"Die Globalisierung ist politisch gemacht"
Karl Georg Zinn, Prof. für Wirtschaftswissenschaften an der RWTH Aachen im Gespräch über die Weltwirtschaft, Krisen und drohende Katastrophen
Karl Georg Zinn, Jahrgang 1939, lehrt seit 1970 am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Seine Schwerpunkte sind Volks- und Außenwirtschaft. Jüngste Buchveröffentlichungen: -
Jenseits der Markt-Mythen (1997)
-
Wie Reichtum Armut schafft (1998)
-
Sozialstaat in der Krise (1999)
-
Gewinner und Verlierer der Globalisierung? (2000)
-
Zukunftswissen. Die nächsten zehn Jahre im Blick der Politischen Ökonomie, VSA Verlag, Hamburg 2002 (144 Seiten, 12,80 €)
In dem Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, geht es um Themen, die in dem zuletzt genannten Buch behandelt wurden.
Frage: Unablässig predigen Sprecher der Industrie- und
Bankenwelt, aus Wirtschaftsforschungsinstituten, dazu
Wirtschaftsjournalisten und nicht zuletzt Repräsentanten
bürgerlicher Parteien ihren Wählern, zu denen überwiegend
lohnabhängig Beschäftigte gehören, die Tugend der
Bescheidenheit. In Deutschland stagniert der Anteil der
Lohneinkommen am Volkseinkommen, die Bruttolohnquote, bei
etwa siebzig Prozent. Um dies zu begründen, sagt man nicht:
»Im Kapitalismus bleibt euch gar nichts anderes übrig«,
sondern es heißt: »Das sind die Zwänge der Globalisierung.«
Teilen Sie die Akzeptanz dieses Begriffs, oder ist das für Sie
eher ein Mythos zur Einschüchterung von Menschen, die
gewohnt sind, wenig Fragen zu stellen nach dem Woher und
Wohin?
Holzschnittartig kann die »Globalisierung« durch zwei
Komponenten charakterisiert werden. Erstens handelt es sich
um eine seit langem - mindestens seit Beginn der industriellen
Revolution - laufende Expansion der außenwirtschaftlichen
Verflechtung der Volkswirtschaften, also Außenhandel,
Kapitalexporte bzw. -importe zwecks Direktinvestitionen sowie
Kreditbeziehungen und Herausbildung multinationaler
Unternehmen. Diese erste Komponente ist also weder neu
noch in irgendeiner Weise »gefährlich«, soweit die
Außenwirtschaftspolitik im Rahmen vernünftiger, vertraglicher
Regelungen gestaltet wird. Die zweite Komponente betrifft die
irrsinnige Ausweitung der spekulativen Finanztransaktionen.
Zumindest im Ausmaß handelt es sich um ein neues
Phänomen, das zum einen Folge der anhaltenden
Wachstumsschwäche der kapitalistischen Länder seit Mitte der
siebziger Jahre ist, aber auch politische Ursachen hat. Denn
diese Expansion unproduktiver und tendenziell zerstörerischer
finanzkapitalistischer Aktivitäten wurde erst dadurch möglich,
daß die sinnvollen Regulierungen, Kontrollen und
Beschränkungen auf den Finanzmärkten abgebaut wurden.
Der jüngst verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu
sprach denn auch nicht einfach von »Globalisierung«, sondern
von der Politik der »Globalisierung«, um deutlich zu machen,
daß es sich um eine an bestimmten Finanzkapitalinteressen
orientierte Selbstentmachtung der Wirtschaftspolitik handelt.
Wir können also feststellen, daß es sich bei der
»Globalisierung« keineswegs um eine unvermeidliche
Entwicklung handelt, sondern daß sie politisch gemacht wurde
- und im Prinzip auch wieder verändert werden kann.
F: Anhand von Erfahrungswerten läßt sich relativ genau
voraussagen, wieviel Unfälle im Straßenverkehr pro Jahr, z. B.
in Deutschland, eintreten werden. Wann, wo und wen Unfälle
passieren, läßt sich nicht voraussagen. Aber man kann sagen,
wer dieses und jenes unterläßt, mindert das Risiko von
Unfallgefahren im Straßenverkehr. Tendieren entgegen der
herrschenden ökonomischen Lehre marktwirtschaftliche
Systeme nicht auch zwangsläufig zum mehr oder weniger
großen Crash mit entsprechend negativen sozialen Folgen? Ein
chaotisch-konkurrierendes System eines arbeitsteilig
bedingten spontanen Austausches von Waren oder Werten
ohne Wissen von einer gesamtgesellschaftlichen Bedürfnislage
kann doch, wie unterstellt, keinem Gleichgewicht unterliegen,
sondern bewegt sich eher in einem labilen Zustand von
Expansion und Regression. Wir haben zweihundert Jahre
Erfahrung mit Kapitalismus. Was macht es methodisch dennoch
so schwer, trotz erkannter und bekannter Entwicklungstrends
nur einen Zeitraum von zehn Jahren zu prognostizieren?
Längerfristige Entwicklungen des Kapitalismus sind gar nicht
so schwer zu prognostizieren, wie dies die breitere
Öffentlichkeit im allgemeinen wahrnimmt. Es war bereits im 19.
Jahrhundert möglich - und nicht nur Karl Marx zählt zu den
erfolgreichen Prognostikern - wichtige Langzeittrends
vorherzusagen. Etwa die wiederkehrenden Krisen sowie die
Möglichkeit, daß unter besonderen Umständen, die allerdings
weniger gut oder gar nicht vorhersehbar sind, Krisen zu
wahren Wirtschaftskatastrophen werden können, wie in der
Zeit nach 1929. Auch daß der Konzentrationsprozeß
voranschreiten wird, daß der Kapitalismus zur weltweiten
Ausbreitung tendiert, um nur einige herausragende Prognosen
zu erwähnen. Viel schwieriger sind kurzfristige Prognosen, die
wegen ihrer Kurzfristigkeit auch quantifiziert werden sollen.
Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, daß mit einer
realitätstüchtigen Wirtschaftstheorie wie etwa der des großen
englischen Wirtschaftstheoretikers John Maynard Keynes,
recht zuverlässige Vorhersagen gemacht werden können. Das
Problem vieler heutiger Wirtschaftsprognosen besteht einfach
darin, daß aus ideologischen Gründen »falsche« Theorien -
etwa die neoklassische Gleichgewichtstheorie - zur
Orientierung benutzt werden. Es ist so, als wollte man heute
Astronomie mit dem ptolemäischen*) Weltmodell betreiben.
F: Nach dem Tiefpunkt des Wachstumsrückganges im letzten
Jahr übertreffen die entscheidenden Wirtschaftsdaten immer
noch nicht die vormals erreichten Werte. So lag die
Industrieproduktion in den USA im April zwei Prozent unter
dem abgeschwächten Vorjahreswert. Im Euro-Raum sieht es
ähnlich aus. Die Kapazitätsauslastung bewegt sich bei 75
Prozent in den USA, im Euro-Raum ist eine rückläufige Tendenz
auf 80 Prozent absehbar. Die Bruttoanlageinvestitionen fielen
im Mai in den USA sogar um 7,3 Prozent zurück, im Euro-Raum
um 2,4 Prozent. Allen zweckoptimistischen Verheißungen
zuwider bleibt ein Konjunkturaufschwung, der die Bezeichnung
verdient, aus. 2003 soll es dann soweit sein mit
Wachstumsraten von bis zu drei Prozent. Aber befinden wir
uns nicht womöglich schon längst im fortgeschrittenen
Anfangsstadium einer nachhaltigen weltweiten
Stagnation?
Diese Frage zielt auf die kurzfristige Konjunkturbeurteilung. Sie
ist, wie ich ausführte, schwieriger als die Langfristprognose,
aber es läßt sich doch zeigen, daß die vorherrschende
Schönfärberei der Lage auch etwas mit falscher
Wirtschaftstheorie zu tun hat. Von den älteren bewährten
Konjunkturtheoretikern wurde als Faustformel vertreten, daß
die Ursache des konjunkturellen Abschwungs der
vorhergehende Aufschwung ist. Dies ist die Ansicht von Juglar
im 19. und Schumpeter im 20. Jahrhundert. Diese Sicht
bedeutet auch, daß ein starker, durch Überoptimismus
gesteigerter Aufschwung dann auch in einen entsprechend
langen, tiefen Abschwung mündet. In Anlehnung an diese
Erkenntnis war für mich bereits im Sommer 2001 klar, daß der
Niedergang der amerikanischen »new economy« frühestens
2003 von einer neuen, verhaltenen Aufwärtsentwicklung
abgelöst werden würde. Ich vermute, daß wir im laufenden
Jahr gerade in den USA und beim US-Dollar noch fatale
Überraschungen erleben werden.
F: Worin könnten die bestehen?
Seit langem ist bekannt, daß der Dollar überbewertet ist, und
entsprechend unterbewertet sind verschiedene andere
Währungen, so auch der Euro. Nach dem Lehrbuch müßte der
Dollarkurs wegen des seit mehr als 20 Jahren bestehenden
Leistungsbilanzdefizits der USA einer fortlaufenden
Abwertungstendenz unterliegen. Bisher hat sie sich noch nicht
durchgesetzt, weil es erhebliche - nicht zuletzt auch politische
und psychologische - Gegenkräfte gab. Doch irgendwann
lassen sich die ökonomischen Gesetze nicht mehr unterlaufen.
Es könnte in den nächsten zwölf Monaten zum Absturz des
Dollars kommen - auf ein Umtauschverhältnis von einem Euro
zu 1,20 oder auch 1,30 Dollar. Was das für den Export der
OECD-Länder in die USA sowie die steigende Exportfähigkeit
der US-Industrie bedeutet, ist leicht auszumalen. Die
weltweite Krise würde zur Katastrophe eskalieren können.
F: Der entscheidende Faktor der Wirtschaftsentwicklung im
Kapitalismus bleibt die Steigerung der Produktivität.
Rationalisierte Produktionsverfahren erlauben höheren
Stückzahlausstoß bei gleichem oder sogar verringertem
Arbeitsaufwand. Die Stückkosten sinken und verschaffen dem
einzelnen Kapitalisten eine günstigere Position im
Konkurrenzkampf. Die gängigen Rezepte - noch mehr
Kostensenkung insbesondere im Lohnbereich - verschärfen die
Problemlage beim Beschäftigungsstand und damit die
Einnahmekrise der Sozialversicherungssysteme, die vom Zufluß
der Bruttolohnbestandteile gespeist werden. Staatlich
subventionierte Billigjobs auf Sozialhilfeniveau sollen den
Rationalisierungsopfern nun aus der »Hängematte« helfen.
Welche Gesellschaft wird da angesteuert, wo
Arbeitszeitverkürzung tabuisiert wird und das Ziel der
Vollbeschäftigung zur Farce gerät?
Nein, ich sehe in der Produktivität nicht den entscheidenden
Faktor, sondern im Wachstum. Es gibt Wachstum mit und ohne
Produktivitätssteigerung. Allerdings ist es richtig, daß seit etwa
zweihundert Jahren Wachstum und Produktivität eng
miteinander verbunden waren. Es gehört zu den
Widersprüchen des Systems, das der technische Fortschritt
weder allen noch gar allen gleichmäßig zugute kommt, sondern
Gewinner und Verlierer auseinanderdividiert werden, sofern
keine sozialstaatliche Intervention erfolgt. Dies war in den
ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall, aber
jetzt - nach Ende des Ost-West-Konflikts - wird von der
Kapitalseite nicht mehr viel Rücksicht auf soziale Belange
genommen. Deshalb schlägt die ja schon immer bestehende
Tendenz, die Löhne zu drücken, viel stärker durch. Daß bei
hohen Arbeitslosenzahlen die gewerkschaftliche Gegenwehr
viel schwieriger ist, bedarf keiner besonderen Erläuterung.
F: Greift Gewerkschaftspolitik aber nicht zu kurz, wenn man
sich mit Lohnanpassungen von zirka drei Prozent für den
Zeitraum von zwei Jahren zufriedengibt, anstatt, wie von der
Memorandum-Gruppe gefordert, weitere
Arbeitszeitverkürzungen anzustreben, die allerdings einer
flankierenden Arbeitszeitgesetzgebung bedürfen?
Was Gewerkschaften wollen und wünschen und welche
wirtschaftstheoretische Realitätssicht sie haben, ist eine
Sache, und was sie unter jeweiligen historischen Verhältnissen
politisch durchsetzen, ist eine andere. Hierbei spielten nicht
zuletzt die Kampfbereitschaft der Mitglieder eine Rolle. Die
Kampfbereitschaft ist selbst wiederum von verschiedenen
Faktoren, wie der Dauer des bisherigen Lohnverzichts und der
ausbleibenden Beschäftigungszunahmen, der
innergewerkschaftlichen Aufklärung und Mobilisierung, der
Einstellung der Öffentlichkeit zum gewerkschaftlichen
Forderungskatalog und so weiter, abhängig. Überblickt man
die lange Geschichte des gewerkschaftlichen Kampfes seit dem
19. Jahrhundert, so steht meines Erachtens aber außer Frage,
daß die entscheidende Stärke im Selbstbewußtsein der
Mitglieder und darüber hinaus aller abhängig Beschäftigten
besteht. Hier haben die Gewerkschaften eine fundamentale
Erziehungsaufgabe oder besser gesagt: Es geht um
Selbsterziehung zwecks Selbstbewußtseins der arbeitenden
Menschen.
F: In Ihrem Buch »Zukunftswissen« vertreten Sie den
Standpunkt, daß die bestehende hegemoniale Struktur mit den
USA als militärisch dominanter Führungsmacht nicht von Seiten
der »armen Hemisphäre«, wo vier Fünftel der Weltbevölkerung
leben, verändert werden kann. Eher dürften die
Verschiebungen innerhalb der OECD, dem Block der »reichen
Länder«, ablaufen, was nicht unbedingt in eine hellere Zukunft
weisen muß. Ohne den Zufluß überschüssigen Kapitals von
außen in die USA wäre der spezifische Aufschwung der 1990er
Jahre dort nicht möglich gewesen. Die US-Gesellschaft lebt
großenteils auf Pump. Das mag angehen, solange sichere
Kapitalanlage vor allem in Staatspapieren winkt. Ist mit
Umständen zu rechnen, die ökonomisch einen Bruch erzwingen
und eine verschärfte Krisensituation hervorrufen?
Nach der Lehrbuchökonomie sind die USA längst pleite. Aber
»Vasallen« müssen einem mächtigen Kaiser wohl so lange
Kredit gewähren, als sie auf seinen Schutz angewiesen sind,
aber auch seine politische und militärische Stärke zu fürchten
haben. Diese metaphorische Antwort mag verdeutlichen, wie
ich die Lage einschätze.
*) Ptolemäus, antiker Astronom und Mathematiker, lebte von
90 bis um 160 in Alexandria. Sein bis Kopernikus (1473-1543)
maßgebendes Weltsystem sah in der Erde den Mittelpunkt des
Alls.
Interview: Hubert Zaremba
Das Interview war veröffentlicht in der jungen Welt, 29. Juni 2002
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