Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

WTO-Verhandlungsrunde in Genf zusammengebrochen

NGOs: Kein Ergebnis ist besser als ein schlechtes - WTO braucht neuen Kurs

Vom 27. - 29. Juli 2005 tagte in Genf der Allgemeine Rat der WTO, das zweithöchste Gremium der Welthandelsorganisation (WTO). Die WTO-Konferenz soll die Verhandlungspositionen in den zentralen Themenfeldern Dienstleistungsabbkommen GATS, Landwirtschaft und Industriezölle vorbereiten und damit die ins Stocken geratenen WTO-Verhandlungen wieder in Fahrt bringen.
Im folgenden dokumentieren wir zwei Tagebucheintragungen über die laufenden Verhandlungen. Sie finden sich auf der Homepage von WEED - Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V. (www.weed-online.org). Im Anschluss daran einen Artikel des Europaabgeordneten Helmut Markov, worin er grundsätzliche Fragen über die Zukunft der WTO aufwirft. Und am Ende noch ein Interview mit einem Aktivisten von Attac vor Ort.



WTO Tagebuch aus Genf: Null Punkte für Entwicklung

28.07.2005: WTO-Ratstreffen bisher ohne Fortschritte - Interessen der Entwicklungsländer weiter ignoriert - NGO-Proteste vor Ort

Schon im Vorfeld des Treffens wurde deutlich, dass in Genf kaum Fortschritte zu erwarten sind. Die Interessen der Entwicklungsländer werden auch nach dem Scheitern von Cancún marginalisiert, von Seiten der EU und anderer Industrieländer werden in Genf keine substantiellen Zugeständnisse erwartet. Die Konflikte liegen derzeit vor allem im Bereich Marktzugang der Landwirtschaft als auch bei Zollsenkungen für nicht-agrarische Güter (NAMA). Hauptstreitpunkt der momentanen Verhandlungen sind die Formeln, mit den die Zölle in beiden Bereichen gesenkt werden sollen.

Zahlreiche Entwicklungsländer sehen ihre Interessen in den Vorschlägen für weit reichenden Zollabbau nicht vertreten. So finden Vorschläge zur Sonderbehandlung von Entwicklungsinteressen (Special and Differential Treatment) kaum Berücksichtigung. Darüber hinaus zeigt sich die EU noch immer enttäuscht vom schleppenden Fortschritt in den GATS-Verhandlungen. Mit einem Vorschlag über neue Verhandlungsmodalitäten, in denen sie Mindestanforderungen ("benchmarks") für Liberalisierungszugeständnisse fordert, hat die EU den Druck vor allem auf die wirtschaftlich stärkeren Entwicklungsländer erhöht.

Die Tagung des Allgemeinen Rats im Sommer letzten Jahres brachte mit dem so genannten "Juli-Paket" und weitreichenden Vereinbarungen in den wichstigsten Verhandlungsbereichen wieder Fahrt in die laufende WTO-Runde. Weitere Fortschritte wurden auch von dem jetzigen Treffne erwartet. Aufgrund massiver Gegensätze - vor allem in den Bereichen Landwirtschaft und Industriezölle - beschränken sich die Ergebnisse, die erzielt wurden, auf magere Fortschritttsberichte.

Über 300 Vertreter von NGOs und soziale Bewegungen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa nehmen an einem Gegenforum ("General Council of the Peoples") teil, um gegen die menschenverachtende Politik der WTO zu protestieren. Neben Seminaren und Strategietreffen werden Demonstrationen vor dem Hauptsitz der WTO am Genfer Seeufer den Protesten Nachdruck verleihen. Für die NGOs und sozialen Bewegungen wäre ein erneutes Scheitern der WTO ein weiteres Indiz für die Delegitimierung einer Organisation, die den Interessen der Unternehmen aus dem Norden Vorrang vor der Durchsetzung der Menschenrechte und der Bekämpfung der Armut einräumt.

Für den heutigen Nachmittag [28. Juli] wird eine Pressekonferenz des EU-Handelskommissars Peter Mandelson mit Spannung erwartet. Gerüchten in Genf zufolge wird die EU versuchen, ihr Image als Blockierer und Hardliner in den Verhandlungen durch Zugeständnisse an die ärmsten Länder (LDCs) aufzubrechen. Am Freitag werden sich zudem die Minister der G10 (der Gruppe der agrarprotektionistischen Staaten) zu weiteren Beratungen treffen. Die Verhandlungsführung im WTO-Generalsekretariat hat allerdings bereits klargestellt, dass die Beratungen in Genf keinesfalls bis ins Wochenende verlängert werden, nur um einen noch so kleinen Verhandlungserfolg vorweisen zu können.

29.07.2005: WTO-Verhandlungsrunde zusammengebrochen - NGO-Proteste in Genf fortgesetzt - EU will Druck verstärken

Gestern und auch heute werden in Genf die Proteste der NGOs und der sozialen Bewegungen fortgesetzt. Vor dem Gebäude der EU-Delegation wurde eine überdimensionale Peter Mandelson-Marionette von einem Vertreter der EU-Wirtschaft an der Leine geführt. Die Proteste richteten sich mit dem Slogan "Stop the EU Corporate Trade Agenda" gegen die Handelspolitik der EU, die Konzerninteressen Vorrang vor Menschen und Umwelt einräumt und Konzernen privilegierten Zugang zu Entscheidungsprozessen gewährt. Für diese Aktion des europäischen Netzwerks "Seattle-to-Brussels Network", ein Zusammenschluss europäischer NGOs und sozialer Bewegungen, stellte WEED ein Briefing zur "Corporate Trade Agenda" der EU zusammen. Attac plant für heute vormittag parallel zur Sitzung des Verhandlungskomittees weitere Aktionen und Proteste vor dem WTO-Hauptsitz, zudem wird die tägliche Mahnwache vor den WTO-Toren fortgesetzt. Auch für den nächsten Allgemeinen Rat der WTO im Oktober sind bereits größere Proteste geplant.

Vertreter der Zivilgesellschaft begrüßten den erneuten Zusammenbruch der Verhandlungen. Die EU betreibe Augenwischerei, wenn sie anderen die Schuld dafür in die Schuhe schiebt. Es ist offensichtlich, dass die EU nicht zu substantiellen Zugeständnissen bereit ist, die Entwicklungsländern endlich faire und gerechte Handelschance einräumen. Gibt sie diese Position nicht auf, wird die WTO-Verhandlungsrunde in Hongkong endgültig vor die Wand fahren.

In Genf setzt sich die Erkenntnis durch, dass die WTO-Verhandlungen praktisch zusammengebrochen sind. Ein ergebnisloses Ende der Verhandlungen wird für 13 Uhr erwartet. So ist in den Berichten der Verhandlungsführer der Arbeitsgruppen zu Landwirtschaft und Industriegütern (NAMA) noch immer von Stillstand die Rede. In einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz kündigte der bereits wieder abgereiste EU-Handelskommissar Peter Mandelson gestern nachmittag an, den Druck auf die Verhandlungsparteien nach der Sommerpause deutlich zu erhöhen. Mandelson forderte einen "Paradigmenwechsel" in den Verhandlungen, der auf gleichzeitige Fortschritte und Zugeständnisse in den Hauptthemen abzielt. Zugeständnisse der EU kündigte er dagegen nicht an. Gerüchten zufolge soll auch der designierte WTO-Generalsekretär Pascal Lamy ab September als Vermittler stärkeren Einfluss auf informelle und formelle Entscheidungen nehmen. Für Entwicklungsländer wird dies bedeuten, dass sie weiterhin als die "Blockierer" in den Verhandlungen dargestellt werden, wenn sie ihre legitimen entwicklungspolitischen Anliegen vertreten sehen wollen. Geht es nach der EU, wird ab September ein zügigerer Verhandlungsverlauf erwartet. Auf dem nächsten Allgemeinen Rat der WTO, der im Oktober in Genf stattfinden wird, will sie die Weichen für Hong Kong gestellt sehen. Trotzdem gilt: Kein Ergebnis ist aus Sicht vieler Entwicklungsländer sicher besser als ein schlechtes.

Quelle: WEED-Homepage: www.weed-online.org


WTO braucht neuen Kurs

Von Helmut Markov*

Der alte Kapitän tritt ab. Ein neuer übernimmt das Kommando. Seine Aufgabe wird darin bestehen, den schwer zu manövrierenden Ozeanriesen halbwegs unbeschadet durch die stürmische See zu bringen. Wenn der Franzose Pascal Lamy am 1. September dem Thailänder Supachai Panitchpakdi im Amt des Generaldirektors der Welthandelsorganisation (WTO) nachfolgt, ist völlig offen, wohin die Reise des Handelskolosses wirklich gehen wird. Fest angepeilt ist zumindest der »duftende Hafen« – wie die Chinesen Hongkong nennen –, in dem sich Vertreter der 148 Mitgliedstaaten Mitte Dezember zur 6. WTO-Ministerkonferenz treffen werden. Was ist nun zu erwarten vom neuen Chef und vom bevorstehenden Gipfel?

»Die WTO ist eine mittelalterliche Organisation. Die Entscheidungsverfahren müssen überarbeitet werden.« Mit diesen Worten bewertete der damalige EU-Handelskommissar Lamy am 14. September 2003 das Scheitern der WTO-Verhandlungen im mexikanischen Cancún. Kein Wort verlor er zu der kompromisslosen Haltung der Industrieländer – also auch der Europäischen Union – gegenüber den Anliegen der Schwellen- und Entwicklungsländer, kein Wort zur Ministererklärung, die einen Affront gegenüber den Entwicklungsländern darstellte und mit der ein Scheitern der Konferenz programmiert war. Doch Lamy hatte nicht ganz unrecht: Die WTO steckte in einer Krise. Ihr öffentliches Ansehen hatte erheblich gelitten. Weltweit protestierten Betroffene – unterstützt von Nichtregierungsorganisationen und Linksparteien – gegen die ungleiche Machtverteilung in der Welthandelspolitik.

Nun übernimmt mit Lamy ein ausgemachter Verfechter für die weitere und womöglich beschleunigte Liberalisierung von Märkten die Führung der WTO. Indessen haben die Handelsauseinandersetzungen innerhalb der Organisation nicht etwa abgenommen, sondern sind an Zahl und Härte deutlich angestiegen. Das Selbstbewusstsein der 21 Schwellen- und Entwicklungsländer, allen voran China und Brasilien, die sich in Cancún zu den so genannten G21 zusammenschlossen, hat wie ihre Wirtschaftskraft weiter zugenommen. Ihr Drängen auf die nordamerikanischen und europäischen Märkte ist entsprechend aggressiver als noch vor zwei Jahren. Und wer will es ihnen verwehren? Die Praxis all zu üppiger Agrarexportsubventionen, mit denen Teile der Landwirtschaft in den Industrieländern am Leben gehalten werden, um die heimische vor der billigeren Produktion in den Entwicklungsländern zu schützen, ist gescheitert.

Der Gipfel in Hongkong muss ein Erfolg werden. Der neue WTO-Generaldirektor braucht ihn fürs Image. Für die Welthandelsorganisation selbst würde ein erneutes Scheitern weitaus schwerwiegendere Folgen haben. Zu häufig ist die WTO in ihrer zehnjährigen Geschichte auf Grund gelaufen, wenn es darum ging, Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten und Blöcken auszuhandeln, von denen alle Beteiligten profitieren. So stand denn auch die Vorbereitung der Ministerkonferenz im Mittelpunkt der heute zu Ende gehenden Zusammenkunft des Generalrates der WTO. Gibt es im Dezember keine Einigung, drohen längst überwunden geglaubte bilaterale Abkommen zwischen Staaten und Blöcken wieder den Platz der multilateral agierenden WTO einzunehmen. Gerade vor diesem Hintergrund sollte der jetzige EU-Handelskommissar Mandelson, der in Hongkong für alle EU-Mitgliedsstaaten sprechen wird, seinem Amtsvorgänger bei der Suche nach Kompromissen behilflich sein – indem er sich anders als Lamy in Cancún 2003 auf die Schwellen- und Entwicklungsländer zubewegt, anstatt auf europäischen Forderungen zu beharren. Das Verhandlungsmandat, mit dem Mandelson erneut antreten will, hat bereits 1999 in Seattle maßgeblich zu den bekannten Fehlschlägen beigetragen. Wiederholte Forderungen aus dem Europäischen Parlament nach einem neuen Mandat verhallten allerdings wie so oft in den langen Fluren der Brüsseler Kommission. Der Leck geschlagene Tanker WTO muss endlich Kurs auf einen fairen und nachhaltigen Welthandel nehmen.

* Helmuth Markov (PDS) ist Mitglied im Ausschuss für internationalen Handel des Europäischen Parlaments.
Dieser Beitrag wurde am 29. Juli 2005 in der Tageszeitung "Neues Deutschland" veröffentlicht.



"Es gab keinen Kompromiß"

ATTAC-Aktivisten demonstrierten vor WTO-Gebäude in Genf. Verhandlungen wurden abgebrochen. Ein Gespräch mit David Hachfeld* (Interview: Peter Wolter)

F: Sie haben mit etwa 50 weiteren ATTAC-Aktivisten in Genf während der letztlich gescheiterten Tagung des Rates der Welthandelsorganisation (WTO) demonstriert. Wurden Ihre Bedenken gegen die WTO-Politik von den Teilnehmern der Tagung ernst genommen?

Wir hatten vor dem Eingang des WTO-Gebäudes ein Banner mit der Aufschrift aufgestellt: »Break the neoliberal consenus – shut down the WTO« (Brecht den neoliberalen Konsens – schafft die WTO ab). Außerdem hatten wir ein Tor errichtet, das den »neoliberalen Konsens« darstellte. Damit standen die herauskommenden Delegierten vor der Wahl, entweder durch das Tor zu treten und die Doktrin des Freihandels zu vertreten, oder das Tor zu umgehen und symbolisch eine gerechte Alternative zum neoliberalen Kurs der WTO zu wählen.

F: Welchen Weg wählten sie?

Einige liefen gelangweilt durch die Gegend, es gab aber auch einige, die sich auf Gespräche mit uns einließen. Zwei liefen ganz bewußt durch das Neoliberalismus-Tor. Viele andere jedoch gingen um das Tor herum – und denen haben wir natürlich zugejubelt.

F: Was war der Anlaß des Treffens und was der Grund des Scheiterns?

Die WTO hat versucht, mit dieser Tagung die Weichen für die Ministerkonferenz in Hongkong (13.–18. Dezember) zu stellen. Letztlich ging es um mehr Freihandel und um den Zugang zu den Märkten im Norden wie im Süden. Wir fordern statt dessen eine Politik, die sich an kleinbäuerlicher und nachhaltiger Landwirtschaft orientiert. Gescheitert ist die Tagung daran, daß die Positionen der Verhandlungspartner zu weit auseinander lagen. Ein Kompromiß war nicht in Sicht, nicht zuletzt auch deswegen, weil EU und Industrieländer nicht bereit waren, von ihren Positionen abzugehen.

F: Es standen also die Industrieländer den Entwickungsländern gegenüber?

Das muß man differenziert sehen. Es gibt Entwickungsländer, die Agrarexporteure sind, andere wiederum sind auf Agrarimporte angewiesen. Da gibt es unterschiedliche Interessen.

F: Welche Rolle spielt bei diesen WTO-Verhandlungen die EU, welche die BRD?

Die BRD tritt dort nicht mit eigener Stimme auf. Sie beeinflußt aber indirekt sehr wohl die Verhandlungspositionen der EU-Kommission. Und die tritt als Hardliner auf, das heißt, sie ist in keiner Weise bereit, den Kurs der WTO zu ändern. Die EU fordert auch, daß die Märkte im Süden für die europäischen Dienstleistungskonzerne geöffnet werden.

F: Wie reagierten die Demonstranten, als das Scheitern bekannt wurde?

Es gab natürlich Jubel. Es hatte sich allerdings bereits in den letzten Tagen abgezeichnet, daß es zu keinem Abschluß kommen würde. Wir hoffen, daß es weitere Verzögerungen gibt und daß am Ende die Hongkong-Konferenz platzt.

* David Hachfeld ist Experte für Welthandel in der WTO-Arbeitsgemeinschaft von ATTAC-Deutschland

Aus: junge Welt, 30. Juli 2005



Zurück zur Seite "Globalisierung"

Zurück zur Homepage