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Nicht nur in Indien

Mike Davis über den Planeten der Slums – zunehmende Ghettoisierung und Verelendung

Von Gerhard Klas

Hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Indien-Besuch diese Woche auch die Slums aufgesucht? Was weiß sie über das Elend dort, das die Länder des Nordens maßgeblich mitverschulden?

Das Jahr 2006 war ein historischer Wendepunkt: Erstmals in der Geschichte lebten mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Ein Drittel der Stadtbevölkerung, also etwas mehr als eine Milliarde, vegetiert dort in Slums. Im selben Jahr erschien die englische Originalausgabe von »Planet der Slums«, die nunmehr auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Der US-amerikanische Soziologe und Historiker Mike Davis hat für sein verständlich geschriebenes Buch wissenschaftliche Arbeiten ausgewertet. Es ist darin nicht nur viel über die Entstehungsbedingungen, sondern auch über die Ökonomie und die Lebenswelten der Slumbewohner zu erfahren.

Davis zählt zahlreiche drastische Beispiele auf: 13,4 Menschen teilen sich ein Zimmer in den Slums von Kalkutta; in der sogenannten »Stadt der Toten« in Kairo leben Zehntausende in Grabstätten; in Dakha sind die Slumbewohner die ersten Opfer von Überflutungen; in Manila haben sie sich auf Müllbergen eingerichtet und leben von dem, was die kleine, wohlhabende Klasse auf den Philippinen als ungenießbar entsorgt hat. Allen Slums gemeinsam ist, dass die Bewohner kein sauberes Wasser haben und ihre Abwässer nicht in einer Kanalisation entsorgen können. Riech- und sichtbare Fäkalien stellen für Davis eine Art Demarkationslinie zwischen den Slums und den besseren Vierteln dar. Ein weiterer Indikator ist die Kindersterblichkeit und die Lebenserwartung.

Davis erzählt, wie die Slums entstanden sind, und greift dabei weit zurück, auf die Beschreibungen des Arbeiterelends im britischen Manchester im 19. Jahrhundert, zu Beginn der Industrialisierung. Warum die Menschen heute wie damals vom Land in die Stadt ziehen, benennt er nur kurz. Er bleibt dabei, dass die elenden Verhältnisse auf dem Land sie in die Städte treiben, und nicht – wie so oft kolportiert – die Stadt mit einem besseren Leben lockt. Anders als vor 200 Jahren fliehen die Menschen heute in die Städte, ohne dort eine Perspektive zu haben und trotz zunehmender Deindustrialisierung. Als Beispiel nennt Davis die südindische Stadt Bangalore, die als Symbol des indischen Aufschwungs gilt. Dort leben und arbeiten zwar mehr Software-Ingenieure als in den meisten anderen indischen Städten – aber in absoluten Zahlen sind es weit weniger als die Lumpensammler und Bettler, deren Anteil an der Bevölkerung Bangalores Tag für Tag steigt.

Den »Urknall« der jüngsten Verelendung städtischer Quartiere datiert Davis auf die ausgehenden 70er und 80er Jahre, als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, kurz IWF, den verschuldeten Ländern der südlichen Halbkugel ihre Sparprogramme aufnötigten. Die gingen auf Kosten der Gesundheitsversorgung, des Bildungssystems und der Strukturhilfe für ländliche Regionen. Eine immense Landflucht setzte ein. Deregulierung und Privatisierung, die IWF und Weltbank in den 90er Jahren forcierten, raubten den Armen die Existenzgrundlagen. Als die indische Regierung zum Beispiel Anfang der 90er Jahre die Preisbindung für Lebensmittel aufhob, stiegen die Preise innerhalb von vier Jahren um 60 Prozent und Grundnahrungsmittel wurden für viele Inder unerschwinglich. Überall auf der Welt gab es von Ende der 70er bis Anfang der 90er sogenannte IWF-Aufstände in den Ghettos und Slums.

Der Druck steigt, meint Davis. Jährlich wachse die Slumbevölkerung um 25 Millionen. Immer mehr jugendliche Bewohner schließen sich Straßengangs oder paramilitärischen Einheiten an, verkaufen ihre Nieren, leben von Prostitution und müssen Wuchermieten an die sogenannten Slum-lords bezahlen, die mit Immobilienspekulation in den Slums vieler Megastädte reich geworden sind. »Die Möglichkeiten der wechselseitigen Hilfe sind erschöpft«, schreibt Davis, es gebe einen Verlust der Solidarität der Slumbewohner untereinander. Eine solche Situation produziere ethnisch-religiöse und rassistische Gewalt.

Der Soziologe beschreibt ein Szenario, das an Dantes Inferno erinnert. Er widerspricht Lösungsansätzen wie denen des peruanischen Ökonomen und neoliberalen Vordenkers Hernando de Soto, der ausschließlich den Staat für das Elend in den Slums verantwortlich macht. De Soto fordert, den Slumbewohner zum Kleinunternehmer zu machen und hat mit seinen Ideen auch die Konzepte der Weltbank inspiriert. Er schlägt formelle Besitzrechte, gebührenpflichtige Toiletten und unregulierten Wettbewerb als Quelle des Reichtums vor. Davis fordert stattdessen mehr soziale Sicherheit und die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums. Denn wo die Armut wächst, wächst auch der Reichtum.

In nicht allzu weiter Ferne von den Slums entstehen überall auf der Welt sogenannte Gated Communities, in denen sich die Profiteure dieses ökonomischen Systems mit stromgeladenen Hochsicherheitszäunen, rasiermesserscharfem Nato-Draht, Sicherheitspersonal und mobilen Alarmgeräten vor der hausgemachten Armut und dem Elend abschotten. Davis bezeichnet diese Architektur als »Architektur der Angst«.

Mit der strukturellen Gewalt verhält es sich wie mit einem Bumerang: Sie richtet sich letztendlich gegen ihre Profiteure. Freiheit und Demokratie, die sie gerne im Munde führen, bleiben dabei auf der Strecke. Sie werden dem Sicherheitsdenken geopfert. Davis räumt mit der weitverbreiteten Vorstellung auf, eine gesellschaftliche Integration der Slumbewohner unter den Bedingungen des kapitalistischen Weltmarkts sei möglich. Am deutlichsten sei der Versuch dort gescheitert, wo den Slumbewohnern der Segen der kapitalistischen Ökonomie mit militärischer Gewalt gebracht werden sollte, etwa in den Slums von Mogadischu und Bagdad. Diese Megaslums sind nach Ansicht von US-Militärforschern das »schwächste Glied der neuen Weltordnung«.

Der »wahre Kampf der Kulturen«, so Mike Davis, wird sich künftig an den Orten abspielen, die US-amerikanische Kriegsplaner schon als »Schlachtfelder des 21. Jahrhunderts« bezeichnen: die äußeren Slumbezirke der Mega-Cities in der Dritten Welt.

Mike Davis: Planet der Slums. Verlag Assoziation A, Berlin 2007. 248 S., geb., 20 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 1. November 2007


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