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Brot für neun Milliarden

Die Weltbevölkerung wächst. Wer aber bringt begrenzte Ressourcen und Bedürfnisse dieses Wachstums in Einklang?

Von Ulrich Sommerfeld *

Das seit Beginn der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu beobachtende Bevölkerungswachstum stellt eines der wichtigsten globalen Probleme dar. Klimawandel, Biokraftstoffe, Nahrungsmittelsicherheit und kapitalistische Globalisierung bilden den Kontext, in dem die Menschheit ihre eigene Reproduktion mit Sorge betrachten muß. Die Weltbevölkerung wächst derzeit mit einem alarmierenden Tempo – um etwa 78 Millionen Menschen pro Jahr. Das entspricht einer Bevölkerungswachstumsrate von 1,2 Prozent.

Nach Angaben der UNO wurde die Grenze von sechs Milliarden Menschen im Jahre 1999 überschritten. 2006 lebten 6,7 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Nach derzeitigen Berechnungen von Experten wird die Bevölkerung 2050 mehr als 9,2 Milliarden Menschen umfassen.

Unsere Erde ist jedoch ein relativ kleiner Planet mit beschränkten Brenn- und Rohstoffressourcen. Seine landwirtschaftlichen Nutzflächen sind – gerade unter dem Klimaaspekt betrachtet – kaum ausweitbar. Sauberes Trinkwasser ist bereits jetzt eine äußerst knappe Ressource. All dies ist realistisch betrachtet mit einem unbegrenzten Bevölkerungswachstum nicht vereinbar. Deshalb sind die Bevölkerungsfrage und die sich daraus ergebenden Konsequenzen ein akutes und umfassendes Problem der Gegenwart und nahen Zukunft.

Koloniale Ausbeutung

Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die demographische Entwicklung in den Kolonien und Halbkolonien durch den traditionellen Typ der Reproduktion der Bevölkerung geprägt. Es bestand ein relatives Gleichgewicht zwischen Sterblichkeit und der Geburtenhäufigkeit. Das verhinderte im Rahmen der Agrargesellschaften übermäßiges Bevölkerungswachstum. Die Bevölkerungsreproduktion entsprach den traditionellen Wirtschaften und der rückständigen Entwicklung der Produktivkräfte. Dieses Gleichgewicht auf niedrigem Level wurde erst mit der Unterordnung der Regionen unter den kapitalistischen Profit- und Kapitalverwertungsprozeß aufgehoben.

An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts transplantierten entwickelte kapitalistische Staaten moderne Industrien und landwirtschaftliche Produktionen in die heutigen Entwicklungsländer. Es entstanden Sektoralwirtschaften mit Enklaven der Rohstoffproduktion und landwirtschaftlicher Monokulturen. Diese dienten und dienen ausschließlich den kapitalistischen Industrien auf der Nordhalbkugel der Erde.

Um den Kapitalverwertungsprozeß zu sichern, schufen die Industriestaaten entsprechende Infrastrukturen, einschließlich eines Gesundheitswesens. Das blieb nicht ohne Folgen für die demographische Entwicklung. Das Zentrum des gegenwärtigen Bevölkerungswachstums oder besser der Bevölkerungsexplosion liegt seit mehreren Jahrzehnten ausgerechnet in jenen Staaten und Regionen, die jahrhundertelang koloniale Ausbeutung und Unterdrückung erlitten. Diese tragen auch heute noch viele Merkmale der Unterentwicklung.

Kernfrage Verteilung

Um 1900 lebten in diesen Weltregionen etwa eine Milliarde Menschen. 1960 waren es bereits etwa zwei Milliarden. Heute drängen sich dort mehr als 5,4 Milliarden Individuen – 2050 werden es etwa 7,9 Milliarden sein – mit allen Konsequenzen einer ungezügelten und lediglich dem Profitinteresse untergeordneten Entwicklung.

Das wesentliche Problem des demographischen Wandels besteht darin, daß eine angemessene oder ausreichende Befriedigung der Bedürfnisse der schnellwachsenden Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln, Energie und Rohstoffen unter kapitalistisch-marktwirtschaftlichen bzw. profitorientierten Bedingungen die natürlichen Potentiale der Erde – und insbesondere die Umwelt – zunehmend belasten. Die grundlegende Frage lautet folglich: Ist die Menschheit in der Lage, alle für ihre weitere Entwicklung notwendige Ressourcen zu sichern? Oder entsteht in Zukunft eine dramatische Ressourcenknappheit? Diese Knappheit ist schon deshalb wahrscheinlich, weil sie aus dem Widerspruch zwischen der relativen physischen Begrenztheit der Erde und der bestehenden Produktionsweise resultiert.

Deshalb ist die Frage, ob es gelingt, ein Gleichgewicht zwischen den beschränkten globalen Möglichkeiten und dem rasanten Bevölkerungswachstum zu erreichen, völlig offen. Eine Lösung dieses komplexen Problems ist bisher nicht in Sicht. Migrationsbewegungen, Klimawandel, Zerstörung der Urwälder, Überfischung der Meere und Konflikte um Rohstoffe, Land oder Wasser sind nur einige Erscheinungen, die das Dreiecksverhältnis von Produktionsweise, Bevölkerungsentwicklung und Umwelt dokumentieren.

* Aus: junge Welt. 26. März 2007


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