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Menschliche Entwicklung als Antithese neoliberaler Globalisierungspolitik

Die Perspektive des AHDR

Von Ingrid El Masry*

Während die Unterscheidung zwischen dem Prozess der Globalisierung und seiner neoliberalen Erscheinungsform inzwischen zum Gemeingut globalisierungskritischer Debatten gehört, ist das ‚Konzept menschlicher Entwicklung' außerhalb des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) zumindest explizit noch kaum Bezugsfeld europäischer globalisierungskritischer Diskurse. Die Positionierung vieler, weltwirtschaftlich nur marginal integrierter Gesellschaften in diesem Spannungsfeld steht noch aus. Mit den ‚Arabischen Berichten menschlicher Entwicklung' 2002 und 2003 haben sich nun auch aus der arabischen Region gewichtige Stimmen zu Wort gemeldet, welche den arabischen Gesellschaften Weichenstellungen abverlangen.

"Wollen wir eine Welt, die den Markt beherrscht oder einen Markt, der die Welt beherrscht?"
Diese spannende Frage stellt Muhammad Hassanein Heikal seinen arabischen Landsleuten. Heikal ist der Weggefährte des ägyptischen Präsidenten Abdel Nasser und Sadat, und auch einer der langjährigsten Beobachter und Analysten arabischer Politik. Mit Dramaturgie kommentiert Heikal den Ende Oktober erschienenen zweiten ‚Arabischen Bericht menschlicher Entwicklung' (AHDR 2003) als ‚Ankündigung zur letzten Gelegenheit, an der Reise in die Zukunft teilzunehmen' und letztlich als ‚Ankündigung einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr'. Worin aber besteht diese Gefahr, wie dramatisch stellt sich die Lage dar, und worin bestehen ihre Rahmenbedingungen? Bereits der erste Arabische Regionalbericht (AHDR 2002) hatte die gegenwärtigen Entwicklungsprobleme der arabischen Region verknüpft mit den Herausforderungen des Globalisierungsprozesses. Dieser beinhalte ein neues Risiko: Das, den Anschluss zu verlieren an einen rapide beschleunigten gesellschaftlichen Wandel, der häufig die Steuerungsfähigkeiten der Staaten überfordere.

Abkopplung als neue Gefahr?

Nun ist diese Gefahr vielleicht gar nicht so neu - sonst gäbe es keine Entwicklungsproblematik. Das Risiko der Abkopplung bildet vielleicht auch kein Spezifikum der arabischen Region, zumindest nicht aller ihrer Staaten in gleichem Ausmaß und sicherlich nicht aller ihrer gesellschaftlichen Segmente. Das Risiko der Abkopplung macht im Globalisierungsprozess schließlich auch vor Staatsgrenzen nicht Halt, zieht vielmehr neue Scheidelinien zwischen ‚winners and loosers' quer durch Kontinente, Regionen und Staaten. Das Risiko der Abkopplung ist vielmehr zunächst politisch erzeugt durch die weltweite Hegemonie neoliberaler Gestaltungen globaler Integration: Die Triebkräfte, die Geschwindigkeit und die Gestaltung der Globalisierung in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform sind nicht zu trennen von ökonomischen Interessen, welche lieber heute als morgen ökonomische Effizienz, und damit maximale Gewinne über die Liberalisierung und Deregulierung nationaler Märkte und den Rückzug des Staates aus vielen sozio-ökonomischen Aufgaben möglichst weltweit zu realisieren trachten. Damit aber ist das gesellschaftliche Wohl des Einzelnen den Kräften des freien Marktes überantwortet. Das (neo)liberale Dogma, wonach das Wohl Aller maximiert werde, wenn jeder Marktteilnehmer offensiv seine eigenen Interessen verfolge, funktioniert in der Praxis freilich nur unzureichend, denn schon seine Ausgangsbedingungen sind in der Realität andere als in der Theorie: Schon das erste rudimentäre Experiment ‚freier Marktwirtschaft' in der römischen und griechischen Antike lehrt uns, daß die Funktionsfähigkeit dieses Systems von der Existenz und Aufrechterhaltung zumindest einer relativen ökonomischen Chancengleichheit der Marktteilnehmer abhängt. Diese aber war - zumal nach dem KO - Schlag der Verschuldungseskalation in den achtziger Jahren - für viele Entwicklungsregionen in den neunziger Jahren als dem ‚ ersten offiziellen Jahrzehnt der Globalisierung' vermutlich weniger gegeben denn je: Schon 1997 verfügte der Anteil von 20 % der Weltbevölkerung in den einkommensstärksten Ländern gegenüber den 20 % aus den einkommensschwächsten Ländern jeweils über 86 % bzw. 1 % des weltweiten Bruttosozialprodukts, über 82 % bzw. 1 % der Weltexporte an Gütern und Dienstleistungen, über 68 % bzw. 1 % der ausländischen Direktinvestitionen, über 74 % bzw. 1,5 % der Telefonanschlüsse, über 93,3 % bzw. 0,2 % der weltweiten Internet-Nutzungen. Schon 1993 entfielen 84 % der weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf nur zehn Länder, 80 % der in Entwicklungsländern verliehenen Patente auf Angehörige aus Industrieländern, 86 % (1998) des Welt-Telekommunikationsmarktes auf nur zehn Unternehmen. Diese Zahlen sind plakativ, sicherlich, und sie verhüllen, daß die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern auf den globalen Märkten nicht mehr nur zwischen Nord und Süd verläuft, sondern quer durch alle Länder zuschnappt. Dennoch zeigen diese Trends die Ausgangsbedingungen an, aus denen heraus sich die globale ‚Integration' vollzieht. All dies ist nicht neu, ebenso wenig wie die Tendenz zur Abkopplung großer Teile der Welt von den Zentren der 'Modernisierung'. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff der Globalisierung zur ideologischen Hülle globaler Desintegration.

Globale menschliche Entwicklung als Alternative globaler Neoliberalisierung

Wettbewerb mag die beste Garantie ökonomischer Effizienz sein, er garantiert aber weder dauerhafte Entwicklung noch Chancengleichheit. Ökonomische Liberalisierung und Privatisierung mögen Schritte hin zu Wettbewerbsmärkten sein, sind aber nicht deren Garantie. Der Abbau gesellschaftlicher Wettbewerbsregulierung konterkariert sich mittel- bis langfristig vielmehr selbst: Wo Chancengleichheit und nachhaltiges Wirtschaften fehlen, kommt es zum Abbau von Wettbewerb und zur Konzentration ökonomischer und politischer Macht, zur immer ungleicheren Verteilung der Chancen, welche eine globale gesellschaftliche Integration theoretisch bietet, zur Unterminierung grundlegender Standards menschlicher Sicherheit . Die Folgen schlagen als neue Risiken zurück: Soziale Marginalisierung, neue Seuchen, kulturelle Hegemonialisierung, ökologische Krisen, Kriminalität und Schattenwirtschaft, schließlich Staatszerfall, Bürgerkrieg und Unregierbarkeit sind nur die hervorstechendsten Begleiterscheinungen einer Form von Globalisierung, in der weltweit tradierte ethische Grundlagen ökonomischen Handelns aus dem Blickfeld geraten sind.

Den Menschen von der Peripherie zurück ins Zentrum gesellschaftlicher Entwicklung zu rücken, bildet den Fokus jener ‚dialektischen Anti-These zum Triumph des Kapitalismus' (Sen), die jenseits überkommener Systemgegensätze nach einer Ökonomie für den Menschen innerhalb marktwirtschaftlicher Systeme sucht. Der in dieser Orientierung entwickelte Begriff von ‚Entwicklung als Erweiterung realer menschlicher Freiheiten' wurde 1990 zunächst im UNDP aufgegriffen und seitdem in den jährlich zu verschiedenen Schwerpunkten erscheinenden globalen Berichten menschlicher Entwicklung (HDR), aber auch in zahlreichen regionalen und Länderberichten weiterentwickelt. Die Autoren der arabischen Regionalberichte 2002 und 2003 spezifizieren ihr Verständnis von Entwicklung als Freiheit als einen Prozess menschlicher Selbstentfaltung, in dem es nicht nur um die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Funktionen in abstracto geht, sondern auch darum, diese in ein Gleichgewicht mit den Chancen ihrer Realisierung zu bringen: Die Orientierung an einer ‚Entwicklung des Menschen, Entwicklung für den Menschen und Entwicklung durch den Menschen' geht deutlich über entwicklungspolitische bzw. -theoretische Ansätze hinaus, welche den Menschen utilitaristisch kapitalisieren, indem sie ihn einseitig auf die In-Wert-Setzung seiner Arbeitskraft als Input im Produktionsprozess reduzieren, ohne ihn als Nutznießer seiner Arbeit zu achten (Human-Capital-/ Human-Ressource-Ansätze), welche menschliche Selbstentfaltung auf materielle Grundbedürfnisse reduzieren (Basic-Needs-Ansätze), oder den Menschen als Empfänger von Wohlfahrtsteigerungen (Human-Welfare-Ansätze), nicht aber als aktiven Gestalter seiner Lebensbedingungen und -entwürfe begreifen.

Das hier vorgelegte Konzept beruht auf einem breiten und vielseitigen, mithin politischem Verständnis von Entwicklung, das die ökonomistisch - technologistischen Verengungen einer Vorstellung von Entwicklung als rein nachholender ebenso überwindet wie den Weg der Entwicklungsdiktatur. Dies ist als solches keineswegs neu, knüpft vielmehr an die Grundlagen klassischer politischer Philosophie von Aristoteles über Ibn Khaldun bis Kant, an die klassische politische Ökonomie von Petty bis Marx, schließlich an weltweite, globalisierungskritische Diskurse und Bewegungen der Gegenwart an, und kann insofern als Ausdruck eines kulturübergreifenden, humanistischen Erbes der Menschheit betrachtet werden.

Dieses Erbe, und so auch das Konzept menschlicher Entwicklung, stellen sich freilich zunächst nur als komplexes Bündel normativer Maßstäbe dar. Den Kern dieser Maßstäbe, und somit eines qualitativen Begriffs von Entwicklung bildet ein komplexer Begriff von instrumenteller Freiheit, die sowohl Mittel als auch Ziel menschlicher Entwicklungsprozesse ist. Die Autoren der arabischen Berichte bestimmen ihren Begriff instrumenteller Freiheit als Mittel und Ziel menschlicher Entwicklung durch ein Bündel von mehreren interdependenten Essentials, welche angefangen von der Ebene politischer Selbstbestimmung und der Bedeutung demokratischer Grundrechte, politischer Transparenz und politischer Partizipation in allen gesellschaftlichen Sphären, über die Eröffnung individueller ökonomischer Möglichkeiten im Kontext offener wirtschaftlicher Systeme, bis hin zur Sicherung sozialer Chancen durch eine entsprechende Gestaltung der gesellschaftlichen Erziehungs-, Bildungs- und Genderpolitik, durch die Orientierung an sozialer Sicherheit und an der ökologischen Verträglichkeit von Entwicklungsprozessen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung reichen. Analytisch anwendbar und politisch nutzbar wird ein solcher Begriff von Entwicklung freilich nur dann, wenn er auf klaren Begriffsbildungen und einem aussagekräftigem Untersuchungsinstrumentarium beruht. Eben hier tauchen sowohl in den HDRs als auch in den AHDRs Probleme auf, die den jeweiligen Autoren zumindest teilweise durchaus bewußt sind, aber weiterer Bearbeitung bedürfen.

Wie aussagekräftig ist der HDI

Als schwierig stellt sich zunächst die Umsetzung der komplexen Vorstellung menschlicher Entwicklung in ein Indexsystem dar. Immerhin geht es dabei idealiter nicht nur darum, repräsentative Kategorien zu entwickeln, sondern auch darum, eine Vielzahl von Variablen sehr unterschiedlicher Qualität in Beziehung zu einander zu setzen. Das aber setzt nicht nur die klare Erkenntnis relevanter Variablen, sondern auch die ihrer Abhängigkeitsbeziehungen und Wechselwirkungen, schließlich ihrer Gewichtung zueinander voraus. Die Aggregation zahlreicher Einzelvariablen zu einem Index menschlicher Entwicklung (HDI) und einem darauf aufbauenden Länder-Ranking läuft schließlich Gefahr, wenig aussagekräftig zu sein, insofern ein solcher Index sich als Resultat einander konterkarierender Wirkungen darstellen kann: So zeigt sich bei der Konstruktion des HDI des UNDP, der sich gegenwärtig zusammensetzt aus den Indizes Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung, Erwachsenenalphabetisierungsrate, Einschulungsquoten, kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens und dem HDI-Rang eines Landes: Identische HDI-Ränge gehen aus frappierend unterschiedlichen Höhen des Pro-Kopf-Einkommens hervor, identische Pro-Kopf-Einkommen haben teilweise stark abweichende HDI-Ränge zur Folge. Kann hieraus nun aber schlicht die Konsequenz gezogen werden, das Pro-Kopf-Einkommen völlig aus der HDI-Konstruktion herauszunehmen? Eben dies tun die arabischen Regionalberichte mit der durchaus im Geiste des Konzeptes menschlicher Entwicklung stehenden Begründung, daß materielles Einkommen niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck menschlicher Entwicklung sein kann. Nun mag die Ausblendung der Einkommensvariable da zu verkraften sein, wo Fortschritte menschlicher Entwicklung die Existenz der entsprechenden materiellen Bedingungen mit einiger Logik voraussetzen: etwa im Bereich der Gesundheit oder der Lebenserwartung. Wie stellt sich die Ausblendung der Einkommensvariable aber dann dar, wenn ein Land seinen Bürgerinnen und Bürgern weitgehendste politische Freiheit einräumt, die Chance der Realisierung dieser Freiheit aber in dem Maße abnimmt, wie die materiellen Grundlagen fehlen, um einer politischen Meinung Macht und Einfluß zu verleihen? Die Ausblendung der Einkommensvariable in den AHDRs stellt sich vielleicht weniger als Problem der gewollten Übergewichtung politischer Freiheit über materielle Grundbedürfnisse (vgl. dazu Nienhaus in diesem Heft), als vielmehr als Problem einer Vernachlässigung des Zusammenhangs zwischen formalen und sozialen Menschenrechten dar, und damit als frühbürgerliche Illusion, die der internationalen Menschenrechtsdebatte durchaus hinterherhinkt , und zudem dem postulierten Interesse der AHDRs, menschliche Freiheit in Übereinstimmung mit den Chancen ihrer Realisierung zu bringen, nicht gerecht wird. Hier wären zumindest eingehende methodische Reflexionen angebracht.

Ökologische und frauenspezifische Ansätze im Human Development Index

Begrüßenswert an der Konstruktion des AHDI (der im AHDR 2002 für ‚Alternative Human Development Index steht, im AHDR 2003 für ‚Arab Human Development Index') sind zweifellos Ansätze, Variablen des ökologischen (Einbeziehung des CO˛ - Ausstoßes pro Kopf als Negativ-Variable), des frauenspezifischen (GEM -Gender Empowerment Measure), sowie des Bildungs- und Kommunikationskontextes menschlicher Entwicklung (Internet-Zugang) in den arabischen Index aufzunehmen. Auch hier zeigen sich freilich Probleme der Repräsentativität und der Aussagekraft: Im Kontext der Ökologie ist der CO˛-Ausstoß ein wichtiger, aber vielleicht nicht hinreichender Indikator. Im Kontext der Gender - Strukturen sagt der Zugang von Frauen zu beruflichen und politischen Machrollen nur bedingt etwas aus über die Veränderung familiärer Rollenverteilungen. Im Kontext der Einbindung in moderne Kommunikationsformen sagt der Index ‚Internet-Hosts pro Kopf der Bevölkerung' nichts über die materiellen Chancen des Zugangs zum Netz, und damit über die Ursachen niedriger Quoten aus. Zugegeben, die komplexen Zusammenhänge menschlicher Entwicklung statistisch hinreichend aussagekräftig wiederzuspiegeln, ist zweifellos schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Daraus resultiert einerseits die Empfehlung, vorsichtig und umsichtig mit Statistiken menschlicher Entwicklung umzugehen, andererseits die Notwendigkeit, ihre methodischen Konzeptionalisierungen wie ihre gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagen weiterzuentwickeln. Eben hier zeigen sich nicht zuletzt im Kontext der AHDR - Bewertung des Globalisierungsprozesses problematische Unschärfen von Begriffsbildungen, Rahmenbedingungen und Realisierungschancen.

Globalisierung als Chance

Wenn die arabischen Regionalberichte - wie die globalen Berichte menschlicher Entwicklung - die weltweite Verallgemeinerung marktwirtschaftlich-liberaler Ordnungen grundsätzlich akzeptieren, und dabei die durchaus auch unter arabischen Intellektuellen vorhandene Fundamentalkritik an jeglicher Globalisierung ausblenden, so steht dahinter die Erwartung dynamischer Effekte auf das Projekt menschliche Entwicklung in der arabischen Region. Dahinter wiederum steht im Grunde eine einfache Gedankenkette: Der Übergang zur Wissens- und Informationsgesellschaft entscheidet über Anschluss oder Abkopplung der arabischen Region von der Moderne, ist aber zugleich tendenziell verbunden mit der Globalisierung marktwirtschaftlich-liberaler Gesellschaftsordnungen. Deren Herausbildung verlangt die grundsätzliche Überwindung jener rentenökonomisch - neopatriarchalen Strukturen, welche die Entwicklung der arabischen Gesellschaften seit ihrer Unabhängigkeit prägten, und damit auch die Überwindung jener zentralen Defizite menschlicher Entwicklung, welche der AHDR 2002 überblicksartig als deren Resultate herausgearbeitet hatte: Bildung, politische Freiheit und Regierungsführung, Gender-Gerechtigkeit (vgl. inamo 31, 2002, S.3)

Der Zusammenhang zwischen Rentenökonomie und Neopatriarchie ist als solcher keineswegs neu und entbehrt sicher nicht des Realitätsgehalts: Im AHDR 2002 nur angedeutet, werden die soziökonomischen Strukturen im AHDR 2003 ausführlicher dokumentiert und entwickelt. Demnach liegt der Anteil der Rohstoffgewinnung (insbesondere Erdöl/ -gas) an der gesamten Warenproduktion 2002 im Durchschnitt der Gesamtregion bei über 40 %, freilich mit großen Unterschieden zwischen einen Spitzengruppe mit Anteilen von 75 %-85 % (Kuwait, Qatar, Oman), einer Mittelgruppe mit Anteilen zwischen 50 %-60 % (Saudi-Arabien, Algerien, Bahrein, Libyen, Yemen, VAE), und einer Gruppe mit nur gemäßigten Anteilen zwischen 35 % und 0 % (Syrien, Mauretanien, Ägypten, Irak, Jordanien, Tunesien, Marokko, Djibouti, Sudan, Libanon). Freilich haben sich gerade letztere im Zuge des Erdölbooms der siebziger Jahre zu wichtigen Empfängern sekundärer Renteneinkommen (Gastarbeitertransfers, politische Renten, Tourismus) entwickelt. Entsprechend marginal stellt sich der Anteil hochtechnologischer und verarbeiteter Produkte an den Exporten der Region dar, die hier selbst hinter die Gruppen einkommensschwacher Länder des subsaharischen Afrikas sowie Südasiens zurückfällt.

Rentenfalle

Als zentrale Begleiterscheinungen der rentenökonomischen Produktionsstrukturen arbeiten die Autoren eine hohe Abhängigkeit von ausländischer Expertise, die einfach eingekauft werden kann und rasche Gewinne verspricht, die positive Sanktionierung einer Händlermentalität, eine geringe Nachfrage nach endogener Wissensproduktion, die langwierig und kostspielig ist, schließlich die Dominanz industrieller Lizenzproduktion über endogen gewachsene produktiven Strukturen sowie die Dominanz traditionaler handwerklicher Kleinstbetriebe mit niedriger Produktivität und geringer Arbeitskräftenachfrage über wissensintensivere medium und large-scale - Unternehmen heraus. Die Folgen dieser Produktionsstruktur machen sich in einem Teufelskreis der Stagnation geltend: Niedrige Wachstumsraten und rückläufige Produktivität führen zu einer geringen Nachfrage insbesondere nach qualifizierten Arbeitskräften bei gleichzeitig hohen Geburtenraten, damit zur Produktion von Arbeitslosigkeit und zur Abwanderung insbesondere hochqualifizierter Arbeitskräfte, schließlich zu wachsender Abhängigkeit von Renteneinnahmen. Der ungleiche Zugang zu Renteneinnahmen fördert wiederum zunehmende Einkommensdisparitäten und, mangels Einkommensalternativen, die Vertiefung einer Rentiersmentalität, und zwar von der Mikroebene familiärer bis hinauf in die Makroebene der zentralisierten staatlichen Redistribution von Renteneinnahmen Dieser Produktions- und Distributionsstruktur entspricht auf der politischen Ebene die Verfestigung einer neo-patrimonialen bzw. neo-patriarchalen Struktur, die sich von der Mikroebene familiärer Strukturen bis zur Makroebene gesamtgesellschaftlicher politischer Strukturen stets aufs neue als ranghierarchisch-autoritäre reproduziert, und unter den Hauptprofiteuren dieses Systems nur wenig Interesse an grundsätzlichen Veränderungen des gesellschaftlichen Machtsystems wachsen lassen dürfte.

Es kann nicht überraschen, wenn die Autoren der arabischen Regionalberichte auf der Grundlage dieser Einschätzung der Gegenwartsstrukturen arabischer Gesellschaften, die im AHDR 2003 auch in ihren kolonial produzierten Wurzeln thematisiert werden, in der Globalisierung liberaler ökonomischer und politischer Systeme eine Chance emanzipatorischer menschlicher Entwicklung sehen, und zugleich in den Bereichen der Bildung, der politischen Liberalisierung und der Ermächtigung von Frauen Schlüsselelemente eines politischen Auswegs aus der Rentenfalle.

Globalisierung als Risiko arabischer menschlicher Entwicklung Ganz frei von Bruchstücken ist diese Gedankenkette freilich nicht: Wie die Autoren selbst äußern, ist signifikanter technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt gerade im naturwissenschaftlichen und hochtechnologischen Bereich auch unter repressiven und sozial ungerechten politischen Strukturen möglich, mit anderen Worten, nicht an Fortschritte im Bereich sozialen Wissens und demokratischer und selbstbestimmter menschlicher Entwicklung gebunden (vgl. hierzu auch die Problematisierung des Wissensbegriffs bei Nienhaus in diesem Heft). Nun scheint die Produktion ökonomisch verwertbaren Wissens -auch angesichts im internationalen Vergleich durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher Bildungsausgaben in den arabischen Gesellschaften - dann in der Tat nicht das zentrale Problem zu sein, wenn in Rechnung gestellt wird, daß schon 1976 23 % der arabischen Ingenieure, 50 % der arabischen Ärzte, 15 % der arabischen B.S. - Absolventen, allein 1995/ 96 25 % der arabischen Graduierten, zwischen 1998 und 2000 schließlich 15.000 arabische Ärzte vornehmlich in westliche Länder immigriert sind - offen bleibt warum -, und mit diesem brain drain den Empfängerländern eine paradoxe Entwicklungshilfe leisteten. Damit relativieren sich einerseits internationale Vergleiche von Patent-, Publikations- und Forschungsanteilen. Damit stellt sich aber auch die Frage, wie einem solchen brain drain unter den Bedingungen einer globalen Mobilität hochqualifizierter Arbeitskräfte und einer zunehmenden Privatisierung geistiger Eigentumsrechte (TRIPS) begegnet werden kann, wie also ein nationaler Anschluss an eine globalisierte Wissensgesellschaft ermöglicht werden kann. Es ist dies letztlich nur die Modernisierung der alten entwicklungstheoretischen Frage, wie signifikante nationale Entwicklungsfortschritte aus den Bedingungen historisch produzierter, überwältigender internationaler Ungleichgewichte heraus erzielt werden können. In den arabischen Gesellschaften scheint sich diese Frage weniger als ökonomische denn als politische zu stellen, nämlich in der Tat als Frage von Fortschritten in der Realisierung menschlicher Entwicklung. Wie diese angesichts der schon im Berichtszeitraum der beiden AHDRs konterkarierenden Wirkungen des internationalen Umfelds (politische Auswirkungen des war against terrorism), schließlich angesichts der weltweiten Dominanz neoliberaler Doktrinen, in den arabischen Gesellschaften erzielt werden können, beantworten die Autoren der AHDR nur normativ-abstrakt.

Es kann aber nicht verwundern, wenn das UNDP in einer Zwischenbilanz zum Globalisierungsprozess aus der Perspektive menschlicher Entwicklung bereits 1999 feststellte, daß die Globalisierung große Chancen für die menschliche Entwicklung nur dann beinhalte, wenn sie einer strengen staatlichen bzw. überstaatlichen Regulierung unterworfen werde. Um die weltweite Integration nicht alleine an ökonomischen Profitinteressen, sondern an den Menschen und den Erfordernissen menschlicher Entwicklung zu orientieren, müssten die Kräfte des Marktes den Spielregeln politischer, sozialer und ökonomischer Menschenrechte, sozialer und politischer Gerechtigkeit, menschlicher Sicherheit und ökologischer Ausgewogenheit unterworfen werden.

* Ingrid El Masry promovierte über die Soziogenese des ägyptischen Patrimonialstaates, wiss. Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Philipps Universität Marburg.


Dieser Beitrag erschien in einer gekürzten Fassung in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 36, Januar 2004

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