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Krisenkapitalismus

Ein neoliberaler Mythos wankt

Von Dieter Klein *

Der neoliberale Mythos vom Markt als Gleichgewichtsstifter ist ins Wanken geraten. Die öffentliche Verachtung des Staates schlug in die nahezu beschwörende Forderung nach staatlicher Intervention zur Rettung des globalen Finanzsystems um. Am 22. Oktober hieß es in der FAZ: »Die Lage war derart verzweifelt, dass alleiniges Vertrauen in die Selbstheilkräfte des Marktes sehr wahrscheinlich in eine Katastrophe geführt hätte.« Binnen weniger Tage wurde in den USA und Großbritannien per Staatszwang staatliches Teileigentum im Bankensektor gebildet. In Deutschland wurden 80 Milliarden Euro für Staatsbeteiligungen an Banken bereitgestellt. Auf dem G20-Krisengipfel in Washington wurde die Arbeit an einem Aktionsplan zur Kontrolle und Regulierung des internationalen Finanzsystems beschlossen.

Schranken des Kapitalismus

Doch die geplanten Maßnahmen werden die tieferen Ursachen der Finanzkrise nicht berühren. Diese bestehen vor allem darin, dass zugunsten der Profitmacherei die Kaufkraft der Bevölkerungsmehrheit hinter der »an sich« möglichen Ausweitung von Produktion und Dienstleistungen zurückbleibt – 12 Millionen Menschen sind beispielsweise im Niedriglohnbereich beschäftigt, 17 Prozent der Deutschen armutsgefährdet. Ihre Kaufkraft trägt kein dauerhaft hohes Wachstum. Bei den Eigentümern großer Geldvermögen und bei Unternehmen häuft sich Geldkapital auf, das in der Realwirtschaft nicht produktiv investiert werden kann. Seit Mitte der siebziger Jahre wirkt in der Mehrheit der kapitalistischen Industrieländer eine auch daraus resultierende Tendenz zur Wachstumsverlangsamung, die das Ende des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus markierte.

Suche nach Auswegen

Die von den Herrschenden gesuchten Auswege aus der Krise verdichteten sich zu Grundprozessen der neuen neoliberalen Phase des Kapitalismus:

Der High-Tech-Kapitalismus, der Märkte und Reichtum durch Innovationen schafft, ist ein solcher Ausweg – zulasten der Verlierer in der Konkurrenz und der Millionen, die ihre Arbeitsplätze verlieren. Die Globalisierung ist ein Ausweg für die exportmächtigsten Unternehmen. Aber zugleich hat erst sie es möglich gemacht, dass die US-Immobilienkrise sich zur erdumspannenden Finanzkrise ausgeweitet hat. Auch imperiale und imperialistische Politik gehört zu diesen Auswegen ebenso wie zu den Charakteren des neoliberalen Kapitalismus. Sie gipfelt in der Herausbildung eines US-Imperiums und in Kriegen um Ressourcen und geostrategische Macht – mit der Folge der Zerstörung von bereits produziertem Reichtum und unermesslichem menschlichen Leid. 654 965 »zusätzliche« Todesfälle allein in der irakischen Bevölkerung durch den Krieg verzeichnete das »New England Journal of Medicine« bis Ende 2007. Zu den Auswegen und zugleich Grundprozessen des neoliberalen Kapitalismus gehört ferner eine »Ökonomie der Enteignung« – nicht zuletzt durch die Privatisierung bisher öffentlicher Güter, öffentlicher Daseinsvorsorge und öffentlichen Eigentums. Verbürgte Rechte von Bürgerinnen und Bürgern auf sozial gleiche Teilhabe an öffentlichen Gütern wie z. B. Gesundheitsleistungen, Bildung und Sicherheit werden in Waren, Bürgerinnen und Bürger in Kundinnen und Kunden verwandelt. Sicherheiten verkehren sich durch die Abhängigkeit von ungleich gefüllten Geldbeuteln in wachsende Unsicherheit. Der langfristig bedrohlichste »Ausweg« aus der Enge der kapitalistischen Verhältnisse und ein weiterer Charakterzug des neoliberalen Kapitalismus ist die ungehemmte Ausplünderung der Natur und die Zerstörung ihrer natürlichen Gleichgewichte. Der Klimawandel droht in nächster Zukunft mit Verlusten von 5 bis 20 Prozent des Weltsozialprodukts.

Schließlich hat sich als ein für die Gewinner zeitweilig extrem erfolgreicher Ausweg und als weiterer wesentlicher Charakterzug des neoliberalen Kapitalismus die Herausbildung des Finanzmarkt-Kapitalismus erwiesen. Der Kern der Eigentumsverhältnisse hat sich zu den Geldmachteliten verschoben, die das überschüssige Geldkapital bei sich konzentrieren. In Deutschland entsprach im Jahr 2007 die Bilanzsumme der drei größten Kreditinstitute 124 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Überhang der Geldvermögen war derart riesig, dass – ermöglicht durch die gesetzliche Zulassung und aktive politische Förderung selbst obskurster Finanzinstrumente – eine riesige Spekulationsblase entstand, die nun geplatzt ist. In dieser Deregulierung besteht eine zweite wesentliche Ursache der Finanzkrise. Sie ist also Resultat des Versuches, die Schranken der Kapitalverwertung zu überwinden, die in den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen selbst wurzeln.

Verflechtung von Großkrisen

Die Dramatik der Krisensituation gegen Ende der ersten Jahrhundertdekade wird dadurch erheblich gesteigert, dass die Finanzkrise nur eine Seite, nur der besonders spektakuläre Teil eines einzigartigen zeitlich gerafften Zusammenfallens unterschiedlicher großer Krisen des Kapitalismus ist, deren jede das menschenwürdige Leben oder sogar das Überleben von Hunderten Millionen Menschen bedroht. Die besondere Brisanz dieser Verflechtung schwerer Krisen besteht zudem darin, dass sie das Versagen des neoliberalen Kapitalismus gerade vor den größten Herausforderungen des Jahrhunderts augenfällig machen und dass jede dieser Krisen überdies noch die Zerstörung elementarer öffentlicher Güter einschließt.

Diese Jahrhundert-Herausforderungen betreffen erstens die Abwendung einer Klimakatastrophe – aber die Chancen für den Erhalt der Klimastabilität als existenzielles globales öffentliches Gut stehen nicht gut. Die zweite große Herausforderung ist die erdumspannende Friedenssicherung – aber der Irak-Krieg, der Krieg in Afghanistan und das Wiederaufflammen des Krieges im Kongo unter vielen in den Medien kaum erwähnten gegenwärtigen militärischen Konflikten verweisen darauf, dass der Friede als elementares globales öffentliches Gut noch in weiter Ferne liegt. Die dritte Herausforderung ist die Überwindung von Hunger und Armut durch Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung, das ebenfalls als hochrangiges globales öffentliches Gut zu betrachten ist. Aber der »Global Report 2008« der Weltbank weist für 42 von 59 untersuchten Ländern eine Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich aus. Eine vierte Herausforderung betrifft die Dringlichkeit des Übergangs zu einer neuen Regulationsweise. Diese müsste angesichts hochkomplexer und gefahrenreicher globaler Problemlagen langfristige politische Gestaltungsfähigkeit institutionalisieren – aber die Finanzkrise beweist, dass ein starkes internationales Finanzsystem als ein ganz besonderes öffentliches Gut und als Teil einer problemgerechten Regulationsweise in weiter Ferne liegt. Jede dieser Herausforderungen mündet gegenwärtig mehr in Krisen und in ihre Verflechtung als in Lösungen.

Wird die plötzliche Rückkehr des Staates die Verlängerung der Laufzeit des neoliberalen Kapitalismus bewirken? Oder naht das Ende des neoliberalen Kapitalismus? Wird aus der Krise eine Chance für emanzipatorische Alternativen erwachsen?

Neoliberale Varianten

Möglich ist erstens ein neoliberaler Kapitalismus angelsächsischen Typs mit geringen Veränderungen bei geschwächtem, aber noch dominantem Einfluss auf die Welt. Wahrscheinlich aufgrund des Drucks der Umstände ist zweitens ein »sozialdemokratisierter«, wieder stärker regulierter neoliberaler und angegrünter Kapitalismus, der sich auf einen reduzierten »aktivierenden« Sozialstaat stützt.

Die stärkste Basis für ein modifiziertes Andauern von Varianten des neoliberalen Kapitalismus sind die im Kern durch die gegenwärtigen Krisen nicht angetasteten ökonomischen Machtverhältnisse. Die Rettungspakete sind in Wahrheit eine Form extremer Umverteilung von unten nach oben. Denn die Mittel, die der Staat in die Bankensanierung steckt, müssen vom Steuerzahler aufgebracht werden und werden nicht zuletzt für Sozialausgaben fehlen. Die jüngsten staatlichen Rettungsaktionen zielen keineswegs auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Finanzminister Peer Steinbrück erklärte in einem Interview: »Wir wollen unsere stillen Beteiligungen bzw. unsere Aktien auch wieder veräußern; wenn es nach mir geht, so schnell wie möglich … Es ist nicht die Absicht des Staates, einen strategischen Einfluss auf den Bankensektor zu nehmen.« (Die Zeit, 16.10.2008) Selbst wenn aus der Finanzkrise Lehren für die anhaltende Kontrolle der Finanzmärkte gezogen und systemgefährdende Exzesse der Finanzakteure zurückgedrängt würden, wäre das noch keineswegs identisch mit der Überwindung der Gesamtheit der hier skizzierten »Auswege« bzw. Grundprozesse des neoliberalen Kapitalismus.

Gegensätzliche Alternativen

Ein drittes Szenario möglicher Zukünfte ist eine Bewahrung der sozialstaatlichen Entwicklung in einigen skandinavischen Ländern trotz des auch dort wirkenden neoliberalen Einflusses; ein Lernen von diesem Weg auch in anderen Ländern und seine Erweiterung zu einem wohlfahrtsstaatlich-grünen Kapitalismus – im ständigen Widerstreit mit Kapitalinteressen an ungebändigter Profitdominanz. Eine Sozialdemokratie mit solcher Orientierung könnte in Deutschland zum strategischen Partner der LINKEN werden. Im Verlauf heftiger Auseinandersetzungen könnte solche Entwicklung in eine längere Durchgangsphase zu radikal-emanzipatorischen Alternativen münden. Aber vor weiteren schweren Niederlagen wird die SPD sich kaum für einen solchen einschneidenden Richtungswechsel entscheiden.

Als ein vierter äußerst gefährlicher Weg in kommenden Jahrzehnten ist für manche Länder die Flucht der Machteliten in einen hochgradig entzivilisierten Kapitalismus nicht auszuschließen.

Das Projekt der Linken

Ein fünftes Szenario möglicher künftiger Entwicklungen ist das Projekt der LINKEN in Deutschland: eine emanzipatorische, sozialökologische Alternative für Europa – eine gerechte und solidarische Gesellschaft, demokratischer Sozialismus. Die Krise des Neoliberalismus fordert realitätsbezogene Visionen heraus. Deshalb entfaltete Barack Obamas »Change« eine so große Mobilisierungskraft. Was hat die Linke zu tun, um aus der Krise des Neoliberalismus eine Sternstunde für Alternativen zu machen? Als große Leitidee des demokratischen Sozialismus kann die individuelle Freiheit für jede und jeden betrachtet werden, über das eigene Leben in Solidarität mit anderen selbst bestimmen zu können, gesichert durch soziale Gleichheit der Teilhabe an elementaren Lebensbedingungen. Dies ist nicht allein eine Vision für eine künftige bessere Gesellschaft. Demokratischer Sozialismus zielt darauf, dass gegenwärtig und in nächster Zeit für viele Menschen vieles besser wird. Das wird viele kleine Alltagsschritte und große Brüche in den herrschenden Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnissen erfordern.

Beispielsweise fordern viele linke Kräfte, dass die zahlungsfähigen Banken selbst in erheblichem Umfang an der Finanzierung der Rettungsfonds für das Bankensystem beteiligt werden. Die Beteiligung des Staates am Bankenkapital sollte nicht so schnell wie möglich wieder aufgegeben, sondern als ein Einstieg in eine Mischwirtschaft verteidigt und ausgebaut werden – als Einstieg also in eine Veränderung der Eigentums- und Machtverhältnisse zwischen privater Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft. Staatsbeteiligungen sollten genutzt werden, um die Banken zur Finanzierung von Projekten eines sozialökologischen Umbaus, der Bildungsförderung und kommunaler Gemeinwohlprojekte zu veranlassen.

Die Umkehr der Privatisierungsstrategie in eine Stärkung des Öffentlichen muss für die Linke ein Ausgangspunkt zur Eindämmung der Finanzkrise sein. Das Projekt des Neoliberalismus ist die Individualisierung aller gegen alle. Das Projekt der Linken ist die Individualität aller durch Teilhabe am Öffentlichen für alle. Das Öffentliche wird in emanzipatorischen Alternativen zum Halt der Einzelnen gegen eine Zukunft der Entsicherung und Ausgrenzung.

Demokratischer Sozialismus als transformatorisches Gegenwarts- und Zukunftsprojekt kann also als Dreiklang beschrieben werden: als Komposition von Freiheit durch Gleichheit und Solidarität, Verteidigung und Ausweitung des Öffentlichen und Mobilisierung von Akteuren für eine gerechte und solidarische Gesellschaft.

* Dieter Klein ist Herausgeber der neuen Schriftenreihe »einundzwanzig« der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er war Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, baute dort die multidisziplinäre Friedensforschung auf.

Aus: Neues Deutschland, 22. November 2008

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Dieter Klein: Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weiter geht.
Karl Dietz Verlag, Berlin 2008, 280 Seiten; 19.90 EUR; ISBN: 978-3-320-02165-8


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