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Menschenrechte und Gewaltverbot im Völkerrecht

Beitrag auf dem Europäischen Friedenskonvent in Berlin am 23. März 2001

Von Prof. Dr. Gregor Schirmer

Die Verankerung der Menschenrechte im Völkerrecht im Ergebnis des Sieges der Antihitler-Koalition über den Faschismus war zweifellos ein revolutionäres Element im internationalen Leben. Zum ersten Mal in der Geschichte verpflichteten sich Staaten in der Charta der Vereinten Nationen, "die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen"- und das auch gegenüber ihren eigenen Bürgern. Die Proklamation des Tatbestandes der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" im Statut für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stellte klar, dass die Staaten nicht mehr Kraft ihrer Souveränität mit ihren "Untertanen" umgehen dürfen, wie sie wollen, geschweige denn mit Bürgern anderer Staaten.

1948 proklamierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit ihren 30 Artikeln einen relativ hohen Standard politischer, bürgerlicher, wirtschaftlicher und sozialer Rechte und Freiheiten. Darunter - man höre und staune - in Artikel 28 den Anspruch jedes Menschen "auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die ... Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können". Im Verlauf der Nachkriegsgeschichte entstand - trotz des Kalten Krieges oder gerade wegen des Ost-West-Gegensatzes? - ein ziemlich dichtes Geflecht von universalen völkerrechtlichen Normen über Menschenrechte. Von herausragender Bedeutung sind die zwei Internationalen Pakte von 1966 über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Heute ist jeder Staat zur Wahrung und Durchsetzung eines Mindeststandards von Menschenrechten völkerrechtlich verpflichtet, unabhängig davon, welchen Menschenrechtsverträgen er beigetreten oder ferngeblieben ist. Zu dem Mindeststandard gehören jene Rechte, deren Verletzung nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, also Völkermord, systematische und dauerhafte Missachtung des Rechts ganzer Menschengruppen auf Leben in Frieden und Freiheit durch Mord, Ausrottung, Versklavung und Vertreibung. Die Gewährleistung des Mindeststandards auch gegenüber den eigenen Bürgern ist eine Verpflichtung erga omnes. Das heißt, jeder Staat kann von jedem anderen Staat verlangen, dass diese Verpflichtung eingehalten wird ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, er verstoße gegen das Einmischungsverbot. Es handelt sich um eine Verpflichtung vom Charakter eines jus cogens, eines zwingenden Rechts, von dem weder vertraglich noch gewohnheitsrechtlich abgewichen werden darf, es sei denn durch eine neue jus-cogens-Norm.

Das ist die Rechtslage: Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, die Menschenrechte zu achten und zu verwirklichen. Aber sie tun es nicht. Überall auf der Welt werden Menschenrechte verletzt. Auch der Mindeststandard, von dem eben die Rede war, wird in manchen Ländern mit Füßen getreten. Was ist dagegen auf der internationalen Ebene zu unternehmen? Durch die UNO? Durch einzelne Staaten und durch Staatengruppen? Durch international agierende gesellschaftliche Kräfte und Organisationen? Das Thema ist breit wie die Weichsel. Ich kann es hier nicht behandeln, auch nicht seine wichtigste Seite, die Prophylaxe. Ich will nur in aller Kürze auf eine Frage eine Antwort suchen: Ist die Anwendung militärischer Gewalt von außen, also durch andere Staaten oder die NATO oder durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein völkerrechtlich zulässiges Mittel, um Verletzungen der Menschenrechte durch einen Staat, eine Regierung gegen die Bürger dieses Staates zu begegnen? Zumindest als ultima ratio in Fällen, wo der Mindeststandard missachtet wird? Also: Ist Schutz der Menschenrechte durch militärische Gewalt erlaubt?

Ich beantworte diese Frage mit nein. Militärische Gewalt ist kein völkerrechtlich zulässiges Mittel, um Menschenrechte durchzusetzen. Die sogenannte humanitäre Intervention ist verboten.

Alle Staaten ohne Ausnahme, ob groß oder klein, stark oder schwach, alle Gruppen von Staaten, wie die NATO oder andere Bündnisse, sind an das Gewaltverbot der Charta gebunden. In Art. 2 Ziff. 4 heißt es: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung und Anwendung von Gewalt." Es sei vermerkt, dass bereits die Androhung von Gewalt und nicht erst deren Anwendung untersagt ist. Dieses Gewaltverbot ist ebenfalls eine Rechtsnorm erga omnes und vom Charakter eines jus cogens, ein Ergebnis der Niederschlagung der faschistischen Bestie. Die Zeit, in der das jus ad bellum höchstes Kennzeichen der Souveränität war, in der jeder Staat das Recht hatte, nach Belieben Krieg zu führen, wenn er mächtig genug war, war mit der Charta endgültig vorbei.

Vom Gewaltverbot gibt es für Staaten oder Staatengruppen nur eine Ausnahme, nämlich das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff nach Art. 51 der Charta. Dieses Recht wird als "naturgegeben" bezeichnet. Wie dem auch sei: Es kann von keinem Staat verlangt werden, dass er sich gegen eine Aggression nicht verteidigt. Aber: Ein Staat, der Menschenrechte verletzt, unternimmt keinen bewaffneten Angriff auf einen anderen Staat. Die Ausnahme der Selbstverteidigung zur Rechtfertigung einer militärischen Intervention scheidet also aus.

Es wurden juristische Konstrukte aufgebaut, wonach die humanitäre Intervention mit militärischen Mitteln gar nicht vom Gewaltverbot der Charta erfasst sei, aber sozusagen hinter der Charta - in Anlehnung an das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung - ein Gewohnheitsrecht der Staaten stehe, der Bevölkerung Nothilfe mit Waffengewalt zu leisten, wenn grundlegende Menschenrechte verletzt werden. Das sind jedoch Erfindungen, die zur Rechtfertigung des Krieges der NATO gegen Jugoslawien gebraucht wurden. Es gibt im geltenden Völkerrecht kein solches Nothilferecht. Die "Nothilfen" erweisen sich bei näherem Hinschauen als völkerrechtwidrige Aggressionsakte.

Aber ist die Rechtslage nicht ganz anders, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen militärisches Eingreifen - wie es so schön heißt - mandatiert? Ich halte diese Praxis des Mandatierens für reichlich dubios. Aber abgesehen davon ist auch der Sicherheitsrat nicht befugt, militärische Gewalt gegen einen Staat, der Menschenrechte verletzt, selbst anzuwenden oder per Mandat durch andere Staaten anwenden zu lassen. Der Sicherheitsrat kann nach Kapitel VII der Charta militärische Sanktionen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit verhängen, nicht des Friedens und der Sicherheit im Inneren von Staaten. Er muss nach Art. 39 feststellen, dass eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Gemeint ist eine Bedrohung oder ein Bruch des internationalen, des zwischenstaatlichen Friedens und nicht des Friedens innerhalb von Staaten.

Gleichwohl hat der Sicherheitsrat verschiedentlich militärische Zwangsmaßnahmen gegen Staaten beschlossen, in denen angeblich oder tatsächlich grundlegende Menschenrechte verletzt wurden. Daraus hat man die Schlussfolgerung ziehen wollen, der Begriff des Friedens in Kapitel VII und speziell in Art. 39 sei in rechtsfortbildender Weise so ausgeweitet worden, dass er sowohl den internationalen Frieden, als auch den innerstaatlichen Frieden umfasst. Dem ist jedoch nicht so. In den Resolutionen nach Kapitel VII - übrigens auch in denen, die keine militärischen sondern nichtmilitärische Sanktionen vorsehen - hat sich der Sicherheitsrat auf friedensgefährdende internationale Auswirkungen innerstaatlicher menschenrechtswidriger Zustände berufen. Nur einmal - im Somalia-Fall - hat er das unterlassen, nämlich in der Resolution 794 von 1992, durch die die "kooperierenden Mitgliedstaaten", also die USA und ihre Verbündeten, ermächtigt wurden, "alle erforderlichen Mittel einzusetzen", also auch Waffengewalt anzuwenden. Der Sicherheitsrat hat sich dabei nicht auf internationale Auswirkungen der innersomalischen Zustände berufen, sondern allein "das Ausmaß der durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie" als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bezeichnet. Ein solcher Fall reicht aber nicht aus, um eine Rechtsfortbildung zu konstatieren.

Ich bin also der Auffassung und darin unterscheide ich mich von manchen meiner Kollegen, die konsequente Gegner von NATO- und USA-Interventionen sind, dass auch der Sicherheitsrat de lege lata nicht berechtigt ist, gegen Menschenrechtsverletzungen militärische Gewalt einzusetzen, es sei denn, diese Menschenrechtsverletzungen sind mit Angriffshandlungen gegen andere Staaten, mit Bedrohungen und Brüchen des Friedens zwischen den Staaten verbunden. Eine militärische humanitäre Intervention wird nicht deshalb legal, weil sie auf einem ordnungsgemäß zustande gekommenen Beschluss des Sicherheitsrats beruht. Der Krieg gegen Jugoslawien wäre auch dann völkerrechtswidrig gewesen, wenn er vom Sicherheitsrat mandatiert worden wäre. Der Sicherheitsrat ist keine Weltregierung und kein Weltpolizist.

Staaten, denen dieser Rechtszustand nicht passt, werden entweder nach dem Grundsatz "Macht vor Recht" das Recht brechen oder sie müssen versuchen, das Recht entsprechend zu ändern. Rechtsbrüche unter dem Vorwand des Schutzes der Menschenrechte finden allenthalben statt. Aber: Ex injuria jus non oritur, aus Unrecht entsteht kein Recht. Über eine Änderung des Rechts kann man nachdenken und debattieren. Es ist aber Folgendes zu bedenken:

Eine Legalisierung der humanitären Intervention mit militärischen Mitteln könnte nur erfolgen, indem die Charta der Vereinten Nationen entweder durch das in der Charta selbst vorgesehene Verfahren geändert wird. Das wird schwer möglich sein, denn dazu ist die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder, einschließlich der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats erforderlich. Oder indem neues Völkergewohnheitsrecht vom Charakter eines jus cogens entsteht, das die Charta umformt oder überlagert. Ein solches Gewohnheitsrecht würde voraussetzen, dass die humanitäre Intervention zu einer allgemein geübten Praxis wird und dass diese Praxis als Recht anerkannt wird. Soweit wird es hoffentlich trotz der Machtpositionen der USA und der NATO nicht kommen. Denn das wäre das Ende der völkerrechtlichen Friedensordnung der Vereinten Nationen und die Etablierung einer Diktatur der USA in Rechtsgestalt über die ganze Welt, mit oder ohne Verbündete, mit oder ohne den Sicherheitsrat.

Man mag gegen meinen Weg des Argumentierens einwenden, er sei zu wenig politisch und zu formal-juristisch. Ich bin aus kritischer Erfahrung zu DDR-Zeiten gegen einen solchen Einwand ziemlich allergisch. Damals hieß es nicht selten, man müsse die Dinge politisch sehen und Formal-Juristisches dem Politischen unterordnen.

Natürlich habe ich für meinen Standpunkt der Ablehnung der humanitären Intervention auch historische, politische und moralische Begründungen. Aber es ist nicht schlecht, wenn Friedensbewegte das Völkerrecht auf ihrer Seite wissen. Es ist sogar sehr gut. Natürlich werden Rechtsbrüche nicht dadurch beendet, dass man sie als Rechtsbrüche öffentlich enthüllt und anprangert. Ich kenne die Grenzen von Völkerrecht in dieser kapital- und machtdominierten Welt. Aber Recht - hier das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen - kann eine Art Metermaß für die Politik der Staaten in der Menschenrechtsfrage sein. Wenn ich diesen Maßstab anlege, komme ich zu dem Ergebnis, dass die USA und die Nato Menschenrechtsimperialismus betreiben. Und Recht kann ein Kampfinstrument für Friedensbewegte gegen Interventionsbesessene sein, auf das zu verzichten töricht wäre.



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