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Die Schwäche in Stärke verwandeln

Selbstmordattentate sind ein modernes Phänomen: Wandel und Erweiterungen des islamischen Märtyrerbegriffs

Von Sabine Damir-Geilsdorf*

Islamisch legitimierte Selbstmordattentate werden von den Ausführenden und ihren Sympathisanten als "Märtyreroperationen" bezeichnet. Vor allem die Intention der Attentäter, aktiv den Tod zu suchen und dabei möglichst viele Feinde ebenfalls zu töten, ist für uns erschreckend und weicht vom christlichen Märtyrerkonzept ab. Solche Attentate stehen jedoch nicht für "das" islamische Märtyrerkonzept oder gar "den" Islam, sondern sind ein relativ junges Phänomen, das erstmals im 20. Jahrhundert im Rahmen des Nahostkonflikts auftrat. Ein Blick in die Geschichte des Islam zeigt, dass die jeweilige Deutung des Märtyrerkonzepts wesentlich von politischen und sozialen Faktoren beeinflusst wird.

Ähnlich wie im Christentum erfuhr der arabische Begriff für Märtyrer, Schahid, im Frühislam einen Bedeutungswandel von "Zeuge" (des Glaubens) zu "Blutzeuge", also jemandem, der seinen Glauben mit seinem Blut, das heißt seinem Tod, bezeugt und dafür im Jenseits besonders belohnt wird. Im Koran tritt das Wort Schahid vor allem in der Bedeutung "Zeuge" auf. Dort wird zwar geschildert, dass ein Muslim, der im Kampf gegen die Ungläubigen stirbt, ins Paradies gelangt, die Bezeichnung Schahid in der Bedeutung "Blutzeuge" stammt aber aus der umfangreichen Hadith-Literatur, den tradierten Handlungen und Aussprüchen des Propheten Muhammad, die bis Ende des 9. Jahrhunderts zusammengestellt wurden.

Das Hadith beschreibt auch die Vorzüge, die den Märtyrer erwarten: Von seinen Sünden befreit, entgeht er dem Verhör im Grab durch die beiden Frageengel Munkar und Nakir und dem islamischen Fegefeuer. Im Paradies erhält er von den verschiedenen Rängen den höchsten, direkt nach den Propheten, und kann als Fürsprecher für bis zu 70 Angehörige auftreten. Weil ein Märtyrer schon rituell rein ist, soll er vor dem Begräbnis nicht gewaschen werden. Die Wunden, die er im Dschihad, dem "Heiligen Kampf", davongetragen hat, bezeugen seinen Märtyrerstatus; sie leuchten am Jüngsten Tag rot wie Blut und duften nach Moschus. Ausschlaggebend für den Märtyrerstatus ist die Intention des Märtyrers, das heißt sein Wille, den Tod für die Sache Gottes zu erleiden. Nach den Überlieferungen gilt jemand, der die Interessen eines solchen Gotteskämpfers wahrgenommen hat, vor Gott so, als habe er mit ihm zusammen gekämpft. Auch deshalb werden Angehörige von Märtyrern von entsprechenden Organisationen finanziell unterstützt.

In den ersten Jahrhunderten des Islam wurde dieses Märtyrerkonzept entscheidend erweitert. Als Märtyrer galten nun auch Muslime, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt und getötet wurden sowie Muslime, die in Opposition gegen ihren nicht nach dem religiösen Gesetz, der Scharia, handelnden Herrscher exekutiert wurden. Nach einigen Hadithen ist nahezu jeder, der eines gewaltsamen Todes oder an einer Krankheit stirbt, ein Märtyrer: Muslime, die an einer Seuche sterben, verbrennen, ertrinken und Frauen, die während des Gebärens sterben. Dieser Personenkreis wurde dann auch auf Muslime ausgeweitet, die eines natürlichen Todes starben - bei der Pilgerfahrt oder auf einer Reise zur "Erlangung von Wissen". Eine Überlieferung spricht sogar von "Liebesmärtyrern" als von Personen, die obwohl sie liebten, keusch blieben, ihr Geheimnis bewahrten und starben. Unter den Sufis, den islamischen Mystikern, entstand die Auffassung, dass der "wahre" Märtyrer nicht auf dem Schlachtfeld stirbt, sondern sein Leben im Kampf gegen die eigene Triebseele, den "großen Dschihad", verbrachte.

Die Gründe für diese Erweiterungen sind vielfältig. Sie sind unter anderem in der geringeren Bedeutung der Kämpfer nach Ende der ersten großen Eroberungen zu suchen, im Wunsch nach einem göttlichen Ausgleich für menschliches Leiden, in der - vorislamischen - Tradition der Heiligenverehrung und in dem Versuch, die durch die Sehnsucht nach dem Martyrium motivierte blinde Selbstopferung auf dem Schlachtfeld gerade zu verhindern. Solche Martyriumssehnsüchte sind auch aus den ersten Jahrhunderten des Christentums bekannt. Die Orthodoxie in beiden Religionen lehnte sie jedoch stets ab - mit dem gleichen Argument: Das Martyrium wäre in diesem Fall ein Selbstmord, den Gott verbietet.

Ein von Martyriumssehnsüchten beeinflusstes Kampfverhalten von Muslimen ist in der islamischen Geschichte nur im Zusammenhang mit Sekten bekannt: den Kharijiten (7./8. Jahrhundert) und den Assassinen, also jener mittelalterlichen ismailitischen Sekte der Nizariya, die von 1090 bis 1256 in Syrien und Persien herrschte. Aufgrund ihrer Opferbereitschaft und kaltblütigen "Meuchelmorde" galten die Assassinen lange Zeit als Vorbild der heutigen Selbstmordattentäter. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen jedoch, dass Berichte über sie meist von ihren Feinden (den Kreuzfahrern oder sunnitischen Muslimen, die sie als Häretiker bezeichneten) stammen und historisch kaum verifizierbar sind.

Dass das Märtyrerkonzept für die breite Motivierung zum Dschihad instrumentalisiert wurde, ist ein dezidiert modernes Phänomen: Im Ersten Golfkrieg liefen Scharen iranischer Soldaten, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, "freiwillig" in die irakischen Minen und wurden als Märtyrer gefeiert. Sie beriefen sich dabei auf Hussein, den schiitischen "König der Märtyrer". Die Schiiten, heute vor allem in Iran angesiedelt, trennten sich schon im frühen Islam von den Sunniten, denen 85 bis 90 Prozent der Muslime angehören. Sie erkennen nur Ali b. Abi Talib (gest. 661) und dessen Nachkommen als Kalifen an und deuten den Tod von Alis Sohn Hussein in der Ebene von Kerbela in einer aussichtlosen Schlacht gegen die Umayyaden als Opfer. Dieses Opfer bildet den Ausgangspunkt einer - den Sunniten fremden - schiitischen Märtyrertheologie und eines Märtyrerkults.

Davon zu unterscheiden ist aber auch bei den Schiiten der Gedanke, das islamische Martyrium zu erlangen, indem man durch das Selbstopfer möglichst viele Feinde mit in den Tod reißt. Das erste Selbstmordattentat wurde zwar 1983 von einem Mitglied der schiitischen libanesischen Hisbollah verübt, nahezu alle schiitische Autoritäten kritisierten es aber mit dem Hinweis auf das Selbstmordverbot. Bis in die achtziger Jahre war diese Form des Attentats in der islamischen Welt nur aus anderen Kontexten bekannt gewesen: Die "atheistischen" Kommunisten und die libanesische Syrische Nationalistische Partei hatten sie im Südlibanon als Terrormittel eingesetzt.

Dass solche Attentate schließlich doch Eingang in die Ideologie schiitischer sowie sunnitischer Islamisten fanden und als legitime Form des Dschihad gerechtfertigt wurden, ist wesentlich auf ihren "Erfolg" zurückzuführen. Das in Beirut stationierte US Marine-Corps zog in den achtziger Jahren wegen eines Selbstmordattentats der Hisbollah ab. Den Boden für die zunehmende Akzeptanz von Selbstmordattentaten in der palästinensischen Gesellschaft bereitete auch die Bedeutung, die das Martyrium dort infolge der Auseinandersetzung mit dem britischen Mandat, insbesondere aber nach der Staatsgründung Israels, erlangt hatte. Die Kämpfer gegen die britischen Truppen und jüdischen Einwanderer genossen hohes soziales Ansehen. Zu ihnen gehörten sowohl Muslime, die gegen eine Besatzung muslimischen Lands kämpften, als auch Christen und Angehörige säkularer, nationalistischer Gruppierungen. Im Laufe des Jahrzehnte andauernden und scheinbar unlösbaren Nahostkonflikts verbanden sich nationalistische Slogans und Motive immer mehr mit religiösen bzw. wurden in einem Rückzug auf das kulturell "Eigene" durch sie ersetzt.

Dadurch heroisierten zunehmend islamisch legitimierte Widerstandsdiskurse die Kämpfer gegen die israelische Armee und die israelischen Siedler. Sie machten sie nach ihrem Tod zu Märtyrern, die im Dschihad gegen die Feinde ihr Leben ließen. Zu den Märtyrern zählten dann auch sämtliche Palästinenser, inklusive Frauen und Kinder, deren Tod sich auf die israelische Besatzung zurückführen ließ. Dies verlieh zum einen ihrem Tod einen Sinn, zum anderen präsentierten sich palästinensische Gruppierungen durch vielfältig inszenierte Erinnerungen an diese Märtyrer als Opfer israelischer Gewalt.

Dieser Opferstatus prägte das Selbstbild der Palästinenser entscheidend. Im Laufe des Konflikts versuchten militante Gruppierungen immer mehr, ihn zu überwinden und zu Handelnden zu werden. Dazu nutzen sie auch das Märtyrerkonzept, indem sie ihre Pamphlete mit "Sieg oder Martyrium" unterzeichneten.

Viele palästinensische Islamisten haben heute auf ihren Websites eine Rubrik "Märtyrer" mit Fotos und Informationen über Palästinenser, die bei israelischen Angriffen starben. Nur wenn der Tod des Märtyrers öffentlich gemacht wird und eine Botschaft transportiert, ist er ein Märtyrer. Denn der Märtyrer stirbt einen exemplarischen Tod. Er steht dafür, dass es der Gruppe, aus der er kommt, möglich ist, sich zu wehren und sie den Tod nicht scheut.

Die heroisierende Rhetorik dieser palästinensischen Gruppierungen ist deutlich nationalistisch ausgerichtet, oft sucht man vergebens nach "islamischen" Argumenten. Seit der im Jahr 2000 begonnenen zweiten Intifada fügen diese militanten Gruppierungen in die Reihe der Märtyrer auch die Selbstmordattentäter ein, insofern sie eine neue Form von Widerstand leisten.

Die Welle palästinensischer Suizidattentate in den Jahren 2001 und 2002 führte zwar zunächst zu Kontroversen unter muslimischen Theologen, die Attentate wurden aber immer häufiger legitimiert, weil man sie als Teil eines nationalen Befreiungskampfs wahrnahm. Entsprechende Fatwas (Rechtsgutachten) weisen meist auf die vom Rest der Welt geduldeten israelischen Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte hin und heben hervor, dass die Palästinenser weder mit diplomatischen Mitteln noch mit dem "normalen" Dschihad ihre Rechte erlangen konnten und können. Sie argumentieren, dass diese Attentate kein Selbstmord seien, weil ein Selbstmörder dem Leben entfliehe, ein palästinensischer Attentäter hingegen sein Leben zur Verrichtung einer religiösen Pflicht - der Verteidigung muslimischen Lands - opfere.

Die nach der Überlieferung und dem traditionellen islamischen Recht verbotene Tötung von Zivilisten, Frauen und Kindern bei diesen Attentaten rechtfertigen die Fatwas oft mit wenig stichhaltigen theologischen Argumenten: Die israelische Gesellschaft als Ganze sei militärisch oder die Attentäter würden als Reaktion auf die Gräueltaten der Israelis nur Gleiches mit Gleichem vergelten. Für den Attentäter selbst spielt vermutlich das Gefühl politischer Ohnmacht und Perspektivlosigkeit eine ausschlaggebende Rolle. Es scheint, als gäbe er sich als Individuum auf, weil er sein Leben einer Sache opfert: der größeren Entität Nation, Volk oder der religiös-politischen Ideologie. Im Moment seines Todes wird er aber zu einem handlungsfähigen Individuum, zu einem Helden, der seiner Familie ein höheres soziales Prestige sowie finanzielle Zuwendungen verschafft. Die Schwäche, die den Selbstmordattentaten zugrunde liegt, wandelt sich so zu einem Moment der Stärke.

Es gibt viele Ursachen für islamisch legitimierte Gewalt, sicherlich liegen sie aber nicht in einer strukturell Gewalt fördernden Beschaffenheit des Islam. Die Ideologisierung und Instrumentalisierung des Islam und des islamischen Märtyrerkonzepts für politische Zwecke beruht vor allem auf der Verweigerung grundlegender Rechte, gravierenden sozialen Ungleichheiten, der Unterdrückung gewaltfreier Oppositionsmöglichkeiten und dem Gefühl politischer Handlungsunfähigkeit. Konfrontative westliche Denkansätze und eine aggressive Politik, die keine wirkliche Demokratisierung der Staaten im Nahen Osten erreichen will, verstärken das bei militanten Gruppierungen dominant gewordene Denken in Feindbildkonstruktionen. Wie sich die islamischen Märtyerkonzepte weiterentwickeln, hängt daher wesentlich von den politischen Entwicklungen in den betreffenden Regionen ab.

Sabine Damir-Geilsdorf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Orientalistik der Universität Gießen.
Der Beitrag erschien am 12. August 2003 in der Frankfurter Rundschau. Wir danken Sabine Damir-Geilsdorf für die freundliche Erlaubnis zur Dokumentation ihres Beitrags.


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