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Neoliberale Geopolitik

Militärische Absicherung der Globalisierung

Von Jürgen Wagner*

Der Krieg gegen den Irak war der endgültige Schritt über den Rubikon: Er war nicht nur der erste Anwendungsfall der interventionstischen Bush-Doktrin nebst Präventivkriegskonzept, sondern repräsentiert auch den Übergang von einer bis dato primär informellen zu einer offen imperialistischen amerikanischen Außenpolitik. Dass dies zu einem Zeitpunkt geschieht, an dem die Widersprüche der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung immer offensichtlicher zutage treten, ist beileibe kein Zufall. Für den intellektuellen Kopf der "neoliberalen Geopolitik", den Pentagonberater und Professor am US Naval War College, Thomas P. Barnett, markiert der amerikanische Angriffskrieg vielmehr einen "historischen Wendepunkt – den Moment, in dem Washington von der strategischen Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung tatsächlich Besitz ergreift." Zwei zentrale Merkmale neoliberaler Geopolitik sollen in diesem Artikel herausgearbeitet werden: Zum einen, dass die teils heftigen Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und einigen europäischen Ländern nicht über die weitgehende Deckungsgleichheit amerikanischer und europäischer Sicherheitskonzepte hinwegtäuschen dürfen. Denn beide zielen primär auf die westliche Interessen befördernde Durchsetzung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung sowie deren militärische Absicherung ab. Folgerichtig wird derzeit die militärische "Verwendbarkeit" für diesen "Bedarf" erhöht, wie NATO-Oberbefehlshaber James Jones es ausdrückt: "Die Frage ist nicht, wie viele Truppen man hat, sondern wie brauchbar sie sind. Daher strukturieren sowohl die USA als auch die europäischen Staaten ihre Armeen um."

Der zweite wichtige Aspekt ist, dass dabei versucht wird, die Durchsetzung westlicher Ordnungsvorstellungen, in letzter Konsequenz nackter Profitinteressen, als "sicherheitspolitischen Imperativ" umzuinterpretieren. Dieser Imperativ wird aus einer verqueren, aber Kapitalinteressen äußerst dienlichen Sicherheits- und Bedrohungsanalyse abgeleitet, die nicht nur in den USA, sondern auch in Europa den Strategiediskurs dominiert: Ohne die gewaltsame Verbreitung des neoliberalen Weltwirtschaftsmodells – so das derzeit vorherrschende strategische Credo – sei staatliche Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr zu gewährleisten. Trotz der offensichtlich katastrophalen Verarmung, die neoliberale Politiken in der Dritten Welt verursacht haben, propagieren Barnett und seine europäischen Pendants, allen voran Robert Cooper und Herfried Münkler, eine außenpolitische Strategie, die sich nur folgendermaßen zusammenfassen lässt: Ausbeutung ist die beste Sicherheitspolitik. Folgt man dieser Logik, nimmt man nicht nur bewusst fortgesetztes Leid und Elend in der Dritten Welt in Kauf, sondern man treibt auch den Teufel mit dem Beelzebub aus. Denn die vom Neoliberalismus verursachte Verarmung stellt den bei weitem einflussreichsten Risikofaktor für die Eskalation von Konflikten in der Dritten Welt dar. Da aber kein Interesse daran besteht, den konfliktverschärfenden Charakter dieses Systems anzuerkennen und seine Legitimität grundsätzlich in Frage zu stellen, geht dessen Erweiterung Hand in Hand mit der Zunahme militärischer Interventionen, um seine Stabilität garantieren zu können. Deshalb landen führende Vertreter westlicher "Sicherheitspolitik" notgedrungen bei der wahnwitzigen Schlussfolgerung, ein amerikanisches beziehungsweise europäisches Imperium sei die einzige Antwort auf die sicherheitsrelevanten Herausforderungen der Globalisierung. Dem soll abschließend eine alternative Sichtweise entgegengesetzt werden, die zum Ziel hat, die gängige sicherheitspolitische Bedrohungsanalyse vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Neoliberalismus als transatlantische Ideologie Dass die Globalisierung häufig wertfrei als zwangsläufiger Prozess zunehmender internationaler Verflechtung verstanden wird, verfehlt den tatsächlichen Gehalt dieser Entwicklung. Denn worum es tatsächlich geht, ist die gezielte politische Umsetzung einer Strategie, die auf eine maximale Durchsetzung der Marktkräfte setzt und damit nur als neoliberale Globalisierung zu beschreiben ist. Als wesentliche Mittel hierfür fungieren Privatisierung, Deregulierung, Abbau staatlicher Sozialleistungen, Öffnung der Märkte bzw. Freihandel, die von den westlich dominierten Organisationen wie IWF, Weltbank und WTO durchgesetzt werden. Obwohl inzwischen wohl jedem bekannt sein dürfte, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen zu einer massiven Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung geführt hat, ist der Neoliberalismus weiterhin das ideologische Fundament amerikanischer wie auch europäischer Strategiepapiere, eben weil er ein geeignetes Mittel zur Ausbeutung der Dritten Welt darstellt. So propagiert George W. Bush im Vorwort der amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002, es gäbe nur "ein einziges haltbares Modell für nationalen Erfolg: Freiheit, Demokratie und freies Unternehmertum." Entscheidend ist, dass Alternativen zum amerikanischen laissez-faire Kapitalismus nicht geduldet werden: "Es gibt nur eine Wahrheit, die der USA. Alternative Modelle sozialer und politischer Organisation sind nicht nur moralisch falsch, sondern auch eine unzureichende Basis der Weiterentwicklung. [...] Die spezielle Interpretation, der liberalen Religion, die der Präsident befürwortet, ist eine Kreuzzüglerische. Die moralische Pflicht, den Liberalismus zu verteidigen und auszuweiten kennt keine Grenzen. Staatliche Souveränität bietet keine Sicherheit oder Ausrede. Gesellschaften und Staaten sind nicht berechtigt, sich dem Liberalismus zu verweigern. Tatsächlich haben Staaten die moralische Pflicht, nicht nur selber den Liberalismus zu befürworten, sondern ihren Nachbarn Liberalismus aufzuzwingen."

Ähnliche Vorstellungen lassen sich aber auch im EU-Verfassungsvertrag finden, dessen allgegenwärtige Diskrepanz zwischen hehren Zielen und neoliberalen Mitteln von Ulrich Duchrow folgendermaßen zusammengefasst wird: "Zwar wird hier als Hauptziel 'die Bekämpfung und auf längere Sicht die Beseitigung der Armut' festgestellt (III.218). Die Erreichung dieses Hauptziels kann aber nur scheitern, wenn man die zwei fundamentalen Widersprüche ins Auge fasst, die ihm im Rahmen dieser Verfassung entgegenstehen. Der erste besteht in der überragenden, die ganze Verfassung durchziehenden Priorität der Liberalisierung. Denn die Entwicklung von schwächeren Ländern im Rahmen der Weltwirtschaft kann nur mit Hilfe von Schutzmaßnahmen der eigenen Wirtschaft gelingen. Das ist eine Binsenweisheit, die in der Geschichte des Kapitalismus hundertfach belegt werden kann. Der zweite Widerspruch besteht darin, dass die Entwicklungszusammenarbeit im gleichen Artikel III.218 ausdrücklich an die Politik der zuständigen internationalen Organisationen gebunden wird, d.h. u.a. an IWF, Weltbank und WTO. Auch hier ist empirisch feststellbar, dass deren Politik Armut schafft, statt sie zu beseitigen."

Militär, Globalisierung und westliche Profitinteressen Da Konflikte sich negativ auf die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Kapitalinvestitionen und der daraus resultierenden Profitmöglichkeiten auswirken, ist westlichen Großkonzernen (meist) an deren Vermeidung gelegen: "Die unter der Führung der internationalen Wirtschaftsinstitutionen vorangetriebene 'Gloabalisierung' hat dem Finanzkapital neue Horizonte eröffnet, doch macht sie auch den Schutz und die Sicherheit der 'Eigentumsrechte' auf natürliche Ressourcen, auf Land, aber auch der Finanztitel (Aktien, Obligationen, Schuldtitel) notwendig." Diese Überlegung verbirgt sich nicht selten hinter dem Diktum der "gescheiterten Staaten" (failed States), denen mittels westlichem Militär "Stabilität" und "Demokratie" gebracht werden müsse. Der Siemens-Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer benannte diesen Zusammenhang in einem Vortrag vor dem UNO-Sicherheitsrat, mit dem bezeichnenden Titel die "Rolle der Wirtschaft in Konfliktverhinderung und Friedenserhaltung," recht offen. Die Österreichische Militärische Zeitschrift fasst seine Aussagen folgendermaßen zusammen: "Die Wirtschaft könne nur im Kielwasser der Politik schwimmen, Investitionen seien nur möglich, nachdem die Sicherheit gewährleistet ist und die Politik die Rahmenbedingungen geschaffen habe, führte er aus. Die Entwicklung des europäischen Krisenmanagements zeige, dass diese Rahmenbedingungen zumeist durch militärische Operationen zu schaffen waren, in deren Gefolge wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen - zunächst über das Instrument der CIVIC (Civil-Military Cooperation) - erst ermöglicht wurden."

Die Fähigkeit militärisch für Stabilität zu garantieren ist demzufolge eine Grundvoraussetzung für die Realisierung von Profitinteressen. Dies führt zu einem weiteren zentralen Aspekt neoliberaler Geopolitik, der zwar mit Konzerninteressen eng verflochten ist, aber über die unmittelbaren Profitinteressen einzelner Unternehmen weit hinausreicht: Das Interesse an der Ausweitung und Stabilität des neoliberalen Systems als dem einzig zugelassenen Ordnungsmodell. Niemand hat deutlicher formuliert, dass das Militär ein integraler Bestandteil neoliberaler Globalisierung ist, als ihr größter und bekanntester Apologet, der ehemalige Albright-Berater und heutige Chefkolumnist der New York Times, Thomas Friedman. Für ihn beruht die Globalisierung "auf der Macht der USA und ihrer Bereitschaft, sie gegen jene einzusetzen, die das globalisierte System bedrohen – vom Irak bis Nordkorea. Die unsichtbare Hand des Marktes kann ohne eine unsichtbare Faust nicht arbeiten. McDonald’s kann nicht gedeihen ohne McDonell Douglas, die für die US Air Force die F-15 bauen. Die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, dass die Technologie des Silicon Valley blüht, besteht aus dem Heer, der Luftwaffe, der Marine und der Marineinfanterie der Vereinigten Staaten." Der Trick und die eigentliche Neuerung hinsichtlich der Legitimation westlicher Ausbeutungspolitik ist, dass derzeit versucht wird die Ausbreitung und Absicherung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung als sicherheitspolitische Notwendigkeit zu verkaufen. Zwar ist tatsächlich genau das Gegenteil der Fall, dennoch steht dieser Gedankengang im Mittelpunkt der strategischen Überlegungen auf beiden Seiten des Atlantiks, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen.

Die militärische Absicherung der Globalisierung I: Vereinigte Staaten Für Thomas P. Barnett bedeutet Sicherheitspolitik im Zeitalter der Globalisierung, der so genannten "Bedrohungstriade" frühzeitig militärisch zu begegnen. Diese bestehe aus dem Zusammenspiel zwischen der wachsenden Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln, dem Scheitern staatlicher Systeme und daraus resultierend der Zunahme des Terrorismus. Entscheidend ist, dass diese Bedrohungen seiner Auffassung nach ausschließlich in Ländern auftreten, die sich dem westlichen Ordnungsmodell widersetzen. Dagegen gehe von Staaten, die sich um "Demokratie und Freie Märkte" bemühten, keine Gefahr für die Vereinigten Staaten aus. Gerade aus den Erfahrungen des 11. September leitet Barnett damit die Notwendigkeit und das Recht ab, Staaten in der sich "nicht-integrierenden Lücke", die sich nicht in das Schema neoliberaler Globalisierung einpassen (lassen), zur vorbeugenden Gefahrenabwehr militärisch in das neoliberale System einzugliedern: "Verliert ein Land gegen die Globalisierung oder weist es viele Globalisierungsfortschritte zurück, besteht eine ungleich höhere Chance, dass die Vereinigten Staaten irgendwann Truppen entsenden werden. [...] Umgekehrt gilt: Funktioniert ein Land halbwegs im Rahmen der Globalisierung, dann sehen wir in der Regel keine Veranlassung, unsere Truppen zu schicken, um für Ordnung zu sorgen, oder eine Bedrohung zu beseitigen." Dass sich bei genauerer Betrachtung der Großteil der Welt innerhalb von Barnetts "Lücke" wiederfindet, zeigt buchstäblich die Beschränktheit seines Weltbildes.

Diese Überlegungen sind insofern höchst politikrelevant, da sich der vom Pentagon mit der Umstrukturierung des US-Militärs beauftragte Chef des Office of Force Transformation, Arthur K. Cebrowski, primär auf Barnetts Analysen bezieht, weshalb es nicht weiter überrascht, dass sich ihre Ausführungen wie ein Ei dem anderen gleichen: "Es gibt viele Nationen, die innerhalb der Globalisierung funktionieren. Das sind die Staaten, die die Regeln akzeptieren", so Cebrowski. "Wer die Globalisierung bekämpft, wer die Regeln zurückweist [...] wird möglicherweise das Interesse des amerikanischen Verteidigungsministeriums auf sich ziehen." Für ihn müsse das US-Militär folgerichtig künftig als "Systemadministrator" der Globalisierung fungieren. Die Aufgabe der USA sei es, so Barnett und Cebrowski in einem gemeinsamen Artikel, als "militärischer Leviathan" den Regeln der Globalisierung, von ihnen auf die neoliberale Grundformel "Demokratie und freie Märkte" reduziert, Geltung zu verschaffen. Konsequenterweise sind amerikanische Soldaten für Cebrowski "Erzwinger" (enforcer), die "die Normen internationalen Verhaltens durchsetzen."

Das Ziel, die von den USA aufoktroyierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung durchzusetzen und abzusichern, bestimmt demzufolge auch die gegenwärtige Transformation der US-Streitkräfte. Sie orientiert sich im Wesentlichen an dem Bedarf, jederzeit schnell und durchsetzungsfähig militärisch auf Krisen in der sich nicht-integrierenden Lücke reagieren zu können. Zu diesem Zweck sollen künftig zahlreiche kleinere Militärbasen ("lily pads") auf der ganzen Welt eingerichtet werden. Diese Basen verfügen über eine geringe Besetzung, aber ausreichend Kapazitäten für einen schnellen Ausbau im Bedarfsfall, weshalb sich hierfür Häfen und Flughäfen besonders eignen. Weiter wird den neuen Informationstechnologien zur Verbesserung von schneller Verlegefähigkeit und Waffenletalität hohe Bedeutung beigemessen. Da die Administratoren nie wissen, wo sich der nächste Virus einschleicht der bei rascher Verbreitung womöglich zu Systemversagen führen könnte und angesichts der Tatsache, dass ihr neoliberales Weltwirtschaftsmodell anfälliger ist als jedes Bill Gates Produkt, ist die schnellstmögliche Unterdrückung von Krisen und Konflikten das Hauptziel dieser Transformation. Hiermit wandelt sich die bisherige Stationierungskonzeption der US-Streitkräfte in erheblichem Maße: "Die strategische Funktion der Basen ändert sich damit fundamental. Sie besteht nicht mehr darin, das Gastland zu verteidigen, sondern die Standorte dienen als Sprungbrett für Militärinterventionen in Drittländern.[...] Die neuen Kasernen und die darin untergebrachten hochmobilen Kampfeinheiten sind der omnipräsente Ausdruck für die interventionistische Bush-Doktrin."

Dass diese Sichtweise in den USA von linksliberalen humanitären Falken bis hin zu rechtsextremen Neokonservativen geteilt wird, ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern ließ sich bereits in der Frühphase des amerikanischen Imperialismus beobachten: "Damals wie heute zerfallen die Imperialisten in zwei Gruppen: Die eine strebt nach uneingeschränkter, unilateraler amerikanischer Weltherrschaft (gelegentlich ausgedrückt als ‚in die Fußstapfen des britischen Empire treten’), und die andere vertritt einen ‚humanitären’ Zielen verpflichteten Imperialismus." Die Frage, inwieweit diese Politik überhaupt wünschenswert ist, stellt sich heute nicht nur in den USA kaum jemand mehr. Denn diese spezielle Form einer nationalen (Un)Sicherheitsstrategie dominiert tragischerweise auch den Diskurs auf der anderen Seite des Atlantiks.

Die militärische Absicherung der Globalisierung II: Europäische Union Neben der Tatsache, dass sich in der EU-Verfassung der Neoliberalismus als ideologisches Fundament Europas manifestiert, sind insbesondere zahlreiche, teils dramatische Neuerungen im friedens- bzw. militärpolitischen Bereich problematisch. Zu nennen sind hier vor allem die Festschreibung weltweiter EU-Kampfeinsätze sowie eine explizite Aufrüstungsverpflichtung.

Das zweite wichtige Dokument zur EU-Außenpolitik, die im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie (ESS), liefert die Bedrohungsanalyse, mit der diese Militarisierung gerechtfertigt und europäische Sicherheitspolitik unter den Bedingungen der (neoliberalen) Globalisierung gestaltet werden soll. Als Gefahren, denen gegebenenfalls militärisch begegnet werden müsse, kommt der Bedrohungstriade, neben der fast schon obligatorischen Absicherung der Energieversorgung, auch in der ESS (5) eine entscheidende Bedeutung zu: Denn "bei einer Summierung dieser verschiedenen Elemente – extrem gewaltbereite Terroristen, Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen, organisierte Kriminalität, Schwächung staatlicher Systeme und Privatisierung der Gewalt – ist es durchaus vorstellbar, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein könnte." Ebenfalls analog zur amerikanischen Sicherheitskonzeption werden diese Gefahren unmittelbar in Verbindung mit dem Prozess der Globalisierung analysiert: "Im Zeitalter der Globalisierung können ferne Bedrohungen ebenso ein Grund zur Besorgnis sein wie näher gelegene. [...] Die erste Verteidigungslinie wird oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. [...] Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden." (ESS: 6f.) Dankenswerterweise könnten diese Gefahren "nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden" (ESS: 7; Hervorhebung JW), aber eben auch und wohl auch primär. Dass damit auch die Europäische Union implizit eine Präventivkriegsstrategie übernommen hat, ist ebenso bedenklich, wie das gesamte Weltbild, das sich hinter dieser Militarisierung verbirgt.

Viele Aspekte der ESS decken sich mit den Ansichten Robert Coopers, was keineswegs ein Zufall ist, denn sie übernimmt im Wesentlichen einen von ihm verfassten Entwurf. Der Büroleiter des hohen Vertreters Europäischer Außenpolitik, Javier Solana, fordert schon lange einen "liberalen Imperialismus", dessen beide Komponenten von ihm als Grundlage der künftigen europäischen Außenpolitik betrachtet werden: Erstens sei dies "der freiwillige Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normalerweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank ausgeübt." Dieses kaltschnäuzige Bekenntnis zur neoliberalen Globalisierung mitsamt ihren katastrophalen Konsequenzen wird von einer zweiten Komponente ergänzt, die sich mit deren militärischer Absicherung befasst: "Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen – Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden." Dabei ist offensichtlich, dass Coopers „Dschungel“ und Barnetts „Lücke“ ein und dasselbe sind. Kein Wunder also, dass Coopers Konzept von amerikanischer Seite her explizit begrüßt wird: "Coopers Argument richtet sich an Europa und ist richtigerweise verbunden mit der Aufforderung an die Europäer, ihre Verteidigungsfähigkeit 'sowohl physisch als auch psychisch' nicht mehr zu vernachlässigen. Aber was Cooper wirklich beschreibt, ist nicht Europas Zukunft, sondern Amerikas Gegenwart. [...] Die USA handeln bereits gemäß dem doppelten Standard Coopers und auch genau aus den Gründen, weshalb er ihn vorschlägt. Die US-Führer glauben ebenfalls, dass globale Sicherheit und eine liberale Ordnung – ebenso wie Europas 'postmodernes' Paradies – nicht lang überleben können, wenn die Vereinigten Staaten nicht ihre Macht in dieser Hobbesschen Welt, die außerhalb der Grenzen Europas immer noch gedeiht, benutzten."

Die Forderung, dass zukünftig Staaten, die sich nicht an die neoliberalen Spielregeln halten, unter Umständen auch militärisch gemaßregelt werden, findet sich auch in der ESS (10): "Eine Reihe von Staaten hat sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt. Einige haben sich isoliert, andere verstoßen beharrlich gegen die internationalen Normen. Es ist zu wünschen, dass diese Staaten zur internationalen Gemeinschaft zurückfinden, und die EU sollte bereit sein, sie dabei zu unterstützen. Denen, die zu dieser Umkehr nicht bereit sind, sollte klar sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen, auch was ihre Beziehungen zur Europäischen Union anbelangt." Solche Sätze sind als eindeutige Drohungen an all jene Länder zu verstehen, die Coopers Enthusiasmus für den "freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie" aus verständlichen Gründen nicht teilen. Mit dieser militärischen Drohkulisse soll es integrationsunwilligen Ländern nahe gelegt werden, sich an die Spielregeln der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung zu halten. Falls jedoch die von internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank erzeugten Strukturen informeller Herrschaft – Stichwort Strukturanpassungsprogramme – auf so großen Widerstand stoßen oder so erhebliche Armutskonflikte verursacht haben, dass die Legitimität des Gesamtsystems gefährdet ist, wird zum direkten Gewalteinsatz gegriffen. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass amerikanische und europäische Sicherheitskonzepte weit gehend deckungsgleich auf die Ausweitung und Absicherung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung fokussiert sind (siehe Schaubild). So gesehen bietet es sich geradezu an, bei der Umsetzung dieses Vorhabens gemeinsame Sache zu machen. Da neoliberale Geopolitik zudem die Kontrolle von Gebieten für unerlässlich hält, die allein schon aufgrund ihres Ressourcenreichtums für das kapitalistische Wirtschaftssystem von vitaler Bedeutung sind, gilt solchen Regionen die besondere Aufmerksamkeit.

Die NATO und das (neoliberale) Transatlantische Projekt Das auf beiden Seiten des Atlantiks vorhandene Interesse, den "freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie", sprich die westlich-kapitalistische Interessensgemeinschaft, gegen Bedrohungen abzusichern, soll nach Vorstellung zahlreicher Sicherheitspolitiker die künftige Klammer für das westliche Bündnis und ihr ausführendes Organ, die NATO, darstellen. Schon lange bemüht man sich darum die Allianz an die "neuen Herausforderungen anzupassen", wie es so schön heißt: "Mit der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, den die NATO [...] Anfang der 90er Jahre vorgenommen hat, wurde der Nord-Süd-Konflikt, der zweifellos viel mit fehlender globaler Gerechtigkeit und wachsender globaler Ungleichheit der Lebenschancen zu tun hat, als ein 'globales Sicherheitsproblem' re-interpretiert." Durch die Annahme der neuen NATO-Strategie auf dem Washingtoner Gipfel 1999 und den fast gleichzeitig begonnenen Angriffskrieg gegen Jugoslawien wurde die Transformation der NATO zu einem weltweit agierenden Kriegsbündnis der westlichen Demokratien weiter forciert. Da Wohl und Wehe der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung vom Öl des Mittleren Osten abhängt, spielt diese Region heute eine ähnlich zentrale Rolle, wie früher Indien für das British Empire. Logischerweise ist man deshalb sehr darum bemüht, die dortigen Länder vorzugsweise informell über die Integration in das westliche Ordnungsmodell zu kontrollieren. Dabei ist man aber auch durchaus bereit mit militärischer Gewalt nachzuhelfen. So forderte ein überaus einflussreicher Vorschlag, die NATO solle sich einem neuen "Transatlantischen Projekt" widmen, nämlich der "Transformation des Mittleren Ostens". Das Projekt solle "auf eine neue Form der Demokratie hinauslaufen, auf ein neues Wirtschaftssystem, das den Menschen in der Region zu Arbeit und Würde verhilft." Dies sei die einzige Möglichkeit "die dem Terrorismus zugrunde liegenden Ursachen" zu bekämpfen und beinhalte "zweifellos auch eine militärische Komponente", da die gesamte Region unter "einer Krise der Regierbarkeit leidet, die mit der Unfähigkeit seiner Staaten einhergeht, die Herausforderungen der Moderne und der Globalisierung zu bewältigen." Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es namhafte Befürworter dieses Vorschlags. Diese Überlegungen stehen auch hinter der auf dem Prager Gipfel Ende 2002 gefällten Entscheidung des Bündnisses, eine NATO Response Force (NRF) zur weltweiten Durchführung von Präventivkriegen aufzubauen. Die NRF wurde bereits am 15. Oktober 2003 für einsatzbereit erklärt. Seither stehen 9.000 der bis Ende 2006 angestrebten 21.000 Soldaten zur Verfügung, die in kürzester Zeit zum Einsatz gebracht werden können. Die Ziele dieser Truppe liegen auf der Hand: "Die NRF ist der sichtbare Ausdruck der neuen Doktrin des Interventionismus der reichen westlichen Staaten gegen den Rest der Welt. Sie ist mit den Worten des NATO-Oberbefehlshabers James Jones, 'die ultimative und permanente Koalition der Willigen.'" Ungeachtet aller - sicherlich gravierender - innerimperialistischer Spannungen, dominiert also (derzeit noch) das gemeinsame Interesse an einer Ausbeutung des Südens. Es bestimmt sowohl Strategie-, als auch konkrete Militärplanung auf beiden Seiten des Atlantiks.

Drei Vorgänge, ein Gedanke: Von den "lily pads" über die NRF zu den EU-Battlegroups Dieselbe Umstrukturierung wie innerhalb von NATO und US-Armee lässt sich auch in der EU, respektive ihrer Einzelstaaten beobachten. Die ESS (12) benennt Ziele und Bedarf dieses Prozesses: "Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden." Zentral in diesem Zusammenhang ist die im April 2004 erfolgte Entscheidung zum Aufbau so genannter EU-Battlegroups. Diese aus 1.500 Soldaten bestehenden „superschnellen“ EU-Interventionstruppen sollen künftig innerhalb von nur 15 Tagen in einer Krisenregion stationiert werden können. Ein Hintergrundpapier der federführenden Länder (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) bestätigt, dass diese Truppen vollständig auf die Umsetzung neoliberaler Geopolitik ausgerichtet sind. Sie seien "bestimmt für, aber nicht begrenzt auf den Gebrauch für zusammenbrechende oder zusammengebrochene Staaten (von denen sich die meisten in Afrika befinden)." Eine Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik wird hierzu noch deutlicher: "Das Battlegroups-Konzept ist die konzeptionelle und strukturelle Umsetzung des 'Out of Area'-Konzepts der EU. Es dient der Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU in Krisen, die, ohne ein militärisches Engagement, drohen, sich auszuweiten oder außer Kontrolle zu geraten."

Folgerichtig bezeichnete der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, Gustav Hägglund, die Krise im Sudan bereits als prototypisch für künftige Einsätze dieser Battlegroups. Prototypisch ist dabei aber insbesondere, dass ein Mix aus amerikanischen und vor allem deutschen strategischen und ökonomischen Interessen in Kombination mit neoliberaler Ausbeutungspolitik massiv zur Verschärfung der Konflikte im Land beitrug. Dabei geht die steigende Bereitschaft, sich dort militärisch zu engagieren, mit den wachsenden Handelsinteressen Deutschlands im Sudan, aber auch in ganz Afrika einher, wie Der Spiegel zu berichten weiß: „Solche Geschäfte brauchen stabile politische Rahmenbedingungen. Joschka Fischers klare Ansage, man könne Darfur ‚nicht sich selbst überlassen‘, ist deshalb keine Phrase, sondern ein Programm. Ausufernde Unruhen und eine Regierung, die ihren eigenen Staat nicht im Griff hat, sind Gift für profitablen Handel." Gleichzeitig eröffnet ein militärisches Engagement in afrikanischen Konflikten die Möglichkeit, Druck auf die neoliberale Umstrukturierung der Zielländer auszuüben. Die Erweiterung des Einsatzspektrums eröffnet Berlin "neue Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten, vor allem in der Menschenrechtspolitik, Industrie-, Handels- und Währungspolitik, Umweltschutz und Armutsbekämpfung."

Logische Konsequenz verqueren Denkens: Auf dem Weg zum europäischen Imperium Parallel zu dem global reklamierten Geltungsanspruch westlicher Ordnungsvorstellungen wird in den USA inzwischen die Errichtung eines amerikanischen Imperiums und, damit verknüpft, die Verfolgung einer imperialen Strategie, von wichtigen Mitgliedern des außenpolitischen Establishments als conditio sine qua non amerikanischen Wohlstands, aber vor allem auch amerikanischer Sicherheit, propagiert. Allein in den sechs Monaten vor dem Angriffskrieg gegen den Irak fand sich der Begriff "Empire" fast 1.000-mal in US-amerikanischen Zeitungen wieder. So äußerte sich etwa der einflussreiche Neokonservative und ehemalige Wall Street Journal Herausgeber Max Boot folgendermaßen: "Aufgrund der historischen Belastung des Begriffs 'Imperialismus' gibt es für die US-Regierung keine Notwendigkeit ihn zu übernehmen. Aber er sollte definitiv die Praxis bestimmen. […] Dies bedeutet Eigentumsrechte, Rechtssicherheit, freie Meinungsäußerung und andere Garantien durchzusetzen, wenn es sein muss mit Waffengewalt."

Die zuvor beschriebenen gravierenden Überschneidungen der sicherheitspolitischen Analysen wie auch Schlussfolgerungen geben nicht viel Anlass zur Hoffnung, dass Europa auf die Ausübung imperialer Politik verzichten wird. Zumindest nicht, wenn die derzeit dominierende verquere Logik weiter hegemonial den sicherheitspolitischen Diskurs bestimmt. Denn wer nicht bereit ist, die mit heutigen Konflikten elementar zusammenhängende Weltwirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, dem wird wenig anderes übrig bleiben, als diese mittels imperialer Politik abzusichern.

Auch in Europa wird deshalb inzwischen versucht, dem Imperialismusbegriff eine positive Konnotation beizumischen. Exemplarisch hierfür sind die Ausführungen des einflussreichen Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, seines Zeichens einer der Väter der Theorie der Neuen Kriege. Für ihn bedingt das segensreiche, weltumspannende neoliberale System, dass den "Systemadministratoren" ähnlich der Polizei im Inland ein legitimes Gewaltmonopol in Form ihres Militärs zukommt, um den "Sturz ins Chaos" zu verhindern. Für Münkler dienen militärische Interventionen nicht mehr egoistischen einzelstaatlichen Interessen, sondern dem "Gemeinwohl": Krieg wird zu einer Frage der inneren Sicherheit umdefiniert. "Im Gefolge der ökonomischen Imperialismustheorien haben wir uns daran gewöhnt, Imperien mit Unterdrückung und Ausbeutung zu identifizieren. Genauso lassen sich Imperien aber auch als Friedensgaranten, Aufseher über politische und kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen begreifen." Da es im Inland wie im Ausland natürlich Verlierer dieser Ordnung gibt, plädiert Münkler folgerichtig für "die Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern. In diesem Modell gibt es zentrale Regionen, die müssen inkludiert, also territorial kontrolliert werden – das ist zum Beispiel die Golfregion." Offen wird von ihm eine Interventionspolitik Marke "The West Against the Rest" propagiert: "Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, dass an diesen neuen 'imperialen Barbarengrenzen' der Krieg endemisch wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum."

Die Frage, "ob Europa überhaupt die Möglichkeit hat, dem Zwang zur Imperialität zu entgehen," beantwortet sich mit solchen Analysen natürlich wie von selbst: "Irgendwann muss – und wird – Schluss mit der Erweiterung zu Bedingungen der Vollintegration sein. [...] Dann entstehen an den Grenzen Europas jene Gefällestrukturen, die typisch sind für imperiale Machtformen. Deshalb werden wir lernen müssen, die Kategorie des Imperiums in Zukunft [...] vielmehr als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates" zu denken. Den Barnetts, Cebrowskis, Münklers und Coopers auf beiden Seiten des Atlantiks kann nicht entschieden genug widersprochen werden. Denn ihre Analysen sind nur unter einer Prämisse als halbwegs logisch zu bezeichnen: Wenn man die fortgesetzte Verarmung und Ausbeutung weiter Teile der Weltbevölkerung unter dem Deckmantel sicherheitspolitischer Erfordernisse begrüßt und bereit ist, den verständlichen Zorn der "Verdammten dieser Erde" mit militärischen Mitteln zu unterdrücken. Eine Entscheidung die – obwohl alles dafür getan wird, das Gegenteil zu suggerieren - alles andere als alternativlos ist.

Zwei Seiten einer Medaille: Globalisierung und Krieg Mit diesen Bedrohungsanalysen, nebst ihren sicherheits- und militärpolitischen Schlussfolgerungen, werden Ursache und Wirkung auf perfide Art und Weise verdreht. Mit anderen Worten, die amerikanischen und europäischen Sicherheitsstrategien machen den Bock zum Gärtner, indem sie in der gewaltsamen Verbreitung des neoliberalen Systems die Grundvoraussetzung für die Bekämpfung der Bedrohungstriade sehen.

Mit dieser Fokussierung auf militärische "Lösungsansätze" wird gleichzeitig bewusst die Sicht auf die eigentliche Ursache so genannter Globalisierungskonflikte verstellt, indem deren Kern, die sozioökonomische Desintegration als Folge neoliberaler Politik, ausgeblendet wird. In diesem Kontext muss dem unmittelbaren Zusammenhang von Armut (Neoliberalismus) und Krieg (fehlgeschlagene Staaten) das Hauptaugenmerk gelten. Selbst neue Studien der Weltbank kommen zu dem Schluss, dass das Ausmaß von Armut der bei weitem einflussreichste Risikofaktor für die Eskalation von Konflikten in der Dritten Welt darstellt. Dennoch zeigen weder die USA noch Europa auch nur die leiseste Bereitschaft, die neoliberalen Spielregeln der Globalisierung – die Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industriestaaten – zu ändern und verweigern damit bewusst einem Großteil der Weltbevölkerung ein menschenwürdiges Leben.

Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass zunehmend militärische Mittel zur Aufrechterhaltung und "Befriedung" (Kontrolle) benötigt werden, um die Folgen dieser Entscheidung in Form eskalierender Konflikte zu bekämpfen: "Die Mächte der kapitalistischen Ordnung versuchen die Unordnung, die in der Reproduktionsstruktur des globalen Systems vor allem durch die Ökonomie erzeugt und durch den Markt externalisiert wird, unter Einsatz politischer und militärischer Macht zu beseitigen."

Paradoxerweise wird hiermit genau das Gegenteil dessen erreicht, was angeblich das Ziel sein soll. Denn die daraus resultierenden Armutskonflikte haben maßgeblichen Anteil am Scheitern von Staaten, was gleichzeitig Rückzugs- und Rekrutierungsgebiete für Terroristen schafft. Denn es ist "unbestreitbar, dass die Prediger von Hass und Fanatismus in Gesellschaften mit wachsender Verelendung, Ausgrenzung und Hoffnungslosigkeit einen fruchtbaren Nährboden finden - eine Einschätzung, die sogar der Bundesnachrichtendienst teilt." Noch weiter verschärft wird diese westliche Rekrutierungshilfe für terroristische Organisationen durch das offensichtliche Bestreben militärisch ressourcenreiche Schlüsselregionen zu kontrollieren. Dies verstärkt nicht nur die Wahrnehmung vom ausbeuterischen, ausschließlich egoistischen Interessen folgenden Westen, sondern erhöht auch die Proliferationsproblematik. Denn es liegt auf der Hand, dass die permanenten westlichen Interventionsdrohungen viele Staaten dazu veranlassen darüber nachzudenken, ob nicht Massenvernichtungsmittel die einzige Möglichkeit sind, solchen Angriffen vorzubeugen. In diesem Zusammenhang ist die Überlegung, dass sich die von der neoliberalen Globalisierung objektiv Benachteiligten irgendwann einmal wehren werden, ebenso nahe liegend, wie deren Ziel: Die Systemadministratoren in Washington und Brüssel.

Deshalb ist es dringend notwendig, die dominierende sicherheitspolitische Analyse vom Kopf auf die Füße zu stellen. Eine effektive Lösung globalisierungsbedingter Konflikte kann nur erreicht werden, wenn nicht militärisch Symptome bekämpft, sondern an den Ursachen angesetzt wird: "Worauf es letztlich ankommt, erklärte der kanadische Ökonom Robert Wade sechs Monate vor dem 11. September 2001 im 'Economist': 'Die Welt teilt sich zusehends in eine Zone des Friedens und eine Zone des Aufruhrs. So entsteht eine Menge von arbeitslosen und zornigen jungen Leuten, denen die neuen Informationstechnologien die Mittel verleihen, nicht nur die Stabilität der Gesellschaften zu bedrohen, in denen sie leben. Irgendwann werden sie auch die Stabilität der Staaten aus der Wohlstandszone erschüttern.' Früher oder später, so forderte Wade, müsse darum 'die Verteilungsfrage auf die Weltagenda gesetzt' werden. Dieser Zeitpunkt ist nun gekommen." Selbst EU-Außenkommissar Chris van Patten räumt ein, "dass es eine Beziehung gibt zwischen globaler Ungerechtigkeit, dem Zusammenbruch von Ländern sowie Gewalt und Instabilität und Terror." Die Schlussfolgerung hieraus muss deshalb lauten, dass das Schließen der "Lücke" nicht durch militärische Interventionen sondern nur durch die Abkehr vom neoliberalen Projekt erreicht werden kann. In diesem Sinne ist beispielsweise ein bedingungsloser Schuldenerlass ein sinnvoller erster Schritt und der wahre "sicherheitspolitische Imperativ".

* Jürgen Wagner ist Geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI), Tübingen. Bei diesem Text handelt es sich um das Vortragsmanuskript zur Jahrestagung 2005 der IPPNW (13. bis 15. März)

Quelle: www.ippnw.de


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