Die Bürde des weißen Mannes
Hintergrund. Die westliche Berichterstattung über die Proteste gegen das antiislamische Hetzvideo "Die Unschuld der Muslime" reproduziert koloniale Stereotype. Neokonservative wollen Zusammenarbeit der USA mit arabischen Reformregierungen torpedieren
Von Knut Mellenthin *
»Muslim Rage«, Muslimwut, betitelte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek seine Ausgabe vom 24. September. Das Coverfoto zeigte in einem extrem kleinen Bildausschnitt eine – vermutlich nicht sehr große – Demonstrantengruppe. Im Vordergrund zwei Männer mit verzerrten Gesichtern. Es ging, das war auf den ersten Blick klar, um die Proteste gegen den von ägyptischen Exilchristen produzierten und von Hardcore-Neokonservativen gesponserten Filmtrailer, in dem der Prophet des Islam, Mohammed, geschmäht und verhöhnt wird.
Nach dem 11. September 2001 war Newsweek mit dem Titel »Why do they hate us?« (»Warum hassen sie uns?«) erschienen. Darunter das Bild eines entschlossen-verbissen dreinblickenden Jungen offensichtlich muslimischer Herkunft, der ein Plastikgewehr in die Höhe hielt. Die Titelgeschichte war von dem aus Indien stammenden Auslandsredakteur des Magazins, Fareed Zakaria, und beschäftigte sich mit dem Thema: »Die Wurzeln der islamischen Wut – und was wir dagegen tun können«. Autorin der aktuellen Titelgeschichte ist Ayaan Hirsi Ali, die somalische Vorzeige-Exmuslimin aller rechten Ausländerfeinde. Und die Headline lautet jetzt: »Wie ich sie« – gemeint ist offenbar die »Muslimwut« – »überlebte und wie wir sie beenden können«.
In Deutschland ist die im Springer-Verlag erscheinende Tageszeitung Die Welt das Zentralorgan all jener, für die eine möglichst flächendeckende Diffamierung der muslimischen Glaubensgemeinschaft die unverzichtbare Ergänzung zur 150prozentigen Vertretung der vermeintlichen Interessen Israels ist. Seit dem Beginn der Proteste gegen das antimuslimische Machwerk am 11. September ergoß sich eine Flut primitiver, weitgehend gleichförmiger Propagandaartikel über die Leser des Blattes.
Am 14. September klagte Alan Posener über die »haarsträubende Undankbarkeit« der islamischen Gesellschaften. »Wer die Freiheit und die Zivilisation bringt, erntet den Haß.« »In der Praxis wird die ausgestreckte Hand des Westens oft genug gebissen«, denn die Muslime sehnten sich nur nach »geistiger Knechtschaft«. Ohne erkennbare Ironie zitierte Posener lange Strecken aus Rudyard Kiplings Gedicht »The White Man’s Burden« (1899) – der selbstgefälligen und wehleidigen Klage des europäischen Kolonialherren über den Unverstand der von ihm unterjochten »Wilden« – »halbe Teufel und halbe Kinder« –, denen er doch seinem eigenen Verständnis nach nur Gutes und Schönes bringen will.
»Furie des Islamismus«
Am 15. September meldete Thomas Schmid das jähe Ende der »Hoffnung, daß das, was als ›arabischer Frühling‹ begonnen hat, allmählich doch zu einem maßvollen Lauf findet«. Bewahrheitet habe sich durch die Proteste gegen das Video die »Furcht, mit dem Lösen der autokratischen Fesseln könne die Furie des Islamismus freien Lauf bekommen«.
Am selben Tag verkündete Richard Herzinger unter der Headline »Der Islamismus strebt nach der Weltherrschaft«, die gewalttätigen Demonstrationen hätten »auf dramatische Weise bewiesen, daß den Deutschen und Europäern alle Distanzierungsversuche von den USA nichts nützen, wenn der islamistische Extremismus seinen mörderischen Haß gegen die ›dekadente‹ und ›gottlose‹ westliche Zivilisation austobt«. »Die größte Gefahr« seien längerfristig gar nicht »die militanten Salafisten und die in ihrem Gefolge agierenden terroristischen Dschihadisten«, sondern »die mächtigen ägyptischen Muslimbrüder«, denen Herzinger eine »besonders virtuose« Doppelstrategie zuschreibt, mit der sie »den Westen per Erpressung am Gängelband führen«.
Am 16. September führte Alfred Hackenberger dann eine scharfe Attacke gegen die Bürgerkriegsaktivitäten internationaler Salafisten in Syrien, die er kurzerhand mit der Phantomorganisation Al-Qaida vermengte. Damit widersprach er zwar dem Mainstream, dem die westliche Unterstützung für die »syrischen Freiheitskämpfer« gar nicht weitgehend und umfangreich genug sein kann. Indessen predigen in den USA die muslimfeindlichen Extremisten unter den Neokonservativen schon seit Beginn des »arabischen Frühlings« vor über anderthalb Jahren, daß der Westen und insbesondere die Regierung von Barack Obama sich auf eine selbstmörderische Kooperation mit Al-Qaida und auf eine kapitulationistische »Beschwichtigungspolitik« gegenüber den ägyptischen Moslembrüdern und ähnlichen Strömungen in anderen Ländern, einschließlich der Türkei, eingelassen hätten. Das verbinden diese Kräfte – stellvertretend genannt seien Robert Spencer und Pamela Geller, Ideengeber des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik – mit aberwitzigen Verschwörungsphantasien über eine angeblich schon weit vorangeschrittene Unterwanderung der US-Administration durch islamische Fundamentalisten.
Zurück zu Springers Welt. Am 17. September warf Altmeister Henryk M. Broder den muslimischen Demonstranten vor, sie würden sich »wie unerzogene Kinder« benehmen, »die sich ihrer Macht bewußt sind. Sie wissen, daß niemand es wagen wird, sich ihnen in den Weg zu stellen.« Er frage sich vor allem: »Was machen diese Männer, wenn sie nicht demonstrieren? Haben sie keine Familien, die sie ernähren müssen? Keine Arbeit? Beziehen sie ein Gehalt von einer der vielen NGOs, die sich in der ›dritten Welt‹ um die Armen und Ausgebeuteten kümmern?« Broders Rezept gegen den »Infantilismus der Demonstranten« ist das seit Jahren von ihm bekannte: Die »vielen aufgeregten Moslems« brauchen vom Westen kein Verständnis, sondern eine ganz harte Hand.
Am 20. September kam Broder erneut zu Wort. Jetzt jammerte er, »das ach so aufgeklärte Abendland« lasse sich »von Fanatikern versklaven«. Die westliche Zivilisation sei dabei, »an einer selbstverschuldeten Abhängigkeit von Fanatikern zugrunde zu gehen, denen die ›aufgeklärten‹ Abendländer umso bereitwilliger entgegenkommen, je brutaler und rücksichtsloser sich diese aufführen«. Das ist, nebenbei bemerkt, exakt die Wahnvorstellung, die Breivik dazu trieb, ein Blutbad unter den vermeintlichen Vertretern dieser »Kapitulation« anzurichten.
Am 21. September war die Reihe wieder an Herzinger. Unter der Headline »Der Westen darf sich nicht länger erpressen lassen« polemisierte er gegen die »Beschwichtigungsversuche« der US-Regierung, die von den »islamischen Einpeitschern« nur als »demütiges Schuldeingeständnis« und »neuerliches Indiz für die klägliche Schwäche des Westens aufgefaßt« würden. Gemeint waren damit alle Distanzierungen von dem Schmähfilmchen. Herzingers Fazit: »Der gesamte Westen knickt ein.«
Alles »schnurzpiepegal«?
Nachdem Springers Welt fast zwei Wochen lang die Muslime als ständig beleidigtes, jähzorniges und gewalttätiges Kollektiv dämonisiert hatte, wartete einer ihrer Hauptkommentatoren, Hannes Stein, am 24. September überraschend mit einer völlig anderen Sicht der Dinge auf. »Dem Islam ist das Mohammed-Video komplett egal«, signalisierte der Autor Sensationelles schon in der Überschrift. »Den meisten Muslimen auf der Welt geht jenes Youtube-Video am Allerwertesten vorbei, sie fühlen sich dadurch nicht gekränkt, es ist ihnen völlig schnurzpiepegal«, behauptet der 47jährige Bayer, der nach eigenen Angaben seit einigen Jahren in New York lebt und häufig auf Henryk Broders Website »Achse des Guten« anzutreffen ist.
Was will der engagierte Israel-Freund mit dieser These, die der Linie des Hauses total widerspricht, beweisen? Muslimische Empörung über das Filmchen sei, wie übrigens auch die gesamte Occupy-Bewegung, nur ein »Mediengeschöpf« seiner »Kollegenzunft«, der westlichen Journalisten, schreibt Stein. Schlußfolgerung: Man möge doch bitte bei der Beleidigung der Religion des Islam keinerlei Rücksicht nehmen. Das Problem seien gar nicht die Muslime – denen ihr Glaube sowieso gleichgültig sei –, sondern »daß westliche Politiker sich von ihrer eigenen Hysterie verführen lassen, zentrale Freiheitsrechte auszuhebeln«.
Um seine These zu begründen, erwähnt Stein eine Zusammenstellung der US-Amerikanerin Megan Reif, die als Politikwissenschaftlerin an der University of Colorado arbeitet. Sie hat versucht, alle Demonstrationen gegen den »Mohammed-Film« zusammenzutragen und ist, wenn man ihre Angaben zusammenrechnet, auf eine Teilnehmerzahl von weniger als 40000 gekommen. Darunter gerade mal 5000 im Iran, was dem Kommentar ein Triumphgeheul entlockt: »Ein klerikalfaschistisches Regime, das früher nur durch die Finger pfeifen mußte, damit Zehntausende in der Gegend herumliefen und ›Marg bar Amrika‹ (Tod Amerika!) skandierten, schafft es heute nicht, mehr als 5000 bestellte Demonstranten zu animieren.«
Stein macht es anscheinend Freude, seine Leser für dumm zu verkaufen. Erstens geben die Demonstrantenzahlen nicht einmal ansatzweise Auskunft, wie das beleidigende Filmchen auf die Masse der Muslime gewirkt hat. Daß 99,99 Prozent von ihnen aus diesen oder jenen Gründen nicht auf die Straße gingen, heißt selbstverständlich nicht, daß ihnen die Schmähung ihres Glaubens, wie sagte Herr Stein doch noch so schön, »schnurzpiepegal« ist.
Zweitens trägt Reifs Zusammenstellung das Datum 16. September. Das war am Sonntag vor einer Woche, acht Tage vor dem Erscheinens von Steins Artikel. Einen Tag später demonstrierten in Beirut rund 100000 Menschen unter den Fahnen der schiitischen Hisbollah. Es folgten Tag für Tag Kundgebungen in anderen Teilen Libanons, keine mit weniger als 10000 Teilnehmern. Ebenfalls in der vergangenen Woche fanden in Teheran und anderen iranischen Städten zum Teil riesige Protestmärsche statt. Pakistan taucht in der Liste von Megan Reif gar nicht auf, war aber in der Woche nach dem 16. September und besonders am vorigen Freitag Schauplatz von bedeutenden Demonstrationen in den größten Städten des Landes sowie in den Provinzhauptstädten von Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa, Quetta und von Peschawar.
Drittens ist die Analyse der Politikwissenschaftlerin ein deutlicher Appell gegen die Dämonisierung der muslimischen Glaubensgemeinschaft durch die Mainstreammedien. »Die sensationalistische, naive und übertriebene öffentliche Antwort auf die Proteste gegen den antiislamischen Film tut schon viel, um uns die prodemokratischen Reformer der arabischen Revolutionen zu entfremden, die wir angeblich unterstützen«, schreibt Reif, die damit vermutlich die Meinung des liberalen Teils der Demokratischen Partei der USA widerspiegelt. Indessen hat die Autorin zwar recht mit ihrer Aussage, daß an den Straßenprotesten nur ein sehr geringer Teil der muslimischen Weltbevölkerung beteiligt war, aber ihre mittlerweile veraltete Momentaufnahme gibt doch ein nicht ganz richtiges Bild von der Größenordnung.
Unterschiede ausgeblendet
Sarah Kendzior, Anthropologin an der Washington University in St. Louis, hat am 16. September auf der Website von Al-Dschasira angesichts der Flut von Verallgemeinerungen und Stereotypen in den westlichen Mainstreammedien gefordert, auf den Begriff der »muslimischen Welt« ganz zu verzichten. Die Bezeichnung suggeriere Kollektivität und Uniformität, wo in Wirklichkeit von Land zu Land und ebenso auch innerhalb der einzelnen Staaten wesentliche Unterschiede bestünden. Zur Veranschaulichung zitierte Kendzior Schlagzeilen und Redewendungen wie »Warum ist die muslimische Welt so leicht beleidigt?« (Washington Post, 14.9.) und »Schmerzvolle Beziehung zwischen den USA und der muslimischen Welt« (New York Times, 12.9.) Beim Googeln des Begriffs »Muslim world« gebe es über 87 Millionen Treffer, hingegen nur 5,8 Millionen Ergebnisse für »Christian world«. »Die Tendenz, die ›muslimische Welt‹ als generelles Problem zu sehen, bedeutet, daß spezifische Probleme innerhalb muslimischer Länder übersehen werden.« Auch der von westlichen Propagandisten erfundene Begriff »arabischer Frühling« diene dazu, stark unterschiedliche Sachverhalte, Hintergründe und Entwicklungen in unzulässiger Weise zu vermengen und Verbindungen zu konstruieren, die in Wirklichkeit nicht bestehen.
Im Sinne von Kendziors Kritik muß man ebenfalls konstatieren, daß bei den einzelnen Protesten, die mehr oder weniger durch das Schmähvideo ausgelöst wurden, verschiedene und teilweise auch widersprüchliche Motive und Interessen mitspielten. Ebenso war der Verlauf der Demonstrationen und Kundgebungen unterschiedlich. Letztlich verlief nur ein geringer Teil von ihnen gewalttätig, während in den Mainstreammedien genau dieser Aspekt ganz schematisch und verallgemeinernd in den Vordergrund gestellt wurde. Abgesehen von der bewaffneten Aktion gegen das US-Konsulat im libyschen Benghasi, deren Hintergründe weiter im dunkeln liegen, waren die Todesopfer – insgesamt mehr als 60 – fast ausschließlich durch Schüsse der Sicherheitskräfte verursacht. Typisch sind dennoch Überschriften wie »Wütende Proteste fordern mehrere Menschenleben« (Spiegel online, 14.9.2012).
Im Vergleich mit ähnlichen früheren Protestwellen – zuletzt im Jahr 2006 anläßlich der zuerst in Dänemark veröffentlichten, dann von anderen westlichen Medien bewußt provozierend nachgedruckten »Mohammed-Karikaturen« – stellen die Demonstrationen der letzten zwei Wochen weder in Quantität noch in Qualität etwas wesentlich Neues dar. Für sich selbst genommen haben das Schmähvideo und die sich daran anschließenden Aktionen das Verhältnis zum Westen nicht verschlechtert, sondern nur wieder einmal die bestehenden Widersprüche und Bruchlinien deutlich gemacht.
Kampagne der Neocons
Abgesehen von der leider normalen Reaktionsweise westlicher Medien, die nicht nur muslimische Demonstranten ganz schnell zu »gewalttätigen Randalierern« umschreiben, ist hauptsächlich in den USA eine Kampagne der Neokonservativen und der Republikanischen Partei zu beobachten, die aufgrund der Proteste eine strategische Zäsur fordern: Statt pragmatischer Zusammenarbeit mit gemäßigt islamistischen Parteien und Politikern, wie etwa in Ägypten, in Tunesien und schon länger in der Türkei, müsse auf Konfrontation umgeschaltet werden. Dabei kommt es zu perversen Konstellationen, wenn etwa der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney einerseits fordert, Ägypten »den Geldhahn zuzudrehen«, weil Präsident Mohammed Mursi sich nicht schnell genug von den gewalttätigen Protesten distanziert habe, aber andererseits von Obama verlangt, die Versorgung der salafistischen Rebellen in Syrien mit Waffen zu »erleichtern«.
Diese Kampagne hat zum einen eine völlig verlogene, populistische Seite, die sich aus dem Wahlkampf in den USA ergibt. Amtsinhaber Obama soll, wie schon seit Jahren praktiziert, als jemand dargestellt werden, der »zu weich« gegenüber dem internationalen Islamismus operiert und vielleicht sogar selbst mit diesem sympathisiert. Als »Beschwichtigungspolitik« wird kritisiert, daß Obama und seine Außenministerin Hillary Clinton sich von dem Schmähvideo distanziert haben. Aber auch der militärische Abzug aus dem Irak – der in Wirklichkeit schon von Obamas Vorgänger George W. Bush besiegelt wurde – und aus Afghanistan seien Schwächesignale, die muslimische Extremisten zu Angriffen auf diplomatische Vertretungen der USA ermutigt hätten.
Indessen ist, zumindest nach allen bisherigen Anzeichen, nicht davon auszugehen, daß die Republikaner im Nahen und Mittleren Osten wirklich ganz neue Wege einschlagen würden, falls sie die am 6. November anstehenden Wahlen – die nicht nur über den Mann im Weißen Haus, sondern auch über die Zusammensetzung des Kongresses entscheiden – gewännen. Insbesondere gibt es zur pragmatischen Kooperation mit den regierenden Islamisten in Ägypten, Tunesien und der Türkei ebenso wie mit den herrschenden politischen und militärischen Kräften Pakistans keine vernünftige Alternative.