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Responsibility to Arm

Das Konzept der »Schutzverantwortung« als Legitimation von Interventionen führt zu weiterer Militarisierung von Konflikten

Von Thomas Mickan *

Der Ausdruck »humanitäre Intervention« gehört heute nicht mehr zum politischen Vokabular, um militärisches Wirken zu legitimieren. Lange Zeit diente diese Vokabel als Chiffre für Kriege, die im Namen der Verhinderung vermeintlich schlimmeren Übels geführt wurden, wie beispielsweise für den Kosovokrieg im Jahr 1999. Politisch abgelöst wurde diese Vokabel nun durch die sogenannte Schutzverantwortung (engl. Responsibility to Protect, kurz »R2P«), und dieses Konzept droht, noch verheerendere Auswirkungen zu zeigen, als es den »humanitären Interventionen« zu eigen war.

Ähnlich wie bei diesen ist auch bei der »Schutzverantwortung« die Ausgangsfrage, wie die internationale Gemeinschaft auf einen stattfindenden oder drohenden Genozid in einem Land reagieren soll.

Paternalistisches Verständnis

Die Diskussion um die »Schutzverantwortung« umfaßt nach dem »3-Säulen-Ansatz« von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon drei Bestandteile, nämlich die Frage der staatlichen Souveränität, den Aspekt der Hilfestellung beim Aufbau von Sicherheitskräften und schließlich die direkte militärische Intervention.

Zunächst wird die staatliche Souveränität neu interpretiert. Diese stellt in der »R2P«-Debatte nicht mehr den unumschränkten Machtbereich des Staates dar. Vielmehr steht die Verantwortung eines Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund, diese vor schweren Massenverbrechen zu bewahren – namentlich vor Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen.

Auf den ersten Blick leuchtet es ein, daß ein Staat für das Wohlergehen seiner Bürger verantwortlich sein solle. Bei genauerer Betrachtung erscheint aber fraglich, ob es sich bei der Neuinterpretation von Souveränität überhaupt um eine Vorstellung von demokratischer Volkssouveränität handelt, oder ob ihr nicht vielmehr ein hierarchisches Staatsverständnis zugrunde liegt, in der eine Herrschaftsklasse die Untergebenen paternalistisch vor Unheil behüten soll.

Ferner ist zu fragen, ob diese Form des Schutzes vor Massenverbrechen die Menschenrechte als Schutzrechte vor staatlicher Gewalt überhaupt noch ernst nimmt, da der Staat selbst zum Erfüllungsverantwortlichen der Schutzfunktion wird. Befürworter der Schutzverantwortung hoffen darauf, daß sich kein mordendes Staatsoberhaupt mehr hinter der Souveränität verstecken könne – mit entsprechend abschreckender Wirkung. Daß das die mächtigen Oberhäupter weniger betrifft als die nicht ganz so mächtigen, räumen selbst die Befürworter ein, argumentieren aber, daß es besser sei, einen zu retten als keinen.

Entscheidend ist schließlich, daß sich in der Neuinterpretation von Souveränität als »Verantwortung« das Rechtfertigungsverhältnis verschiebt. Mußten sich bei den »humanitären Interventionen« noch jene rechtfertigen, die militärisch eingriffen, obliegt diese Pflicht nun den Ländern, denen eine Intervention droht.

Aufrüstung

Das »R2P«-Konzept umfaßt des weiteren die internationale Unterstützung zur Einhaltung der staatlichen Schutzverantwortung gegenüber seinen Bürgern. Obwohl in offiziellen Berichten unter »Aufbau sicherheitsrelevanter Kapazitäten« auch Frühwarnsysteme, zivile Konfliktbearbeitung oder diplomatischen Dienste genannt werden, geht es in der Realität sowohl finanziell als auch personell vor allem um den Ausbau des Sicherheitssektors. So werden zum einen Polizei und Militär in das zu unterstützende Land entsendet oder der Aufbau der Einheiten vor Ort finanziert. Abgesehen davon, daß eine derartige Aufrüstung generell problematisch ist, konterkarieren westliche Vorstellungen von Polizei und Militär außerdem den Universalitätsanspruch des Konzepts der »Schutzverantwortung«. Oder können sich dessen Befürworter für den Polizeiaufbau in Libyen auch eine islamische Religionspolizei nach saudi-arabischen Vorbild vorstellen?

Der dritte Bestandteil des Konzepts der »Schutzverantwortung« ist die direkte militärische Intervention, die von den Befürwortern als Gewalteinschränkung gegenüber dem willkürlichen Interventionsrecht bei der »humanitären Intervention« dargestellt wird. Ob im Rahmen der »Schutzverantwortung« zukünftige völkerrechtswidrige Kriege wie im Kosovo oder dem Irak eingedämmt werden können, muß gerade mit Blick auf die Mandatsüberschreitung in Libyen angezweifelt werden. Zudem verkennen die Befürworter die auch hier entstehende Aufrüstungsdynamik. Nicht nur die Bundeswehr muß kostspielig »Fähigkeitslücken« für die Übernahme von Schutzverantwortungen schließen, sondern insbesondere regionale Organisationen wie die Afrikanische Union (AU) sollen militärisch schlagkräftiger gemacht werden. Die Bundesregierung beruft sich dann gern auf die »afrikanischen Lösungen für afrikanische Probleme«. Tatsächlich aber entspringt aus dem Anspruch, schwere Massenverbrechen zu verhindern, eine neue Aufrüstungsdynamik, deren Folgen für die internationalen Beziehungen noch nicht absehbar sind. Die »Schutzverantwortung« bedient somit auch die Wünsche der Rüstungsindustrie auf die Erschließung neuer Märkte.

Die Präzedenzfalle für das »R2P«-Konzept wurden in zahlreichen Kommentaren bereits als Beweise für das Scheitern des Ansatzes analysiert. Matthias Dembinski und Densua Mumford von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung weisen etwa in einer erst jüngst erschienenen Studie darauf hin, daß vor allem nach der Erfahrung des Regimewechsels in Libyen in der nichtwestlichen Welt die »Schutzverantwortung« zunehmend als eine Durchsetzung von staatlichen Einzelinteressen wahrgenommen wird, als neokoloniale Interessenspolitik westlicher Mächte. Insbesondere in Teilen der Afrikanischen Union werde das Konzept als »institutionell tot« bewertet. Die Gründe hierfür lägen im respektlosen militärischen Unterbinden der Vermittlungsversuche der AU in der Libyen-Krise und der maßlosen Überschreitung des UN-Mandats durch die militärische Koalition.

Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß im Anschluß an die Interventionen die politische Lage in Libyen oder Côte d’Ivoire – ein weiterer Fall, in dem bei der Intervention mit der »Schutzverantwortung« argumentiert wurde – die politische Lage äußerst instabil ist. Bei Libyen kommt hinzu, daß durch den Krieg die gesamte Region destabilisiert wurde und beispielsweise die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Norden Malis auslöste. Mit der UN-Resolution 2071 vom 9. Oktober zur Vorbereitung einer Intervention in Mali geht die Militarisierung des nördlichen und westlichen Afrika weiter. Diese verheerende Entwicklung ist aber durchaus mit dem Geist des »Schutzverantwortung«-Konzepts vereinbar, ja sie ist ein zentraler Bestandteil derselben.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler und Beirat der Informationsstelle Militarisierung: www.imi-online.de

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Oktober 2012


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