Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Das religiöse Empfinden von Millionen im Kern getroffen"

In Ägypten schlachten die »heiligen Krieger« die Empörung über den "Schmähfilm" für ihre Ziele aus. Ein Gespräch mit Nabil Abd El Fattah *



Die islamische Welt wird von militanten Protesten gegen den blasphemischen US-Streifen über den Propheten Mohammed erschüttert. Manche politische Beobachter vermuten, daß hinter den Unruhen die »heiligen Krieger« stehen – ihr Ziel sei es, nach dem »arabischen Frühling« wieder die Initiative zu ergreifen. Teilen Sie diese Ansicht?

Diese Gefahr besteht sicherlich. Die Dschihadisten versuchen, auf der Welle der sozialen Unzufriedenheit zu surfen und die Unzufriedenheit der Menschen für ihre eigenen politischen Ziele nutzbar zu machen.

Und welche sind das?

Es geht um den »heiligen Krieg« gegen den Westen, dafür ist dieser obszöne Film ein wirkungsvoller Anlaß zur Propaganda. Hinter der Wut der Menschen über diesen Film steht allerdings die Unzufriedenheit mit den neuen arabischen Machthabern. Sie haben die Erwartungen nicht erfüllt, die die Volksaufstände während des »arabischen Frühlings« geweckt haben.

Worüber sind die Menschen denn so enttäuscht?

Ich denke dabei in erster Linie an das Thema der sozialen Gerechtigkeit, das im Zentrum aller Aufstände war. Das gilt insbesondere für die tunesische Revolution, aber auch für die in Ägypten. Leider hat sich das Leben der Bevölkerung nicht verbessert, die Jugendlichen blicken immer noch mit mehr Unsicherheit als Hoffnung in die Zukunft.

Nehmen wir Tunesien: Nicht nur die Jugend ist enttäuscht, auch die unteren Bevölkerungsschichten sind es: Anderthalb Jahre nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes hat sich für sie noch nichts verbessert.

Was spielt neben dem Mangel an Arbeitsplätzen noch eine Rolle?

Eine grundlegende Beschränkung, die die Übergangsphase charakterisiert. Ich rede von der Vorstellung, daß Demokratie nur in Form von Wahlen stattfindet, ohne daß die Definition eines Systems allgemein anerkannter Regeln vorangegangen ist. Nötig wäre eine verfassungsrechtliche Leitlinie, die die Machtbefugnisse des Parlaments, des Staatspräsidenten, der Justiz und so weiter festlegt. Sie muß vor den Wahlen vereinbart werden und muß Klarheit über Rechte und Aufgabenverteilung schaffen.

Haben die ägyptischen Dschihadisten bei den gegenwärtigen Unruhen nur die USA und den Westen im Visier oder noch mehr?

Sie zielen auf den politischen Islam, der den demokratischen Weg gewählt hat – also auf die politische Strömung, die sich nach türkischem Vorbild »institutionalisiert« hat. Zu der würde ich auch Präsident Mohammed Mursi zählen.

Die Dschihadisten wollen aber auch jene Strömung des Islam treffen, die Tradition und Modernität zu verbinden sucht und den von Neokonservativen und Rechtspopulisten propagierten »Kampf der Kulturen« ablehnt. Diese säkularisierte Strömung ist zwar für den Dialog offen, aber nicht bereit, das »westliche Modell« eins zu eins zu übernehmen.

Nicht wenige im Westen halten den Volkszorn über den Mohammed-Film für eine übertriebene Reaktion und plädieren dafür, das Machwerk schlicht zu ignorieren. Was halten Sie davon?

Ich verurteile die gewalttätigen Demonstrationen, bin aber weiterhin davon überzeugt, daß es in einem weltlichen Staat gegenseitigen Respekt geben muß. Dieser Film ist keine Satire über islamische Sitten, Gebräuche und Traditionen, es wurden keine Verhaltensweisen oder das Selbstverständnis von Imamen angeprangert. Nein – das religiöse Empfinden von Millionen Menschen wurde im Kern getroffen!

Als arabischer und islamischer Intellektueller, der an den Dialog glaubt, finde ich es wichtig, den Westen aufzufordern, sich darüber klarzuwerden, wo die Grenze ist. Die Meinungsfreiheit ist unantastbar, aber sie darf nicht die Empfindungen ganzer Bevölkerungen verletzen.

Welchen Fehler sollte insbesondere Europa in dieser heiklen Phase unter keinen Umständen begehen?

Der größte Fehler wäre, die Ereignisse dieser Tage als Scheitern der »arabischen Frühlinge« zu interpretieren. Das ist nicht der Fall! Es war nie so notwendig wie heute, die Koopera¬tion zwischen beiden Seiten des Mittelmeeres wiederzubeleben. Der Dialog ist das, was die Dschihadisten am meisten fürchten.

Interview: Raoul Rigault

* Der Jurist Nabil Abd El Fattah lebt in Kairo und leitet die Abteilung für Soziologie und Rechtswissenschaften am Al-Ahram- Center for Political and Strategic Studies (ACPSS)

Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. September 2012


Zur Islam-Seite

Zur Ägypten-Seite

Zurück zur Homepage