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Der Karikaturenstreit - Kampf der Kulturen oder Kulturkampf?

Von Andrea Noll*

Haltet den Dieb!

Die beste Methode, unerkannt zu entwischen, wenn man jemandem auf offener Straße die Brieftasche klaut, ist, laut loszubrüllen "haltet den Dieb!" und wild gestikulierend in irgendeine Richtung zu deuten. Während alle loslaufen, packt man seelenruhig das erbeutete Portmonee und verschwindet in entgegengesetzter Richtung.

Das eigentlich Erstaunliche am sogenannten "dänischen Karikaturenstreit" ist, welche untergeordnete Rolle Dänemark dabei spielt. In der westlichen Debatte wird so getan, als ginge es um den vielbeschworenen 'Kampf der Kulturen' (zu dem der islamophobe Samuel Huntington mit seinem gleichnamigen Buch[1] 1998 die Blaupause geliefert hat), als betreibe "der Islam" undifferenziertes West-Bashing, und Dänemark stehe stellvertretend für uns alle - pars pro toto - für die gesamte westliche Wertegemeinschaft am Pranger. Ganz so ist es nicht. Zur Chronologie der Ereignisse: Ende September 2005 erschienen in der größten dänischen Tageszeitung, der Jyllands-Posten, 11 Karikaturen über den Propheten Mohammed. Eine davon zeigte zum Beispiel den Turban des Propheten mit Bombe. Es kam zum Nachdruck in anderen Blättern, eine öffentliche Debatte entspann sich. In seiner Neujahrsansprache bezog der rechtsliberale Premier Anders Fogh Rasmussen Stellung zum "Karikaturenstreit": "Die Meinungsfreiheit darf um keinen Deut eingeschränkt werden, sie steht nicht zur Diskussion". Da war er also in der Welt, der Kampfbegriff der "Meinungsfreiheit", der seitdem durch sämtliche westliche Medien und Polit-Talkshows geistert: Meinungsfreiheit, als Wert des demokratisch-aufgeklärten Westens - dem der scheinbar irrationale Fanatismus der islamischen Massen in aller Welt kontrastiv gegenübersteht. Nach Veröffentlichung der Karikaturen waren elf islamische Botschafter nach Dänemark gereist, um die eskalierende Situation mit der dänischen Regierung zu besprechen und um ein Verbot der Karikaturen zu fordern. Premier Rasmussen weigerte sich schlicht, sie zu empfangen. Die Führer von 27 islamischen Gruppen aus Dänemark legten eine Petition mit 17 000 Unterschriften vor, in der gläubige Muslime ihre Empörung zum Ausdruck brachten, sie beschworen ihre Regierung, zur Deeskalation beizutragen. Reaktion der Regierung Rasmussen: zero. Erst Ende Januar - also vier Monate später - eskalierte die Kontroverse, von Nordafrika bis Südasien, mit den bekannten, unentschuldbaren Übergriffen auf dänische und andere westliche Botschaften und Gebäude.

Bis heute gibt sich Premier Rasmussen unschuldig: "Gerade in der dänischen Gesellschaft haben Konsens und Dialog immer eine große Rolle gespielt. Aber natürlich gibt es dänische Grundwerte, die respektiert werden müssen. Innerhalb dieses Rahmens sind wir ein liberales und tolerantes Land, in dem jeder nach seiner Fasson und nach seiner Tradition leben kann", äußerte er sich Anfang Februar 2006 in einem 'Spiegel'-Interview[2]. Wer also sind die wahren Schuldigen? "Es ist aber klar, dass einige religiöse Führer aus Dänemark in islamische Länder reisten und dass dann auf einmal an allen Ecken und Enden Falschinformationen über uns verbreitet wurden", lautet Rasmussens Verschwörungstheorie gegenüber den Muslimen im eigenen Land. "Da war Öl ins Feuer gegossen worden", so Rasmussen. "Manche religiösen Führer spielen... ein doppeltes Spiel: Auf Dänisch oder auf Englisch senden sie Botschaften der Verständigung aus, auf Arabisch tun sie das Gegenteil..."[2] Fragt sich, wer hier Öl ins Feuer gießt: Haltet den Dieb!

Migranten als moderne Sündenböcke

Der grausame Brauch stammt aus dem Alten Testament: Am sogenannten 'Versöhnungstag' legt der Priester einem Schafsbock die Hände auf den Kopf und überträgt ihm so symbolisch alle Sünden des Volkes. Daraufhin wird der arme Bock in die Wüste getrieben, wo er unweigerlich umkommen muss (Leviticus, 16, 20-22). Heute versteht man unter 'Sündenbock' eine Person oder Gruppe, die für etwas zur Verantwortung gezogen wird, das andere verbrochen haben. Gesellschaftlich sündenbocktauglich sind vor allem Menschen ohne Lobby - Arbeitslose, Alte, kulturelle Minderheiten. Nur zu gerne betreiben unsere herrschenden Eliten "Scapegoating" - um von eigenen Versäumnissen und Fehlern abzulenken.

In Dänemark sind die Migranten die Hauptsündenböcke. Sehen wir uns das "liberale und tolerante" Dänemark mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern doch einmal genauer hat - ein Land, das uns bisher vor allem durch seine blühende deutsch-dänische Neonazi-Grenzlandschaft auffiel. Vor einem Jahr gelang Anders Fogh Rasmussen, was zuvor noch nie einem rechtsliberalen Regierungschef in Dänemark gelungen war: Er wurde für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt. Die Rechtskoalition aus Venstre-Partei und Konservativen, unterstützt von der extrem ausländerfeindlichen Dänischen Volkspartei (DF), ging als klare Siegerin aus der Parlamentswahl vom 8. Februar 2005 hervor. Wichtigste Wahl-Strategie aller drei Parteien war das Schüren ausländerfeindlicher Ressentiments. Die Sozialdemokraten, die auf eine ernsthafte Gegendebatte verzichtet hatten, wurden mit 25,9% abgestraft. Ob Irakkrieg, Sozial- oder Ausländerpolitik, die Sozialdemokraten hatten die Politik der rechts-konservativen Regierung Rasmussen stillschweigend abgenickt. Irakkrieg: Die Regierung Rasmussen unterstützte die Invasion bzw. Besatzung des Irak mit einem Truppenkontingent von 500 Mann. Im August 2003 fiel der erste dänische Soldat bei Kampfhandlungen. Daraufhin betrieben Regierung und Sozialdemokraten gemeinsam die Aufstockung des dänischen Kontingents für Irak - anstatt für einen Abzug der dänischen Soldaten zu sorgen. Dänemarks Innenpolitik ist mit die ausländerfeindlichste in der Europäischen Gemeinschaft - was nicht nur an der offen rassistischen DF liegt. Die dänische Asylpolitik gilt als die härteste in ganz EU-Europa:
  1. Familienzusammenführungen von Flüchtlingen sind generell verboten.
  2. Ausländische Ehepartner von dänischen Staatsbürgern dürfen in der Regel nicht nach Dänemark einreisen bzw. werden nach der Eheschließung ausgewiesen (dem/der dänischen Partner/in bleibt oft keine andere Wahl, als gemeinsam mit dem/der Ehepartner/in auszuwandern - oft ins benachbarte Schweden).
  3. Die Wartefrist für Einbürgerungen wurde von drei auf mindestens sieben Jahre erhöht.
  4. Die Sozialhilfe für Flüchtlingen wurde extrem gekürzt - verglichen mit Leistungen für dänische Bürger.
Folge der knallharten dänischen Asylpolitik: "Zwischen 2001 und 2004 ging die Zahl der Asylbewerber in Dänemark um zwei Drittel zurück. Die Anerkennungsquote von Asylanträgen von 50 auf 9 Prozent"[3] "Damit gab sich die Volkspartei noch nicht zufrieden. Sie trat im Wahlkampf für eine weitere Verschärfung des Ausländerrechts ein. Unter anderem forderte sie, dass eingebürgerten Dänen das Wahlrecht bei Kommunalwahlen entzogen und die Staatsbürgerschaft wieder aberkannt wird, falls sie mit dem Gesetz in Konflikt kommen. In diesem Fall sollen sie samt ihren Familien deportiert werden. Außerdem will sie staatlichen Institutionen die Benutzung ausländischer Sprachen, schriftlich oder mündlich, mit den Bürgern verbieten. Das Daueraufenthaltsrecht für anerkannte Flüchtlinge will sie streichen."[3]

Vom 'Spiegel' auf seine "politischen Partner" von der Dänischen Volkspartei (DF), angesprochen, die, so 'Der Spiegel', "mit immer neuen fremdenfeindlichen Attacken Stimmung gegen Muslime machen"[2], sagte Premier Rasmussen im 'Spiegel'-Interview: "Fremdenfeindlich haben Sie gesagt. Die Volkspartei vertritt harte Positionen zu Einwanderung und Kriminalität. In anderen Politikfeldern, etwa in der Sozialpolitik, steht sie aber eher links von meiner Partei und sogar von den Sozialdemokraten. Sie ist keine klassische rechte Partei"[2] Stimmt, die DF ist keine klassisch rechte Partei, vielmehr eine klassisch rechtspopulistische Partei - die den unterprivilegierten dänischen Massen suggeriert: An eurem Elend sind allein "die Ausländer" schuld. Aber falls wir den Kampf der Kulturen gewinnen und die Migranten aus dem Land jagen, wird es euch Dänen besser gehen. Gegen Hetze dieser Art regt sich zunehmend Widerstand vonseiten liberaler Gruppen im Land. So protestierten vor kurzem Hunderte christliche Pastoren, Ex-Botschafter und mehrere tausend Ärzte gegen das extrem harte dänische Debatten-Klima gegenüber Zuwanderern und der islamischen Welt. Die Stimmung in der Bevölkerung ändern können diese Zeugnisse der Toleranz allerdings nicht. Stattdessen honoriert die dänische Bevölkerung die ausländerfeindliche Politik der Regierung Rasmussen weiter. Ausländer und Neubürger haben es schwer, Zugang zur dänischen Gesellschaft zu finden. Sie sind weitgehend ausgeschlossen von Vereinen und Klubs (ausgenommen Sportclubs), auf Behörden sind Zuwanderer unterrepräsentiert, ihre Kinder finden kaum geeignete Ausbildungsmöglichkeiten.

Bereits seit den 90ger Jahren - also noch unter den Sozialdemokraten - verfolgte Dänemark einen harten sozialpolitischen Kurs, auf den ersten Blick ein Erfolgskurs. Die Arbeitslosigkeit konnte gesenkt werden, die Wirtschaft boomte. Den Preis zahlen die Bürgerinnen und Bürger - in Form extremer sozialer Unsicherheit. Und trotz der wirtschaftlichen Erholung geht der neoliberale Sozialabbau weiter. Vor den Wahlen im Februar 2005 hatte Rasmussen den Slogan ausgegeben: "Wenn wir den Elefanten (Sozialstaat) nicht auf einmal essen können, müssen wir ihn eben häppchenweise verzehren".

Die dänische Arbeitsmarktpolitik - Deregulierung und "Zwangsarbeit"

Die dänische Arbeitsmarktpolitik ist geprägt von zwei Prinzipien: Weitgehende Aufhebung des Kündigungsschutzes und extrem harte Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose. Wer in Dänemark arbeitslos wird, hat ein Jahr lang Anspruch auf Arbeitslosengeld. In dieser Zeit ist der/die Erwerbslose gezwungen, jede angebotene Arbeit, egal wie hart oder schlecht entlohnt, anzunehmen, sonst droht der komplette Verlust der Unterstützung. Auf diese Weise hat sich in Dänemark ein deregulierter Arbeitsmarkt mit Minijobs und Kurzzeitbeschäftigung herausgebildet. Statistisch gesehen wird jede(r) vierte erwerbsfähige Däne einmal pro Jahr arbeitslos. Wie lange hält das die Psyche eines Menschen wohl aus? Auf alle Fälle macht es nicht toleranter. Wer sozialpolitisch derart schnell nach unten durchgereicht wird, empfindet Arbeitsmigranten sicherlich als Konkurrenten - um Jobs, um soziale Rechte. Auf die Idee, nicht "den Ausländern" die Schuld an der eigenen prekären Situation zu geben sondern der Regierung, kommen die meisten Dänen leider noch nicht: Haltet den Dieb, ruft der Dieb. Ein weiteres Beispiel: die Niederlande.

Meinungsfreiheit als Kampfbegriff - braune Tulpen aus Amsterdam

Bekannt für seine antisemitischen Äußerungen ließ er keinen Auschwitz-Witz aus. Wegen einer Bemerkung über "zwei kopulierende gelbe Sterne in der Gaskammer" handelte er sich 1984 eine Klage ein. Nein, die Rede ist nicht vom iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, vielmehr von Theo van Gogh, dem "begnadeten Provokateur", dem "grandiosen holländischen Filmemacher", der spätestens seit seiner Ermordung durch einen muslimischen Fanatiker im November 2004 zum Kult, zum Märtyrer der freien Meinungsäußerung geworden ist. Vor allem sein Film 'Submission' - nach einer Vorlage der rechten niederländischen Politikerin Aayan Hirsi Ali - mit dem van Gogh viele Muslime gegen sich aufgebracht hatte, bescherte ihm viel Lob - auch von linker Seite. "Anscheinend ist es okay, Juden zu hassen, wenn man nur Muslime auch hasst...", fasst Benjamin Rosendahl seine Wut über allzu positive Nachrufe auf van Gogh in einem Brief an die Zeitschrift BAHAMAS zusammen.[4] Rechtspopulismus hat viele Gesichter und viele Vertreter hier, in Europa, und nicht immer geht es dabei gegen Muslime. Auch andere Minderheiten sind im Fadenkreuz der Rechten - Asylbewerber, Sinti und Roma, EU-Arbeitsmigranten und Homosexuelle. Eines ist allen Rechtspopulisten gemein: Es geht ihnen nicht um Frauenrechte, um Toleranz oder Opferschutz. Rechtspopulisten benutzen Islam-Kritikerinnen - wie beispielsweise Aayan Hirsi - lediglich als Demonstrationsobjekte zum Beleg ihrer islamophoben Theorien. Sie würden keine Minute zögern, diese Frauen, gemeinsam mit ihren Peinigern in ein Flugzeug zu setzen und abzuschieben, wenn sie sie nicht mehr brauchen. Rechtspopulisten bedienen Überfremdungsängste und irrationale Ängste vor "Brunnenvergiftern" und "dem gefährlichen Fremden" - dem man bei Bedarf so ziemlich alles in die Schuhe schieben kann. Vogelgrippe auf Rügen? Warum nicht auch dafür den Moslems die Schuld in die Schuhe schieben?

In Holland spiegelt sich der Rechtspopulismus nicht zuletzt in der offiziellen Politik der neoliberalen Regierung Balkenende: 2004 beschloss die konservativ-rechte Regierung der Niederlande, 26 000 abgelehnte Asylbewerber und Illegale im Land in Abschiebelagern zusammenzutreiben und binnen dreier Jahre abzuschieben. Die Massenabschiebungen betreffen nicht nur neue Asylbewerber sondern auch Menschen, die seit Jahren ohne geklärten Status im Land leben, arbeiten, Steuern zahlten. Im ach so toleranten Holland werden Menschen aus ihren Einfamilienhäusern gezerrt und in Abschiebezentren verbracht - mitten in Europa. Im Anschluss an die Ermordung van Goghs gab es die übliche Diskussion über "übertriebene Toleranz" gegenüber den Muslimen in Europa. Übertriebene Toleranz? Auch Holland ist ein neoliberales Land mit einem neoliberalen Wirtschaftsmodell (gemäß der Lissabon-Strategie), in dessen Zentrum prekäre Arbeitsverhältnisse und Minijobs stehen. Das sogenannte "Poldermodell" hat zwar die Arbeitslosigkeit nicht nachhaltig bekämpfen können, den Arbeitsmarkt aber "erfolgreich" dereguliert. Um den Zorn der Menschen von sich abzulenken, ruft die Regierung Balkenende: Haltet den Dieb! Dort laufen sie, die sozialen Sündenböcke!

Ähnliche Beispiele für Sündenbock-Politik finden sich in Großbritannien und Frankreich (siehe die Unruhen vom November 2005 nach dem Tod zweier marokkanischer Jugendlicher und nach Innenminister Sarkozys feinfühligem Kommentar, "das sind Banditen, Gesindel, ich bleibe dabei und unterschreibe das" (der die Empörung der rebellierenden Einwandererjugend erst recht schürte)). In Deutschland haben wir (noch) Glück. Es gibt bei uns keine starke populistische Partei am rechten Rand - zumindest keine regierungsfähige. Rechtspopulismus und Ausländerfeindlichkeit sind Blitzableiter-Konzepte, die ablenken sollen von den wahren Schuldigen. In Deutschland gibt es noch Hoffnung, es gibt die Linkspartei und linke Bewegungen, die auf eine Änderung der politischen Verhältnisse setzen - und nicht auf Scapegoating.

Die Bayern-Macher

Ab 1. März gibt es in Bayern einen Fragebogen, der einbürgerungswilligen Ausländern in ihrer zuständigen Kreisverwaltungsbehörde ausgehändigt werden wird, um ihre Landestreue genauer unter die Lupe zu nehmen. Es wird ablaufen wie bei der Führerscheinprüfung: Nicht spickeln und den Bogen zügig an Ort und Stelle ausfüllen. In dem Fragebogen werden die Einbürgerungskandidaten nicht nur nach etwaiger Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen wie Al Kaida oder UCK gefragt, sondern auch, ob sie beispielsweise Mitglied in so extremistischen Organisationen wie der PDS oder der Deutschen Friedens-Union sind oder vielleicht gar mit dem links gerichteten "Frauenverband Courage" sympathisieren, diesen unterstützen. Als Unterstützung gilt bereits der Kauf von "Presseerzeugnissen und die Teilnahme an Veranstaltungen". Also, Finger weg vom Erwerb der Jungen Welt oder vom Besuch einer PDS-Wahlveranstaltung! Könnte Sie unter Umständen um ihre Einbürgerung in Bayern bringen. Kampf der Kulturen? "Wer ko, der ko", sagen die Bayern.

Der Islam als Religion muss einem nicht sympathisch sein, um die Religionsfreiheit der Muslime zu verteidigen, und wir müssen eine fremde Kultur auch nicht unbedingt begreifen, um sie zu tolerieren. Es genügt, dass sich die Mitglieder dieser Kulturgemeinschaft an geltendes Recht halten. Entsprechend Kants Kategorischem Imperativ - handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde -, darf es in Deutschland keine Doppelstandards geben: einen für Christen/Einheimische und einen für den Rest. Moral ist imperativ und allgemeingültig - oder sie ist nicht. Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Toleranz sind unteilbare Güter. Die westlichen Demokratien gründen auf dem Prinzip einer universalen Moral - gerade das unterscheidet sie ja von den Diktaturen, die es in vielen islamischen Ländern gibt. Die Universalität des Rechts und der Menschenrechte ist oberstes Prinzip der UN-Charta wie des deutschen Grundgesetzes. Sollte der Westen die Grundpfeiler seines ureigendsten Selbstverständnisses schleifen, greift er damit unweigerlich in die Matrix seiner (humanistischen) Identität ein. Kampf der Kulturen? Ich würde eher sagen, der Westen befindet sich mitten in einem Kampf gegen seine eigene Kultur, gegen die Werte, die er selbst - nach außen und innen - vertritt. Der Karikaturenstreit steht sinnbildlich für den Kampf gegen den eigenen Wertekanon - eine Art Autoaggression der westlichen Demokratien, die zu einer wachsenden Glaubwürdigkeitsproblematik führen wird. Falls die westlichen Gesellschaften es nicht schaffen, zu einer Kultur der Toleranz und der Verständigung gegenüber dem "Fremden" zurückfinden, werden sie letztendlich den Kampf um die eigene Identität verlieren.

Meinungsfreiheit als Totschlagsargument

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, sicherlich. Aber trägt eine Bombe am Turban des Propheten Mohammed tatsächlich zur Meinungsfreiheit bei oder beispielsweise die Karikatur in 'Der Tagesspiegel' vom 10. Februar, in der Mitglieder der iranischen WM-Fußballmannschaft mit umgebundenen Sprengstoffgürteln dargestellt sind? (Was soll uns diese Darstellung sagen? Dass der Iran Sprengstoffanschläge in Deutschland plant? Dass der Iran Selbstmordattentäter exportiert? Dafür gibt es keinen Beleg - ebenso wenig wie für die Existenz eines iranischen Atomwaffenprogramms (im Gegensatz zu den bewiesenen israelischen, pakistanischen und indischen Atomwaffenprogrammen)). Karikaturen sind kein Werkzeug der Meinungsfreiheit. Sie appellieren an das Bauchgefühl, nicht an den Verstand. Wie nachhaltig Karikaturen Vorurteile schüren können, weiß man spätestens seit den antisemitischen "Karikaturen" im "Stürmer" während der Nazizeit. Karikaturen sind bestenfalls witzig und originell. Verantwortungslose Karikaturisten hingegen können Ressentiments und den Hass schüren. Böswillige Karikaturen transportieren eine starke propagandistische Botschaft.

Die Meinungsfreiheit ist gefährdet, stimmt. Sie ist gefährdet durch immer größere Restriktionen im Bereich des Datenschutzes und der informellen Selbstbestimmung. Wenn das Gesetz Journalisten kein (relatives) Schweigerecht in Bezug auf Informanten mehr zubilligt, wenn der Staat, direkt (Lauschangriff) oder indirekt, Zugriff auf private Daten nimmt, dann ist die Meinungsfreiheit im Land in der Tat gefährdet. Grundlage für die neuen Gesetze zur Einschränkung des Rechts auf informelle Selbstbestimmung sind unter anderem nationale und EU-Antiterrorgesetze, wie sie nach dem 11. September überall in Europa verabschiedet wurden. Es gibt übrigens auch ein Recht auf religiöse Selbstbestimmung - wie es, unter anderem, in der UN-Charta und im deutschen Grundgesetz seinen Ausdruck findet.

Die Emser Depesche

Im Jahr 1870 nutzte Otto von Bismarck einen diplomatischen Streit - eine Petitesse - zwischen Frankreich und dem preußischen Königshaus, um einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland vom Zaun zu brechen. Die sogenannte "Emser Depesche" ist ein manipuliertes Telegramm über ein Gespräch zwischen dem französischen Botschafter Graf Benedetti und dem Preußenkönig Wilhelm I. Bismarck formulierte das Telegramm seines Mitarbeiters um und machte so aus einem unverfänglichen Gespräch eine Provokation. Folge: der Deutsch-Französische Krieg. [5] Gefährliche Anheizer, im Sinne der Emser Depesche, sind heute jene Staatsmänner und -frauen, die - wie Rasmussen im Karikaturenstreit - Öl ins Feuer der internationalen Spannungen gießen, die gegen Minderheiten hetzen, die die "militärische Option" auf den Tisch legen und so die globale Kriegsgefahr schüren (wie die EU-Troika im Atomkonflikt mit Teheran). Brandstifter sind aber auch jene Kleriker und Populisten im islamischen Lager, die ihre persönliche Karriere auf der "Wut der arabischen Straße" aufbauen - siehe Ahmadinedschad. Der Lichtbogen der solchermaßen künstlich erzeugten Hochspannung zwischen den Kulturen könnte sehr bald global überschlagen - und in einen fatalen Krieg der Kulturen münden.

Anmerkungen
  1. 'Clash of Civilizations', Samuel P. Huntington, 1998
  2. "Wir reden aneinander vorbei", Interview mit Anders Fogh Rasmussen, Der Spiegel 7/2006
  3. 'Schwere Niederlage der Sozialdemokraten in Dänemark' von Helmut Arens, World Socialist Web Site www.wsws.org/de/2005/feb2005/daen-f12.shtml
  4. 'Sind wir nicht auch bloss "ehrenwerte" Antisemiten?' von Benjamin Rosendahl www.redaktion-bahamas.org/aktuell/Rosendahl.htm
  5. "Durch gezielte Kürzungen Otto von Bismarcks wurde ein Telegramm seines Mitarbeiters Heinrich Abeken über die Unterredung König Wilhelms mit dem französischen Botschafter Graf Benedetti in Bad Ems so umformuliert, dass Frankreich das Ergebnis als Provokation empfingen musste. Während in Abekens Telegramm der König höflich, aber bestimmt ablehnte, Benedetti nochmals zu empfangen, da sich eine weitere Unterredung über die französische Forderung vorerst erübrigt hatte, klingt in Bismarcks Version des Telegramms die französische Forderung wie ein Ultimatum, dem zwangsläufig der Abbruch der Beziehungen durch den empörten König folgen musste", siehe www.dsg.ch/emsdep.htm
Quelle: ZNet Kommentar 15.02.2006: www.zmag.de


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