästinensischen Volk auf fruchtbaren Boden.
Wie hält es die Hamas mit dem Existenzrecht Israels?
In der Gründungscharta der Hamas von 1988 stehen Sätze drin, die ihr bis heute um die Ohren gehauen werden, zum Beispiel: »Wir wollen das ganze historische Palästina befreien.« Also auch Israel. Damals waren von der Hamas schlimme antisemitische Töne zu hören. Man wird zwar auch heute in keinem Hamas-Dokument explizit lesen: »Wir anerkennen den Staat Israel.« Ideologische Fesseln und Buhlen um Anhängerschaft verhindern dies. Aber Hamas ist eine sehr pragmatische Organisation, der bewusst ist, dass die totale Ablehnung und Verweigerung des Existenzrechts von Israel nicht mehr haltbar ist. Chaled Maschal, Politbürochef der Hamas, der bis 2011 in Damaskus lebte und jetzt in Katar lebt, kritisierte in einem Interview mit der »New York Times«, dass Hamas der berüchtigte Satz aus der Charta von 1988 immer noch vorgehalten werde, statt auf das zu schauen, was man gegenwärtig tut.
Was unterscheidet die Muslimbrüder von den Salafisten? Die salafistische al-Nur-Partei ging aus den letzten Wahlen in Ägypten als zweitstärkste Partei hervor, befürwortete den Sturz von Mohammed Mursi und ist an der von den Militärs eingesetzten zivilen Übergangsregierung beteiligt.
Die Salafisten unterscheidet von den Muslimbrüdern die wörtliche Auslegung von Koran und Hadith, also der Sammlung von Erlebnissen, Gesprächen und Reden des Propheten Mohammed. Sie wollen zu einem sogenannten ursprünglichen Islam zurückkehren. Die Gesellschaft habe sich den Geboten und Verboten der Scharia zu unterwerfen, so wie sie im Koran fixiert und von den frühen Rechtsgelehrten interpretiert wurde.
Sie erwähnten, dass Hisbollah im Syrienkrieg involviert ist. Bedeutet dieser Krieg einen Rückschlag für die Bildung eines souveränen palästinensischen Staates? Palästinenser in Syrien streiten für Assad.
Zum Teil. Auch dort ist das palästinensische Lager gespalten. In den palästinensischen »Flüchtlingslagern« in Syrien, mittlerweile befestigte Stadtteile, sind die PLO und Hamas sowie linke, säkulare Gruppierungen aktiv. Alle sind bewaffnet und haben ihre eigenen Interessen. Hamas hat sich ziemlich schlau aus der Affäre gezogen, ist nicht auf Konfrontation zu Assad gegangen, hat sich aber nach Katar zurückgezogen und unterstützt im Prinzip den Aufstand gegen ihn. Linke Gruppierungen in der PLO wie die Volksfront zur Befreiung Palästinas, die seit eh und je in Syrien präsent sind, kämpfen für Assad. Und auch die Hisbollah-Milizen unterstützen ihn.
Was für Auswirkungen hat der Syrienkrieg auf Palästina? Damaskus argumentierte stets, dass man sich so lange im Kriegszustand mit Israel sieht, bis die Palästinenserfrage gelöst ist. In Wahrheit hat man die Palästinenser immer nur als Faustpfand benutzt, als Verhandlungsmasse, um Israel zu irgendwelchen Konzessionen zu bewegen. Das hat in der Tat nie wirklich funktioniert, vielleicht noch in den 1970er Jahren, aber später nicht mehr. Die Beteuerungen aus Damaskus, man stünde »unseren palästinensischen Brüdern« bei, verkam zu einer Floskel, war nur noch Propaganda, ähnlich wie in anderen arabischen Staaten.
Ein Ende des Syrienkrieges ist nicht in Sicht, weitere Flüchtlinge werden Europa und Deutschland um Aufnahme bitten.
Das ist anzunehmen. Und es ist zynisch, wie die deutsche Regierung mit der Not der Flüchtlinge umgeht. Syrer mit Bildungshintergrund würde man aufnehmen. Sie gelten als wertvolles Humankapital, aber die anderen nicht. Das ziemt sich nicht für ein angeblich zivilisiertes Land. So kann man nicht mit verzweifelten Menschen aus einem anderen zivilisierten Land umgehen ...
Das zudem auf eine wesentlich ältere Zivilisation stolz sein kann. Syrien erlebte schon im 3. Jahrtausend v. u.Z . eine Hochkultur.
Jordanien, ein ökonomisch schwaches Land, hat bereits knapp 500 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Libanons Bevölkerung ist um 25 Prozent angewachsen. Und im wohlhabenden Deutschland diskutiert man, wie viele Flüchtlinge man »verkrafte«. Ganz anders die Schweden. Sie gewähren allen syrischen Flüchtlingen unbegrenzten Aufenthalt. Vor einem Krieg flüchtenden Menschen zu helfen, ist eine humanitäre Pflicht.
Das ganze Interview online unter dasND.de/mustafa
* Aus: neues deutschland, Samstag, 4. Januar 2014
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