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Legitimiert das Völkerrecht die militärische Intervention in einen Staat?

Debattenbeiträge von Prof. Dr. Gerhard Stuby, ehemaliger Hoschullehrer an der Uni Bremen, und Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan, Bundeswehruniversität in München

Am 11. April 2008 veröffentlichte das "Neue Deutschland" in der wlöchentlichen Rubrik "Debatte" zwei kontroverse Beiträge zur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit von Militärinterventionen. Die gegensätzlichen Standpunkte wurden vertreten von:

  • Prof. Dr. Gerhard Stuby, Jahrgang 1934, Mitgründer der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik« und
  • Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan, Jahrgang 1961, seit 2006 Dozent für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Bundeswehruniversität in München.
Im Folgenden dokumentieren wir die spannende Debatte.



Ein Rückschritt in anarchische Zustände droht

Von Gerhard Stuby *

Unter »humanitärer Intervention« verstehe ich eine militärische Aktion, die ein Staat oder Staatenbündnis gegen den Willen eines Staates durchführt, um dort geschehenden schweren Menschenrechtsverletzungen (z. B. Völkermord) einen Riegel vorzuschieben, und dies notfalls ohne Zustimmung des Sicherheitsrates. Die internationale Staatengemeinschaft dürfe einem solchen Geschehen nicht tatenlos zusehen, so häufig die Argumentation in jüngeren Konstellationen (Afghanistan, Irak, Sudan u. a.). Bei der Kosovo-Intervention verwendeten die NATO--Staaten sie jedoch »lupenrein«.

Ausgangspunkt jeder völkerrechtlichen Betrachtung ist die UN-Charta. Das insoweit übereinstimmende Gewohnheitsrecht als weiterer »doppelter« Geltungsgrund kann insofern ausgeklammert bleiben. Nach Art. 2, Ziff. 4 und Art. 51 ist militärische Gewaltanwendung zwischen Staaten nur zur Selbstverteidigung erlaubt, und zwar nur gegenüber einem »bewaffneten Angriff« und nur »bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat«. Diese starke Beschränkung für »individuelle« Gewaltanwendung soll dadurch kompensiert werden, dass weitreichende und gestaffelte Kompetenzen zum Eingreifen, einschließlich militärischer Gewalt, im VII. Kapitel bei einer kollektiven Instanz monopolisiert sind, nämlich beim Sicherheitsrat. Folglich ist eine Aktion völkerrechtswidrig, die wie in Kosovo weder ein Mandat des Sicherheitsrates noch Selbstverteidigungsgründe vorweisen kann. Sie stellt ein Völkerrechtsverbrechen dar, nämlich eine Aggression.

Hiergegen wird eingewandt, zum Zeitpunkt des Zustandekommens der UN-Charta 1945 habe man Menschenrechtsverletzungen zu den »inneren Angelegenheiten« eines Staates gezählt. Die UN-Charta sage daher zu dieser Frage nichts. Das moderne Völkerrecht reflektiert einen mühsamen und blutigen geschichtlichen Verlauf, in dem aus den Zerfallsprodukten des mittelalterlichen »Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen« Territorialstaaten entstanden sind. Eine klaffende Asymmetrie zwischen Groß-, Mittel- und Kleinstaaten ist von Beginn an auszumachen. Entstandene Staaten vergrößern sich, indem sie sich andere, wenigstens zum Teil einverleiben. Manchmal werden sie umgekehrt verkleinert, geschluckt oder zerfallen wieder. Nur selten entsteht vorübergehendes Gleichgewicht.

Um diesen Verlauf völkerrechtlich beeinflussen oder gar regulieren zu können, verpflichten sich die Staaten bis heute gegenseitig, den »Grundsatz der souveränen Gleichheit« (Art. 2, Ziff. 1) aller Vertragspartner und damit auch das Prinzip der Nichteinmischung in deren »innere Angelegenheiten« (Art. 2, Ziff. 7) zu respektieren. Die Grenzen des zuletzt genannten Prinzips sind schon früh an den Minderheitenschutzvorkehrungen, so zur Zeit des Völkerbundes, zu erkennen.

Die Architekten der UN-Charta trafen Vorkehrungen in zweierlei Richtungen. Zum einen bahnten sie die Entwicklung eines ausgefeilten Menschenrechtsschutzsystems bis hin zu den beiden Pakten, wobei die Minderheitenproblematik aus den genannten Gründen zurücktrat. Zum anderen monopolisierten sie jede Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen beim Sicherheitsrat, die über den Rahmen der die Souveränität schonenden Schutzmechanismen der Pakte hinausging. Er allein hat die Kompetenz, Menschenrechtsverletzungen als »Bedrohung oder Bruch des Friedens« festzustellen (Art. 2, Ziff. 7 und Art. 39). Die Praxis des Sicherheitsrates hat sich an diese Vorgaben gehalten, wenn sie z. B. das Anwachsen von Flüchtlingsströmen als Friedensbedrohung erkennt.

Ein weiterer Einwand akzeptiert zwar die Kompetenz des Sicherheitsrates, derartige Menschenrechtsverletzungen notfalls mit militärischer Gewalt zu sanktionieren, glaubt aber eine »Lücke« feststellen zu können für den Fall, dass der UN-Sicherheitsrat nicht handeln könne, so wenn er sich selbst durch ein Veto blockiere. Friedensbedrohende Konfliktlagen können nur im Konsens der Großmächte entschärft werden. Fehlt dieser Konsens, droht Rückfall in »Anarchie«, die durch ein wie auch immer geartetes »jus ad bellum«, wie es die mandatslose »humanitäre Intervention« darstellt, nur vertieft würde, zudem einer Nuklearmacht gegenüber »Gerede« bleiben muss. Verweigert sich eine Großmacht durch Ausübung bzw. Androhung des Vetos und versucht, den Konflikt in ihrem Sinn zu regulieren, riskiert sie allerdings die »Illegalität«, wenn sie keine Selbstverteidigungsgründe hat. Das ist riskant gegenüber den anderen Großmächten, da diese sich mit anderen »verbünden« könnten. Dieser gewollte Effekt hat oft versagt, zugegeben, gerade in jüngster Zeit (Irak, Afghanistan u.a.m.).

Zumindest eine indirekte Wirkung ist zu verzeichnen: Keine der »ausbrechenden« Vetomächte - hierunter selbst die Waffen strotzenden USA - glaubt bislang, ohne völkerrechtliche Legitimation auszukommen. Die erwähnte »Lückentheorie« versucht, gepaart meist mit Bemühungen um eine »wundersame« Vermehrung von Selbstverteidigungsgründen, eine solche Legitimation zu schaffen. Derartige Anstrengungen mögen darauf zurückzuführen sein, dass gerade in den aktuellen Fällen nach dem »Ausbruch« die Problemlösungskapazität der USA und ihrer Verbündeten rapide nachließ. Man kann hierin einen Beleg für die »Logik der sich verstärkenden Anarchie« durch »individuelle« Eingriffe sehen, von der die Väter der UN-Charta ausgingen. Klammheimlich kehrte man wieder in den kollektiven Kontext zurück (z. B. Kosovo und Irak).

Völkerrechtswissenschaft, wie jede interpretierende Wissenschaft auf genaue Analyse des Realitätsbezugs der Texte bedacht, hat zu allererst »Normprogramm und Normbefehl«, hier der entsprechenden Artikel der UN-Charta herauszuarbeiten. Sie hat sich nicht nur abzugrenzen gegenüber Rechtspolitik, oft gepaart mit Wunschdenken. Sie muss sich auch gegen Legitimationsstrategien wehren, die dem Normdruck auszuweichen suchen. Ihre Aufgabe ist es, diesen Druck mit ihren Mitteln, eben der Interpretation »lege artis« zu erhöhen. Schon der euphemistische Begriff »humanitäre Intervention« ist daher abzulehnen. Er verhüllt den völkerrechtswidrigen Akt nur notdürftig.

* Prof. Dr. Gerhard Stuby, Jg. 1934, lehrte von 1971 bis 2000 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. Von 1974 bis 1976 war er deren Konrektor. Er ist Mitgründer der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. 1978 wurde Stuby aufgrund seines friedenspolitischen Engagements und seiner Nähe zu vermeintlich linksextremistischen Organisationen für mehrere Jahre aus der SPD ausgeschlossen, bevor er 1989 wieder aufgenommen wurde.


Menschenrechte schützen - notfalls auch mit Waffen

Von Daniel-Erasmus Khan **

Ohne Zweifel: Krieg darf keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mehr sein. Die UN-Charta fordert von den Staaten einen radikalen Verzicht auf dieses traditionelle Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Konflikte, so das Herzstück der völkerrechtlichen Friedensordnung von 1945, sollten fortan allein mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden. Und dennoch: In berechtigtem Realismus huldigt die UN-Charta keinem bedingungslosen Pazifismus. Bewaffnete Selbstverteidigung bleibt zulässig und der UN-Sicherheitsrat kann militärische Gewalt autorisieren. Das Credo der Weltordnung am Ende eines durch das verbrecherische Nazi-Deutschland entfesselten Krieges lautete also nicht etwa »Nie wieder Krieg«, sondern »Nie wieder Aggression« und »In Solidarität zusammenstehen - notfalls eben auch mit militärischen Mitteln«.

Die Probleme für das Völkerrecht beginnen dort, wo wir das Szenario des klassischen zwischenstaatlichen Konflikts verlassen. Dieser bildet zwar die Matrix für die in der UN-Charta anerkannten Ausnahmen vom Gewaltverbot, kommt heute aber kaum noch vor: Von 34 größeren militärischen Konflikten in den Jahren 1997 bis 2006 fielen ganze drei in diese Kategorie. Offensichtlich ist die Welt seit 1945 nicht friedlicher geworden. Das Geschehen hat sich eben nur zunehmend in das Staatsinnere verlagert: Nichtstaatliche Akteure ringen miteinander oder mit der Staatsmacht um Macht und/oder Territorium; unterdrückte und aufbegehrende Bevölkerungsteile werden von der Staatsmacht mit brutalen Mitteln bekämpft. Gerade dort, wo wie im Bürgerkrieg die Grenzen zwischen Militär und Zivilgesellschaft verschwimmen, kommt es allzu oft zu humanitären Katastrophen. Auch hinsichtlich der bedauerlichsten Konstante der Menschheitsgeschichte ist die Welt damit heute eine andere, als sie es 1945 war.

Der Wert einer Rechtsordnung beruht in erster Linie auf ihrer Fähigkeit, die Herausforderungen einer konkreten Lebenswirklichkeit zu meistern: Das Idealbild der Charta aber, der wohl organisierte, über das Gewaltmonopol nach innen verfügende souveräne Staat, existiert heute vielerorts nicht mehr. Zerfallende Staaten mit bedenklichen Machtvakuen prägen das Bild gerade in Krisenregionen. Gleichzeitig hat die Stellung des Individuums auf der internationalen Bühne eine enorme Aufwertung erfahren, die eben gerade auch zu Lasten des absoluten staatlichen Verfügungsanspruches gegangen ist.

Mit einer förmlichen Anpassung an diese neuen Realitäten tut sich das Völkerrecht indes schwer, ist es hierzu doch auf den Konsens der gesamten Staatengemeinschaft angewiesen. Ein Projekt, wonach bei schwersten Menschenrechtsverletzungen auch mit militärischen Reaktionen zu rechnen ist, steht für viele Staaten »verständlicherweise« nicht besonders hoch auf der politischen Agenda. Bedeutet dies nun, dass wir sehenden Auges eine humanitäre Katastrophe hinnehmen müssen, obwohl diese nach Versagen aller anderen, milderen Mittel durch eine militärische Intervention verhindert oder beendet werden könnte? Kann die zwischenstaatlich geächtete Gewalt sich im Staatsinneren unter dem Deckmantel der Souveränität wirklich immer noch ungestraft austoben, ohne im Extremfall auch mit der schärfsten Reaktion anderer Staaten rechnen zu müssen? Ist die klassische völkerrechtliche Gleichung »lässt du mich in Ruhe, so lass ich dich zu Hause schalten und walten, wie es dir beliebt« wirklich immer noch uneingeschränkt gültig?

Nein, diese Gleichung gilt bereits seit 1945 nicht mehr, denn der zweite Grundpfeiler der neuen Weltordnung lautet: »Nie wieder Holocaust«. Schon in den Eingangsworten der Charta tritt die Bekräftigung »unseres Glaubens an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Person« gleichberechtigt neben die Verdammung der »Geißel des Krieges«. Ist das hier angelegte Spannungsverhältnis selbst in Extremsituationen (Genozid) wirklich immer zugunsten der staatlichen Souveränität und zu Lasten der Menschenrechte aufzulösen?

Auch hier ist eine bemerkenswerte Entwicklung zu beobachten: Die gerichtliche Aufarbeitung humanitärer Katastrophen obliegt zunehmend internationalen Strafgerichtshöfen, ein vor wenigen Jahren noch undenkbarer Einbruch in Kernbereiche staatlicher Souveränität. Seit Augusto Pinochet gilt zudem: Auch höchste Staatsrepräsentanten können sich mit ihren Verbrechen nicht mehr auf den Schutzschild der Immunität verlassen. Und schließlich: Der Begriff der Friedensgefährdung ist nicht zuletzt vom Sicherheitsrat um eine positive Dimension ergänzt worden, die auch schwere Menschenrechtsverletzungen umfasst. Eine vom Sicherheitsrat autorisierte, humanitäre Militärintervention ist daher bereits heute unzweifelhaft zulässig.

Es bleibt damit letztlich nur die Frage: Was ist, wenn die von der Charta vorausgesetzte Solidarität der Weltgemeinschaft zum Schutz der Menschenrechte versagt? Was ist, wenn es auf dem Dach der Welt zu einem Genozid käme und der Sicherheitsrat durch ein (sicher zu erwartendes) Veto handlungsunfähig wäre? Schließt dies in jedem Fall eine Intervention mit militärischen Mitteln durch handlungswillige und -fähige Staaten aus? Hier darf man keine pauschale Antwort geben: Die UN-Charta erlaubt Gewalt nur als allerletztes, exzeptionelles Mittel, aber eine prinzipielle rechtliche und moralische Verdammung enthält sie nicht. Die Charta kollektiviert legitime Gewaltanwendung aus gutem Grunde so weit wie möglich (Missbrauchsgefahr), setzt dabei aber das Funktionieren des entsprechenden Mechanismus voraus.

Hintergrund des radikalen Gewaltverbotes ist die Annahme eines Verstoßes gegen die »Ziele der Vereinten Nationen«, zu denen nun aber auch die Wahrung der Menschenrechte gehört. Befreiungsbewegungen dürfen auch um militärischen Beistand bitten, warum nicht auch andere unterdrückte Völker? Die völkerrechtliche Lage ist unsicher und eine Interpretation der Chartabestimmungen, die im äußersten Fall auch ein einseitiges militärisches Eingreifen ermöglicht, scheint möglich. Lassen wir die menschenverachtenden Regime dieser Welt in dieser Unsicherheit. Denn sicher ist: Die einstmals staatenzentrierte Völkerrechtsordnung entwickelt sich zunehmend zu einem schützenswerten Grundgesetz der Menschengemeinschaft. Und das ist eine gute Entwicklung.

** Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan wurde 1961 geboren. Er studierte Rechtswissenschaften in Marburg, Genf und München. 1996 promovierte er am Institut für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2006 lehrt er an der Bundeswehruniversität in München Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht. Khan war mehrfach vor dem Internationalen Gerichtshof, u. a. für die Bundesregierung, in Den Haag tätig. Außerdem arbeitete er an rechtlichen Begutachtungen internationaler Grenzfragen mit.

* Aus: Neues Deutschland, 11. April 2008


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