Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Teufelspakt des "Superkapitalismus"

Gespräch mit dem ehemaligen USA-Arbeitsminister Robert Reich

Robert B. Reich ist Professor für öffentliche Politik an der University of California in Berkeley und war in den USA von 1993 bis 1997 Arbeitsminister unter Präsident Bill Clinton. Gerade ist sein neues Buch "Supercapitalism" auf Deutsch erschienen (Superkapitalismus – Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt, Campus Verlag). Mit dem 61-jährigen Wirtschaftswissenschaftler sprach für das "Neue Deutschland" Max Böhnel (New York).
Wir dokumentieren das Interview im vollen Wortlaut.



Neues Deutschland: Haben Sie schon ein Stellenangebot als Minister in der nächsten Regierung in Washington?

Reich: Ich bin kein Karrierepolitiker. Aber wenn man mich darum bittet, würde ich das Amt des Arbeitsministers erneut übernehmen.

Auch unter einem republikanischen Präsidenten?

Nein würde ich zu niemandem sagen, auch nicht zu einem McCain oder Romney. Aber ich hoffe, dass uns eine Republikaner-Administration erspart bleibt.

Sind Sie im Wahlkampf aktiv?

Barack Obama und John Edwards haben sich ein paar Mal von mir beraten lassen. Ich habe ihnen Ideen für die Wirtschaftspolitik aufgeschrieben. Mehr nicht.

Als Arbeitsminister unter Clinton haben Sie die Konzerne zur »sozialen Verantwortung« angehalten – in Ihrem neuen Buch lassen Sie kein gutes Haar an ihnen.

Unter Clinton kämpfte ich dafür, dass Konzerne, die sich dem Prinzip der sozialen Verantwortung verpflichten, Steuererleichterungen erhalten. Dahinter steckte meine Auffassung, dass eine Firma, die ihren Angestellten vernünftige Löhne zahlt und umweltverträglich wirtschaftet, von Verbrauchern und Investoren mehr Vertrauen erhalten würde. Aber viele Hoffnungen der 90er Jahre erfüllten sich nicht. Ich musste lernen, dass »auf lange Sicht« in der Konzernsprache »nie« bedeutet. Was für Konzerne zählt, ist der momentane Aktienkurs. Im Umweltbereich zeigte sich etwa, dass sich Firmen ein grünes Mäntelchen umhängen, sonst aber kaum etwas tun.

So wie BP sich jetzt »BP-Beyond Petroleum« nennt?

BP steckte Millionen und Abermillionen in eine Werbekampagne, um sich als sozial- und umweltverträglich darzustellen. Gleichzeitig »vergaß« die Firma, ausreichend Geld in die Reparatur ihrer Öl-Pipelines zu stecken. Zudem investierte BP nur einen Bruchteil des Erwarteten in die Erforschung von Alternativenergien. WalMart ist ein anderes Beispiel. Der Konzern macht auf Grün, indem er mehr Recycling-Verpackung benutzt. Banaler Grund: Das neue Verpackungsmaterial ist billiger. Wenn wir als Bürger nicht lautstark protestieren, dann verbauen wir uns den Weg, die Konzerne mit schärferen Gesetzen in die von uns gewünschte Richtung zu lenken.

Proteste gegen grüne Firmen-Mäntelchen bleiben bislang tatsächlich aus ...

... weil wir als Verbraucher und Investoren jedes Mal, wenn wir den besten »Deal« suchen, unsere Seelen verkaufen. Die billigsten Warenangebote kommen von Firmen, die im scharfen Wettbewerb Lohnkosten kürzen, Outsourcing von Arbeitsplätzen betreiben und die Umwelt verschmutzen.

Predigen Sie Konsumverzicht?

Wir wollen einerseits gegen die globale Erderwärmung angehen, sichere Arbeitsplätze und höhere Löhne haben. Aber das geht nur, wenn wir auf die Billig-Deals verzichten. Das Problem ist das heutige Doppelwesen des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft: Bürger auf der einen, Verbraucher und Investor auf der anderen Seite. Wenn ich ein Buch kaufen will, sagt der Bürger in mir: Geh in den unabhängigen, kleinen Buchladen und unterstütze ihn. Aber der Verbraucher in mir treibt mich auf die Amazon-Webseite oder zum nächsten Großbuchladen – der ist näher und billiger. Wenn ich ein Flugticket kaufe, sagt der Bürger in mir: Kaufe es bei der Fluggesellschaft, die einen Vertrag mit der Gewerkschaft hat. Aber als Verbraucher buche ich dann doch lieber den Billigflieger. Ich nenne das kognitive Dissonanz, auf die immer weniger Menschen achten.

Was hat das Demokratiedefizit, das Sie in Ihrem neuen Buch beklagen, damit zu tun?

Wirtschaftspolitische Forderungen wie ein höheres Mindesteinkommen oder eine strengere Umweltgesetzgebung sind traditionell Teil des demokratischen Prozesses. Aber die Demokratie wird von den Lobbyisten überwältigt. In Brüssel agieren inzwischen dieselben Konzerne wie in Washington. Der Superkapitalismus, wie ich ihn nenne, hat sich sowohl in die Hirne der Menschen als auch in den politischen Prozess eingegraben.

Ist das wirklich neu?

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Konzerne nicht annähernd so stark wettbewerbsorientiert wie heute. Wir hatten hier drei große Autofirmen, zum Telefonieren gab es AT&T und fürs Sparkonto zwei, drei Banken im Ort. In den 50er Jahren ging ein Dutzend Lobbyisten in Washington Klinken putzen. Heute versuchen 35 000 Lobbyisten unzähliger gegnerischer Firmen mit viel mehr Erfolg als je zuvor, die Politik zu beeinflussen.

Weshalb stellen Sie Verbraucher und Investoren auf dieselbe Seite?

Weshalb studieren die amerikanischen Zeitungsleser heutzutage nicht mehr die Sport-, sondern die Wirtschaftsseiten? In den USA besitzt die Hälfte aller Haushalte Aktien, meist über die betriebliche Altersversorgung. Wie es einer Firma an der Börse geht, ist oft entscheidend für meine Rente.

Hat sich der globale Kapitalismus gegen die staatliche Politik als Regulierungsinstrument verschworen?

In den USA gibt es im rechten Spektrum eine »Verschwörungstheorie«: Märkte können angeblich ohne Regierungen existieren. Es gibt diese irre Vorstellung vom »reinen« Markt, in den dann Regierungen mehr oder weniger, je nach Stärke der Linken, mit Gesetzen hineinregulieren. In Wirklichkeit aber existiert kein Markt ohne Politik. Sie legt die Regeln ständig neu fest – und die Gesetze und Regulierungsmechanismen sind meist Ergebnis erfolgreicher Lobbypolitik eines Konzerns oder einer Branche, die so einen Wettbewerbsvorteil erlangen.

Wie interpretieren Sie da die globalisierungskritische Linke?

Die Linke, zumindest in den USA, meint fälschlicherweise, dass sich die Konzerne gegen die Bevölkerung zusammengetan hätten, dabei die Demokratie zerstörten und zudem an einer weltweiten Strategie arbeiten würden. Doch in Wirklichkeit bekämpfen sich die Konzerne in Washington und in Brüssel bis aufs Blut.

Wer ist das – »die Konzerne«?

Die Lobbyisten, Firmenanwälte und PR-Manager. In ihrem Geschrei, das die Massenmedien gerne kommentarlos reproduzieren, gehen Bürgerproteste, Streiks, Forderungen, Analysen von Nichtregierungsorganisationen unter. Es kostet heute sehr viel Geld, sich als Bürgerinitiative Gehör zu verschaffen. Es ist ein Irrwitz, dass Konzerne juristisch gesehen Rechtspersonen sind, und Unsinn, dass sie politisch repräsentiert sein müssten.

In den USA ist die Gegnerschaft der Mittelschichten gegen Importe etwa aus China oder gegen die Einwanderung unübersehbar. Wohin führt diese Entwicklung noch?

Wenn die Angst, ja Paranoia der Mittelschichten vor Verarmung nicht durch eine Art vertrauensbildender Maßnahmen von der Politik gedämpft wird, wird sich die Situation verschlechtern.

In den 50er bis zu den 70er Jahren glaubte man noch, angetrieben von der wirtschaftlich und kulturell vermittelten Verheißung des »American Dream«, jeder könne irgendwie aufsteigen und vielleicht sogar reich werden. Damals war die Macht der Gewerkschaften noch real, anders als heute, wo nur noch acht Prozent der abhängig Beschäftigten in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert sind.

Was folgt nach dem heutigen »Superkapitalismus«?

Das logische Ende des Demokratieverlustes ist ein autoritärer Kapitalismus – eine Gesellschaft, in der wir nur noch als Verbraucher und Investoren wählen gehen, im Supermarkt wie an der Wahlurne.

Glauben Sie, dass es ohne einen neuen Gesellschaftsvertrag dazu kommen muss?

Hoffentlich nicht.
Eine weltweite Depressionsära wäre ein zu hoher Preis. Ich hoffe, dass die amerikanische und europäische Öffentlichkeit, deren Intelligenz von den Politikern ja gerne unterschätzt wird, vorher aufwacht.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2008


Zurück zur Seite "Globalisierung"

Zur USA-Seite

Zurück zur Homepage