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"Ruto war der Scharfmacher"

Mit Kenias Vizepräsident steht erstmals ein amtierender Politiker vorm Weltstrafgericht

Von Marc Engelhardt *

Die Täter kommen während des Mittagsgottesdienstes am Neujahrstag 2008. »Wir Männer haben geschlafen, weil wir das Dorf die ganze Nacht über bewacht hatten«, erinnert sich damals vor den noch rauchenden Überresten der Kirche der Bewohner Peter Njoroge. »Wir sind von Schreien geweckt worden und mit Macheten und Schlagstöcken zur Kirche gelaufen, aus der schwarzer Rauch aufstieg – aber es waren einfach zu viele Gegner.« 30 Menschen verbrennen bei lebendigem Leibe in der Kirche, die die Angreifer erst barrikadiert und dann angezündet haben. Die überlebenden Opfer – allesamt ethnische Kikuyu – fliehen. Es ist eine der schlimmsten Tragödien, die sich in den Wochen nach der Wahl in Kenia Ende 2007 abspielen. Am Schluss sind mehr als 1100 Menschen tot.

Für Njoroges Nachbarn Frederic Ndeche steht schon damals fest, wer für den Überfall auf die Kikuyu-Gemeinde in der Nähe von Eldoret verantwortlich ist: »William Ruto, er war der Scharfmacher, er hat die Kalenjin aufgehetzt, deren Ethnie hier die Mehrheit stellt.« Diese Ansicht vertritt auch der Internationale Strafgerichtshof, vor dem sich Ruto – seit April Kenias Vizepräsident – und der Radiomoderator Joshua Arap Sang wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müssen. Ohne Ruto hätte es die Massaker im Rift Valley nicht gegeben, so die Klageschrift.

Es ist das erste Mal, dass sich ein amtierender Vizepräsident dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) stellen muss. Präsident Uhuru Kenyatta, 2007 noch Rutos erbitterter Widersacher, soll im November folgen. Beide bestreiten ihre Schuld und betonen immer wieder, mit dem ICC kooperieren zu wollen. Doch hinter den Kulissen versuchen sie alles, um das Verfahren zu diskreditieren – mit Erfolg.

Schon im Wahlkampf gerierten sich Kenyatta und Ruto als Opfer der internationalen Justiz. Das ICC mutierte vom Gerechtigkeitsgaranten zum Unterdrücker eines unabhängigen afrikanischen Staates. John Githongo, einst oberster Korruptionsbekämpfer des Landes, nennt das eine der »brillantesten politischen Manipulationen« überhaupt. Ruto und Kenyatta hätten es so geschafft, sich innerhalb ihrer ethnischen Gruppen zu Führern mit ungekannter Macht aufzuschwingen. Dabei half, dass Kenyatta Sohn des Staatsgründers, Medienmogul und einer der reichsten Männer des Landes ist. Kenias Medien führen seit Monaten eine Kampagne gegen das ICC.

Vergangenen Donnerstag beschloss Kenias Parlament eine Resolution, die den Ausstieg aus dem ICC fordert. »Die Resolution schützt die Unabhängigkeit unseres Landes und unserer Bürger und wird Kenias Ruf rehabilitieren«, eröffnete Mehrheitsführer Aden Duale die Debatte. Das ICC gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte, setzte einer seiner Fraktionskollegen später nach. Doch die Bedeutung des Beschlusses ist unklar. Thomas Obel Hansen, Dozent für Völkerrecht an der US-Universität in Nairobi, stellt klar: Selbst ein Ausstieg hätte keine Auswirkung auf laufende Prozesse vor dem ICC.

Für Mwalimu Mati, den Direktor der angesehenen kenianischen Menschenrechtsorganisation Mars Group, ist der Beschluss schlicht ein politisches Manöver. Kenyatta und Ruto bereiteten das Land schleichend darauf vor, dem ICC die Zusammenarbeit aufzukündigen. »Die Abstimmung soll den Weg dafür ebnen, dass sie irgendwann sagen können: Das kenianische Volk, repräsentiert durch seine Abgeordneten, will mit dem ICC nichts mehr zu tun haben.« Mati kritisiert, dass die Zukunft des ganzen Landes dem politischen Überleben zweier Personen geopfert werde.

Fest steht, die Stimmung in Kenia hat sich gedreht. Heute, da die Kontrahenten von einst gemeinsam an der Spitze des Staates stehen, wollen viele Kenianer vor allem eins – die Vergangenheit hinter sich lassen. »Vor anderthalb Jahren habe ich mehr als eine Million Unterschriften zur Unterstützung des Prozesses vor dem ICC gesammelt«, bilanziert Ngunjiri Wambugu, Direktor eines kenianischen Instituts. »Heute würde ich das nicht mehr tun, und ich glaube, dass ich heute auch kaum noch 100 000 Unterschriften bekommen würde.« Wambugu kritisiert, das ICC nehme keine Rücksicht auf die Folgen, die ein Verfahren gegen die zwei höchsten Repräsentanten Kenias für das Land habe.

»Es mag sein, dass die Opfer der Unruhen keine Gerechtigkeit erfahren, und das ist ungerecht. Aber wenn wir für Gerechtigkeit kämpfen, dann könnte das den Frieden aufs Spiel setzen, den wir heute in Kenia haben«, sagt Wambugu. Es ist eine Angst, die bewusst geschürt wird. Für die Mehrheit der Kenianer, die täglich gegen die eigene Armut kämpfen, wöge ein neuer Konflikt schlimmer als jede juristische Ungerechtigkeit.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. September 2013


Haager Weltgerichte

Kritik an Einseitigkeit des ICC aus Afrika

Von Olaf Standke **


Den Haag gilt als eine Art Welthauptstadt des Rechts. Diesen Ruf hat die niederländische Kommune den internationalen Gerichten zu verdanken, die dort zu Hause sind. Im gerade 100 Jahre alt gewordenen Friedenspalast hat die höchste juristische Instanz der Vereinten Nationen ihre Sitz. 1946 gegründet, entscheidet der Internationale Gerichtshof in Streitfällen von Staaten. Er hat bisher 113 Urteile gesprochen. 1993 begann das UN-Kriegsverbrechertribunal zum früheren Jugoslawien mit seiner Arbeit. Es verfolgt Schuldige für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord während der Kriege in den 90er Jahren. Bisher wurden 69 Angeklagte verurteilt, 18 freigesprochen. Prozesse gegen 28 laufen noch, darunter gegen Radovan Karadzic, den ehemaligen Führer der Serben in Bosnien.

Zuletzt sorgte vor allem der International Criminal Court (ICC) für Schlagzeilen, der am 1. Juli 2002 seine Arbeit aufnahm. Dieses erste Weltstrafgericht ist keine Einrichtung der Vereinten Nationen. Es arbeitet auf Grundlage des sogenannten Römische Statuts, eines völkerrechtlichen Vertrags, dem bisher 122 Staaten beigetreten sind. Auch dieser Gerichtshof soll Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord zur Anklage bringen. Es hat bislang 18 Ermittlungsverfahren in acht Ländern eröffnet.

Dass es dabei immer nur die »kleinen Fische« treffe – diesen Vorwurf können die Richter in Den Haag inzwischen zurückweisen. Waren es zuvor tatsächlich vor allem regionale Warlords, wurde im Vorjahr mit Charles Taylor, dem einstigen Herrscher Liberias, ein Ex-Präsident zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt. Nun muss sich mit Kenias Vizepräsident William Ruto zum ersten Mal ein ranghoher aktiver Politiker für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Im November soll dann der Prozess gegen Präsident Uhuru Kenyatta folgen.

Doch bleibt Kritik. Nicht nur, weil elf weitere Haftbefehle noch immer nicht vollstreckt wurden, so wie im Fall des sudanesischen Staatschefs Omar al-Baschir. Da die Haager Chefanklägerin Fatou Bensouda ohne eigene Polizei agieren muss, ist sie auf Hilfe anderer Staaten angewiesen. Die aber fürchten bei einem Prozess die Eskalation der regionalen Konflikte. Vor allem stört Kritiker, dass alle bisherigen Angeklagten aus Afrika kommen. Die Afrikanische Union hat dem Gerichtshof sogar einseitige Verfolgung nach Rassekriterien vorgeworfen. Während 43 afrikanische Staaten die Gründungsakte des Tribunals unterschrieben und 34 sie auch ratifiziert haben, lehnten das etwa die USA, Russland, China und Israel bisher ab.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. September 2013




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