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Kein Handbuch des Terrors

Die Orientwissenschaftlerin Angelika Neuwirth erforscht den Koran als "Text der Spätantike"


Angelika Neuwirth, studierte 1963 persische Sprache und Literatur an der Universität Teheran, dann von 1964–1967 Orientwissenschaften (Semitistik und Arabistik) und Klassische Philologie in Göttingen. Von 1967–1970 studierte sie an der Hebräischen Universität Jerusalem Arabistik und Islamwissenschaft. 1972 wurde sie an der Universität Göttingen zum Dr. phil. promoviert. 1977 habilitierte sie sich an der Universität München in Arabistik und Islamwissenschaft. Nach ihrer Habilitation lehrte Neuwirth sechs Jahre lang Arabische Philosophie an der Universität von Jordanien in Amman. Von 1981–1983 leitete sie eine Sektion an der Royal Academy for Islamic Civilization, Amman. Nach einigen Lehrstuhlvertretungen und Gastprofessuren übernahm sie 1991 den Lehrstuhl für Arabistik an der Freien Universität Berlin. Von 1994–1999 war sie Direktorin des Orient-Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut und Istanbul. 1999 kehrte sie zu ihrem Lehrstuhl in Berlin zurück.
(Angaben nach Wikipedia.)
Sie ist Universitätsprofessorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Arabistik an der Freien Universität Berlin.

Frau Professor Neuwirth, unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verzeichneten die Buchhandlungen in Deutschland eine rege Nachfrage nach dem Koran. Offenbar glaubten damals viele Menschen, darin Aufschluss über die Motive dieser Anschläge und das von ihnen im Islam vermutete Gewaltpotenzial zu finden. Wie ist diese negative westliche Wahrnehmung des Korans zu erklären?

Sie hat mit der verbreiteten, aber ganz irrigen Annahme zu tun, dass Religionsurkunden Register von Verhaltensregeln für den Alltag darstellen. Der Koran ist aber kein Text, aus dem praktische Vorschriften zu entnehmen sind. Solche Vorschriften müsste man eher in der Rechtsliteratur suchen. Insofern ist der Versuch, den Koran für politische Handlungen verantwortlich zu machen, sinnlos. Man mag einwenden, dass sich bestimmte Akteure für ihr Handeln selbst auf den Koran berufen; sie berufen sich dabei jedoch weniger auf den tieferen Sinn des Textes als auf bestimmte Verse, die man, wenn man sie aus dem Kontext reißt, zur Legitimierung von Gewalt heranziehen könnte. Aber was bringt das? Es wäre ebenso sinnlos, wollte man beliebige biblische Texte, von ihrem historischen Umfeld isoliert, zur Richtschnur für politisches Handeln machen – etwa das Buch Josua der Neuordnung von politischen Strukturen in einem Land wie Afghanistan zugrundelegen.

Wo Sehen Sie die Ursachen für die in Teilen der Öffentlichkeit – und auch auf Seiten der Politik – verbreiteten Missverständnisse und Fehlinterpretationen des Korans?

Das Problem ist nicht auf den Koran beschränkt. Man kennt die gesamte Wissenskultur des Islams nicht. Zwar ist allgemein bekannt, dass es im Mittelalter eine blühende islamische Kultur in Spanien gab, und Gebildete wissen auch, dass aus dem arabischen Raum entscheidende neue Ideen gerade auf dem Gebiet der Philosophie in den Westen kamen. Aber die islamische Wissenskultur und ihre Besonderheiten, durch die sie sich von unserer westlichen unterscheidet, sind so gut wie unbekannt. Was wir brauchen, ist eine größere Zahl gebildeter Vertreter der islamischen Kultur in unserer Mitte, die – auf Augenhöhe mit ihren westlichen Kollegen – an unseren Universitäten und überhaupt in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen könnte.

Mit Ihrem Buch »Der Koran als Text der Spätantike« unternehmen Sie den Versuch, über den Abgrund zwischen der wissenschaftlichen Koranforschung und der öffentlichen Wahrnehmung des Korans hinweg eine neue Sicht zu etablieren. Was kennzeichnet diese Sicht?

Ziel unserer Untersuchung ist, den Koran endlich in unsere europäische Bibliothek kanonischer Texte hereinzuholen, ihn als Teil unserer Theologie- und Geistesgeschichte erkennbar zu machen. In Europa haben wir den Koran lange Zeit verkannt. Wir sollten versuchen, ihn nun als das zu lesen, was er ursprünglich ist, nämlich eine Stimme in dem Debattenkonzert der Spätantike, in dem die Kirchenväter der christlichen Tradition, die Rabbinen der jüdischen Tradition, aber auch pagane Philosophen zu zentralen gemeinsamen Fragen Stellung nahmen. Der Koran sollte nicht als ein »Buch« verstanden werden, das sich der planmäßigen Arbeit eines Autors verdankt, sondern eher als die »Mitschrift« einer mündlichen Verkündigung. Wenn wir ihn so lesen, erkennen wir leicht, dass die Rede von der exklusiv jüdisch-christlichen Tradition Europas unhaltbar ist. Ein ganz unhaltbares Gegenargument ist seine vermeintlich »fremde« geografische Herkunft und seine Entstehungszeit. Denn die Grundschriften des Judentums und Christentums entstanden nicht anders als der Koran »im Orient«; der babylonische Talmud etwa, eine Zusammenfassung jüdischer Gelehrsamkeit, entstand in Mesopotamien – dem späteren Irak – ungefähr zur gleichen Zeit wie der Koran, der sich weitgehend mit den gleichen Grundfragen wie die beiden anderen Religionstraditionen auseinandersetzt.

Was bedeutet es für die Muslime, wenn Sie den Koran nach Europa zurückholen und in der Spätantike verorten?

Es ist ein weiteres Ziel unserer Arbeit, den muslimischen Kollegen, mit denen wir in vielen Fällen schon zusammenarbeiten, eine Handreichung zu geben, sich der historischen Koranforschung ernsthaft zuzuwenden. Moderne Muslime stehen vor der Notwendigkeit, den gesamten Koran für unsere Zeit verständlich und überzeugend auszulegen und dabei auch für diejenigen Verse eine Erklärung zu finden, die – im Wortsinn verstanden – anstößig sind, etwa weil sie Moralvorstellungen reflektieren, die sich mit zeitgemäßen Normen nicht vereinbaren lassen. Solche Verse lassen sich aus ihrer Entstehungssituation sinnvoll erklären und damit in ihrer Verbindlichkeit für die heutige Zeit relativieren.

Worin unterscheidet sich das islamische Textverständnis von unserem?

In der westlichen Kultur richtet sich die Neugierde auf die historischen Schichten und die historische Einbettung der Texte. Die Europäer mussten ihre klassischen, das heißt griechischen oder lateinischen Texte erst übersetzen, um sie verstehen zu können. Und diese Gewöhnung an das Übersetzen sensibilisierte die Leser und Bearbeiter der Texte für deren historische Dimension. Vor allem aber stimulierte das Wissen, dass es unter der Übersetzung einen Originaltext gibt, die Neugierde, diesen älteren Text »auszugraben«. Die sprachliche Oberfläche der übersetzten Texte musste aufgebrochen werden, wenn man Zugang zu der ursprünglichen Bedeutung bekommen wollte. So entwickelte sich in der von der Bibel und den griechisch-römischen Klassikern geprägten europäischen Kultur eine Verstehenslehre, eine Hermeneutik, die eigentlich eine Übersetzungshermeneutik ist. Diese Text-Ausgrabungsarbeit ist zu Recht mit der Archäologie verglichen worden. Im Islam ist die Situation umgekehrt. Hier sind die maßgeblichen Texte gerade nicht übersetzt, sondern liegen original arabisch vor.

Folgt aus Ihrer neuen historischen Sicht auf den Koran auch eine neue Sicht auf die Entstehungsgeschichte des Islams?

Wie andere Religionsurkunden auch verdankt sich der Islam einem Kommunikationsprozess zwischen einem charismatischen Sprecher und seinen Hörern, die im Laufe der Zeit zu einer Gemeinde werden. Man muss sich dazu vor Augen halten, dass der Koran nicht von Anfang an ein islamischer Text ist; er wird dazu erst durch seine Kanonisierung zur Grundurkunde des Islams. Zunächst einmal ist er die Mitschrift einer Verkündigung, durch die eine neue Bewegung entsteht. Zum Zeitpunkt des Todes des Propheten ist diese Bewegung offenbar schon so weit konsolidiert, dass sie weiter bestehen kann. Man kann von diesem Zeitpunkt an von »frühen Muslimen« sprechen; während der Verkündigung selbst kann man das eigentlich noch nicht, obwohl uns das Wort »Muslim« im Koran schon begegnet. Es bedeutet dort aber eher so etwas wie »Gottergebener« und ist noch keine Bezeichnung für eine Religionszugehörigkeit. Der Koran, wie er uns vorliegt, ist ein »Text mit zwei Gesichtern«. Das eine Gesicht ist jenes, das ihm die spätere islamische Tradition gegeben hat, sein »islamisches Gesicht«. Das andere – von uns in den Blick genommene – ist das Gesicht, das die koranische Gemeinde an ihm wahrnahm, sein Bild in den Augen der frühesten Hörer, die noch gar nicht Muslime waren, sein »spätantikes Gesicht«. Diese Unterscheidung ist wichtig – gerade wenn es darum geht, den Islam als eine uns verwandte Religion verständlich zu machen.

Die Europäer müssten sich ihrer Beziehung zum Koran erst noch bewusst werden, schreiben Sie in Ihrem Buch ...

Das klingt vielleicht etwas arrogant. Die bulgarische Historikerin und Philosophin Maria Todorova unterscheidet zwischen einem kulturellen Erbe – dem, was jede Kultur als Teil ihrer Identität von Generation zu Generation weiter überliefert – und ihrem Vermächtnis. Das sind die Spuren einer Vergangenheit, die eher versunken, vielleicht auch verdrängt ist, die also erst wieder zu entdecken ist. Todorova denkt dabei an die Balkankulturen, die ihr »eigenes Erbe« sehr bewusst pflegen, sich aber mit ihrem Vermächtnis, der osmanischen Vergangenheit, nur zögernd auseinandersetzen. Wir können natürlich nicht behaupten, dass der Koran ein europäisches Erbe ist. Denn er wurde in Europa nie wirklich angemessen rezipiert. Umso mehr ist er aber ein europäisches Vermächtnis, das uns aus der Spätantike aufgegeben ist. Und er ist ein herausforderndes Vermächtnis, auf das wir jetzt, da wir die eigentlichen Erben in so enger Nachbarschaft bei uns haben, dringend wieder ans Licht bringen sollten.

Kann man hoffen, dass durch eine solche Erkenntnis auch Konfliktfelder religiöser, politischer und gesellschaftlicher Natur reduziert würden?

Ich bin optimistisch. Es besteht zumindest in der jungen Generation auf beiden Seiten eine große Neugierde, ein intensives Interesse am Zugang des jeweils anderen. Statt Konflikte zum Gegenstand der Forschung zu machen, kann man sie vielleicht durch Forschung auch unterminieren. Ich weiß nicht, wie weit man Terroristen von ihren Absichten abbringen kann. Aber es gäbe eine sehr viel klarere Haltung gegenüber religiös verbrämter Gewalt bei unseren muslimischen Mitbürgern, wenn sich ein starker »europäischer Islam« schon herausgebildet hätte. Der Islam ist Teil unserer Gesellschaft; er muss aber mehr werden, nämlich auch ein Teil unserer plurikulturellen Identität.

Gespräch: Adelbert Reif

* Aus: Neues Deutschland, 25. Juni 2011


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