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Kein Samstag im November

Auch für Berliner Muslime ist das Schmähvideo eine Provokation. Gewalt hält aber niemand für eine Antwort

Von Nissrine Messaoudi und Andreas Jacob *

Nachdem das Schmähvideo, das den Propheten Mohammed verunglimpft, in mehreren islamischen Ländern zu Gewaltausbrüchen führte, will die Bundesregierung die öffentliche Ausstrahlung in Deutschland verhindern. Viele Berliner Muslime begrüßen die Haltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Für sie ist das Video »hetzerisch« und »verletzend«.

»Mit religiösen Gefühlen muss man vorsichtig umgehen«, mahnt Kazim Erdogan. Der Psychologe hat etliche Integrationsprojekte in der Hauptstadt auf den Weg gebracht. Darunter die türkisch-arabische Vätergruppe im Bezirk Neukölln. Erdogan wird die Debatte um das Mohammed-Schmähvideo in seiner Männergruppe aufgreifen. Als Muslim kann er zwar die Verärgerung über den Hohn verstehen, Gewalt könne jedoch keine Antwort sein. Die Ausstrahlung des Videos mit einem Verbot zu belegen, sieht Erdogan skeptisch. »Auch wenn es uns weh tut, die Meinungsfreiheit in einem demokratischen Land sollte man hochhalten.« Nachdem Kundgebungen von Pro Deutschland vor Moscheen Ende August auf friedlichen Widerstand gestoßen sind, wollen die Rechtspopulisten nun die Berliner Muslime erneut provozieren. Pro Deutschland kündigte gestern an, das Anti-Islam-Video mit dem Titel »Die Unschuld der Muslime« in einem Berliner Kino zeigen zu wollen. Im November plant die Pro-Bewegung das Video außerdem vor Moscheen auszustrahlen. Muslime in Berlin reagierten bislang gelassen, begrüßen allerdings die Rufe nach einem Verbot der Aufführung.

So auch Frau Yeter aus Neukölln. Die 48-Jährige ist sonnengebräunt, trägt eine Bluse mit Leopardenmuster und ein Tattoo auf der rechten Schulter. »Ich bin eine moderne Muslimin«, sagt si. Der Film »Die Unschuld der Muslime« lässt sie trotzdem nicht kalt. »Ich habe das Video nicht selbst gesehen. Aber in meiner Familie wird sehr emotional darüber diskutiert.« Die Idee, den Film in Berlin öffentlich vorzuführen, lehnt sie ab. Wenngleich ihr Meinungsfreiheit wichtig sei, müsse man die Gefühle religiöser Menschen akzeptieren. Dafür, betont die Aushilfe eines Dönerladens, würde sie auch demonstrieren gehen.

Dass in Berlin trotz Provokation mit kühlem Kopf demonstriert werden kann, haben Muslime und linke Gruppen Ende August bei den Protesten gegen Pro Deutschland gezeigt. Die Situation in Berlin sei eben eine ganz andere als in Afghanistan oder Libyen, sagt Kazim Erdogan. »Diese Länder sind kriegsgebeutelt, haben mit Armut zu kämpfen oder befinden sich im Umbruch. Da kann es viel leichter zu unüberlegten Handlungen kommen«, erklärt der Psychologe. Er hoffe, dass Muslime in Berlin auch diesmal besonnen auf die Provokation reagieren werden.

Für Toleranz und Besonnenheit spricht sich auch die Neuköllner Sehitlik-Moschee aus. Am vergangenen Freitag zitierte der Imam in seiner Predikt Verse aus dem Koran, die die »Meinungs- und Glaubensfreiheit aller Menschen« betonen. Die Verletzungen der muslimischen Community durch das Video seien wichtiger als die Meinungsfreiheit einiger Rechten, meint allerdings ein Gemeindemitglied.

Das sieht Cansu ähnlich. Die 20-jährige Auszubildende hat einige Bilder aus dem Video gesehen. Ihre Familie kommt ursprünglich aus der Türkei. Zuhause habe über den Film bisher niemand gesprochen, erzählt Cansu. Trotzdem hat sie eine klare Meinung: »Filme, die sich über Religionen lustig machen, dürfen nicht gezeigt werden.«

Auch der Vorsitzende der Initiative Berliner Muslime (IMBUS) sieht »die Grenze überschritten«. Der Film sei nichts weiter als eine Beleidigung, der man keinen Raum lassen dürfe, sagt Abdul Razzaque. »Wir wollen den Frieden in Deutschland beibehalten.« Ob ein qualitativ schlecht gedrehtes Video tatsächlich den Frieden in Deutschland zu stören im Stande ist, bleibt nach Meinung des IMBUS-Vorsitzenden abzuwarten. Zwar reagiere die Mehrheit der Muslime in Deutschland besonnen, dennoch würden im Falle einer Ausstrahlung des Streifens »Extremisten auf den Plan gerufen - sowohl bei den Rechten wie unter den Muslimen«, befürchtet Nurhan Soykan, Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime in Deutschland.

Hans Wiedemann ist zwar kein Muslim, teilt jedoch deren Empörung. Der 56-Jährige betreibt in der Sonnenallee im Berliner Bezirk Neukölln ein Umzugsgeschäft. Seine Kunden sind fast ausschließlich Araber. Das Mohammed-Video sei bislang aber nie ein Thema gewesen, erzählt er. »Man muss nicht den Film verbieten, man sollte lieber Pro Deutschland verbieten«, schimpft der 56-Jährige. Der Film sei weder Kunst noch Meinungsfreiheit. »Das sind alles Beleidigungen und Beschimpfungen. Für mich ist das kriminell.« Der Umzugsprofi plädiert stattdessen für gegenseitigen Respekt: »Wenn sich alle respektieren würden, bräuchten wir keine Staatsanwaltschaft und keine Polizei.«

Ob Pro Deutschland im November vor Moscheen provozieren wird, ist nicht klar. Bisher ist noch keine Anmeldung bei der Polizei eingegangen, bestätigte gestern deren Sprecher Michael Merkle. Die Polizei habe die Situation im Blick. Grund zur Sorge gebe es bislang nicht.

Auch die geplante Kinoausstrahlung steht auf wackligen Beinen. Die Berliner Integrationssenatorin Dilek Kolat hat inzwischen alle Kinobetreiber aufgefordert, den Schmähfilm zu boykottieren. »Die demokratische Kultur in unserer Stadt braucht den gegenseitigen Respekt«, sagt die Sozialdemokratin. Falls der Film »getarnt« angemeldet würde, gebe es Möglichkeiten zu intervenieren. Schließlich sei der Film »eine Provokation, der alle Berlinerinnen und Berliner eine friedliche aber deutliche Absage erteilen sollten.« »In Berlin wird es schwer, einen Kinosaal dafür zu bekommen«, räumt der Parteivorsitzende von Pro Deutschland, Manfred Rouhs ein. Dennoch werde der Film an einem Samstag im November gezeigt, heißt es bei den Rechtspopulisten. Zur Not in einer Lagerhalle.

Pro - was denn?

»Wir kämpfen dafür, dass es in der Bundesrepublik Deutschland niemals zu sudanesischen Verhältnissen kommt«, sagt Rechtsanwalt Markus Beisicht und beklagt sich wegen der »aktuellen medialen Hetzkampagne« gegen die von ihm geführten »Bürgerrechtsbewegungen« Pro Köln und Pro NRW.

Pro Köln - gegründet 1996 - hat ihren Ursprung in der Deutschen Liga für Volk und Heimat. Inzwischen gibt es rund ein Dutzend Gliederungen unter dem Dach der 2010 gebildeten Pro-Bewegungen. Die Verbände bewegen sich an der schwammigen Schnittstelle zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Verstärkt versucht man junge Leute anzusprechen. Insbesondere werden völkische Ängste vor Muslimen und Multikulti als angeblich zerstörerischer Kraft geschürt. Während Pro NRW bestreitet, jemals geplant zu haben, das umstrittene Anti-Islam-Video zu zeigen, hat Pro Deutschland den Trailer auf seiner Website. Hei



* Aus: neues deutschland, Dienstag, 18. September 2012


Diese Beleidigung wird kollektiv erlitten

Der Berliner Koranforscher Michael Marx über sozio-kulturelle Hintergründe der Proteste gegen das Mohammed-Video **


nd: Können Sie den breiten Protest in der muslimischen Welt gegen das Mohammed-Video verstehen?

Marx: Aber natürlich. Das Video ist beleidigend. Es ist eine Provokation, ähnlich der Koran-Verbrennungen von evangelikalen Christen. Und diejenigen in den muslimischen Ländern, die jetzt so empört reagieren, haben natürlich keine Ahnung vom First Amendment, dem ersten Zusatzartikel der Verfassung der USA, der dem Kongress verbietet, Gesetze zu verabschieden, die die Meinungs-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit beschneiden, der also auch bei Holocaust-Leugnung oder Kinderpornografie ein staatliches Eingreifen untersagt.

Bei den Machern des Videos soll es sich um koptische Christen ägyptischen Ursprungs handeln. Könnten nicht auch andere, an einem »War of Cultures« interessierte Kreise, Geheimdienste oder Extremisten dahinter stecken?

Die Provokation kommt meines Erachtens nicht aus politischen Kreisen, sondern religiös-fundamentalisch-christlichen.

Warum aber diese Breite des Protestes - vom Maghreb bis nach Südostasien?

Das wäre der zweite Grund, den ich ansprechen wollte. Wir haben es mit einer solidarischen Protestbewegungen zu tun, die sozio-kulturelle Wurzeln hat. In unserer westlichen Gesellschaft funktioniert Beleidigung nicht mehr kollektiv. Wenn ich das »neue deutschland« beleidige, würden Sie wohl noch cool bleiben, zumindest solange ich Sie nicht namentlich nenne. Es fühlt sich auch nicht jeder Katholik persönlich angegriffen, wenn das Satiremagazin »Titanic« den Papst aufs Korn nimmt. In islamischen Gesellschaft aber wird die Beleidigung kollektiv erlebt und erlitten.

Und warum ist das so?

Weil dort das Leben des Individuums stärker kollektiv verankert und auch vom Kollektiv abhängig ist. Wir westlichen Menschen haben die Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung. In unserem Leben sind wir viel weniger auf die Familie angewiesen als die Menschen in Ägypten, Libyen, Tunesien, Sudan, Somalia, Afghanistan oder Indonesien, wo es solche sozialstaatliche Sicherungen nicht gibt. Das Individuum dort benötigt in Krisenzeiten, ob bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter, die Unterstützung der Familie zum Überleben. Das verbindet. Und da unterscheiden sich auch die Schiiten nicht von den Sunniten.

Warum darf es kein Bild von Mohammed geben?

Es gibt im Koran kein explizites Bilderverbot, allerdings Anbetungsverbote von Bildern und Statuen. Der Islam hat keine ikonographische Tradition wie das Christentum. Ein Bild des Propheten ist in keiner islamischen Quelle überliefert. Aber es gab und gibt Bilder von ihm zusammen mit biblischen Gestalten in bebilderten Handschriften und in der Kunst auch der muslimischen Welt. Fürchten Sie eine Ausweitung der Proteste auch in Deutschland? Ja, wenn es Fundamentalisten gelingt, die Empörung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, die nicht im Interesse der Mehrheit der gläubigen Muslime oder Christen sind. Etwa durch Pro Deutschland und Salafistische Gruppen, die quasi Spiegelbilder sind, sich ähnlich medial inszenieren.

** Der Orientalist und Islamwissenschaftler Michael Marx, geboren 1971 in Trier, leitet seit 2007 die Arbeitsstelle »Corpus Coranicum« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Mit ihm sprach Karlen Vesper.

Aus: neues deutschland, Dienstag, 18. September 2012


Wem nützt es?

Protestwelle in islamischen Ländern

Von Werner Pirker ***


Ein islamfeindlicher Schmähfilm hat die von den Herstellern beabsichtigten Wutanfälle in der islamischen Welt ausgelöst. So primitiv und amateurhaft das »Kunstwerk«, so gelungen erscheint die politische Inszenierung, Muslime – wie gehabt – als religiöse Fanatiker vorzuführen und sie so selbst den Beweis ihrer kulturellen Unterlegenheit erbringen zu lassen. Dennoch stellt sich die Frage, wer ein Interesse daran haben kann, ausgerechnet in der gegenwärtigen Situation, den »Kampf der Kulturen« aufs neue anzuheizen. Den Kampf der Kulturen, von dem sich der Westen angesichts der Veränderungen in der arabischen Welt bereits verabschiedet zu haben schien.

Nachdem der Sturz der proimperialistischen Diktatoren in Tunesien und Ägypten noch für gewisse Irritationen gesorgt hat, ist es den USA und ihren Verbündeten gelungen, die Kontrolle über die Region zurückzugewinnen – indem sie in Libyen und Syrien als Förderer und nicht als Liquidatoren des Aufruhrs auftraten und so die arabische Revolution ihres antiimperialistischen Wesensgehalts enteigneten. Dieses Kunststück konnte der Wertegemeinschaft nur im Bündnis mit dem gerade noch als größte Menschheitsbedrohung dämonisierten politischen Islam gelingen. Während den Moslembrüdern in Tunesien und Ägypten die Aufgabe zugedacht ist, den Aufruhr innerhalb des bestehenden Ordnungsrahmens zu kanalisieren, wurden in Libyen und Syrien radikale Islamisten als Stoßtruppen für einen Regimewechsel in Stellung gebracht.

Die nun den »Zusammenstoß der Zivilisationen« erneut inszeniert haben, sind offenkundig keine Freunde der neuen amerikanisch-islamistischen Freundschaft. Die Hintermänner des Films können in Teilen des amerikanischen, in Opposition zur Obama-Administration stehenden Establishments vermutet werden, wobei vor allem die US-»Neocons« zu nennen wären. Zumal diese mit den Rechtszionisten ein Herz und eine Seele sind. Israel, das seine Kriegspolitik nur in Symbiose mit dem US-Imperialismus durchzustehen vermag, dürfte über die neue Nahost-Konstellation, wie sie sich aus dem Bündnis zwischen den NATO-Staaten und der arabisch-sunnitischen Reaktion ergibt, kaum glücklich sein. Denn eine solche Allianz schmälert erheblich den strategischen Wert des zionistischen Staates für die US-Hegemonialpolitik.

Der Skandalfilm könnte aber auch das Gegenteil seiner angestrebten Wirkung erzielen. Er könnte die antiamerikanische Wende des »arabischen Frühlings« bewirkt haben. Nicht von ungefähr hat auch die konsequent antiimperialistische und keineswegs dem religiösen Wahn verfallene libanesische Hisbollah zu Demonstrationen gegen das Machwerk aufgerufen. Dabei geht es nicht so sehr um die Wiederherstellung der Ehre des Propheten als um den Protest gegen die westliche Kriegspolitik. Die seltsame Absenz des Antiimperialismus auf der arabischen Aufstandsagenda könnte damit ein Ende haben.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 18. September 2012 (Kommentar)


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