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Darf Indien Hunger bekämpfen?

Streit über Ernährungssicherheit zum Auftakt der WTO-Ministerkonferenz

Von Andreas Behn, Denpasar *

Begleitet von Protesten, ist am Dienstag auf der indonesischen Insel Bali die 9. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) eröffnet worden.

Vier Tage lang verhandeln Delegierte aus 159 Staaten über neue Regeln für den Welthandel. WTO-Chef Roberto Azevedo appellierte bei der Eröffnung der Ministerkonferenz am Dienstag an die Teilnehmer, mit Kompromissbereitschaft und politischem Willen einen Konsens über das sogenannte Bali-Paket zu erzielen. Es umfasst drei Bereiche: vereinfachte Zollrichtlinien, Veränderung der Subventionsrichtlinien im Agrarbereich sowie Ausnahmen für die ärmsten Staaten. Es wäre »das erste multilaterale Handelsabkommen und würde die Wirtschaft in allen Ländern stärken, insbesondere in den armen Staaten«, erklärte Azevedo. Der Brasilianer, der seit September als erster Lateinamerikaner der WTO vorsteht, verspricht eine Stärkung des Welthandels in Höhe von einer Billion US-Dollar jährlich und die Schaffung von Millionen neuer Arbeitsplätze.

Kritiker der WTO sehen das anders. Mit Slogans und Transparenten forderten sie die Delegierten auf, die Position Indiens in dieser Frage zu respektieren. 25 Kilometer vom Konferenzzentrum entfernt, im Zentrum von Balis Hauptstadt Denpasar, demonstrierten am Vormittag gut 1000 Globalisierungskritiker. Ein internationales Bündnis von sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen hatte zu dem Protest aufgerufen. »Kein einziges der WTO-Abkommen nützt den Menschen in Indonesien. Die Freihandelspolitik bedeutet für uns, die Bauern und die Armen, nur weitere Marginalisierung«, sagte Sandy Ame vom Organisationskomitee des Jugendprotestcamps bei der Abschlusskundgebung.

Die Aktivisten treten für die Abschaffung der WTO ein und fordern ein Handelssystem, das ökologische und soziale Interessen berücksichtigt. Der WTO gehe es nur um endloses Wirtschaftswachstum und bessere Handelsbedingungen für transnationale Konzerne, kritisierte der früheren bolivianische UN-Botschafter Pablo Solon. »Diese Philosophie vertritt sie seit 18 Jahren, ohne dass dies die Lage der Länder des Südens verbessert hätte.«

Momentan wird die Gruppe der 46 Entwicklungsländer mit großer bäuerlicher Bevölkerung und vor allem Indien dafür verantwortlich gemacht, dass die Verhandlungen über das Bali-Paket stocken. Die indische Regierung beharrt darauf, staatliche Nahrungsmittelreserven zu bilden, um seine Bevölkerung in Krisenzeiten mit billigen Lebensmitteln zu versorgen. Solche Ein- und Verkäufe zu festgelegten Preisen gelten nach bisherigen WTO-Regeln als Subventionen und sind daher nur in eng begrenztem Rahmen erlaubt. Mitglieder von Gewerkschaften und Bauernorganisationen aus über 30 Ländern, die nahe des Konferenzzentrums demonstrierten, forderten die Delegierten auf, die Position Indiens zu respektieren.

»Indien hat das Recht, staatliche Maßnahmen zur Ernährungssicherheit und gegen Hunger zu ergreifen«, betonte auch der Handelsexperte Heinz Fuchs von der Hilfsorganisation Brot für die Welt. »Dass insbesondere Industriestaaten, unter ihnen auch Deutschland, jetzt direkten Druck auf die indische Regierung ausüben, ist aus entwicklungspolitischer Sicht unverantwortlich.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013


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