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Lagarde setzt wichtige Akzente

Rainer Falk über die Politik des IWF *


Rainer Falk ist Herausgeber des Informationsbriefs Weltwirtschaft & Entwicklung (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org). Der Soziologe verfolgt seit vielen Jahren die Entwicklung beim Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und den G7/G8-Gipfeln. Martin Ling befragte Falk über die dieses Wochenende anstehende Herbsttagung von IWF/Weltbank. Falk kommentiert die Tagung in Washington in seinem Blog (www.baustellen-der-globalisierung.blogspot.com).

Unter dem Eindruck der Schuldenkrise in der Euro-Zone findet in Washington dieses Wochenende die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank statt. Neben der Lage im Euro-Raum soll es bei dem dreitägigen Treffen auch um die Furcht vor einer neuen globalen Rezession sowie um Reformen der Finanzmärkte und des internationalen Währungssystems gehen.



ND: Seit dem 5. Juli amtiert die Französin Christine Lagarde als neue IWF-Direktorin. Sie steht jetzt vor ihrer ersten Herbsttagung. Konnte sie bereits Akzente setzen in den ersten Monaten?

Falk: Ja, sie hat deutliche Akzente gesetzt, vor allen Dingen mit ihrer Rede beim Treffen der internationalen Zentralbanker im US-amerikanischen Jackson Hole. Dort warnte sie vor einer neuen gefährlichen Phase der Weltwirtschaft und forderte die Politik auf, sie dürfe nicht zu früh die Konjunktur stimulierende Maßnahmen einstellen, wenngleich mittelfristig ein Abbau der hohen Staatsverschuldung selbstverständlich notwendig sei. Es ist ein sehr wichtiger Akzent, dass sie auf politische Optionen hinweist und zeigt, dass nicht alles von den Finanzmärkten diktiert wird.

Sie hat sich auch dafür ausgesprochen, notfalls zwangsweise europäische Banken zu rekapitalisieren, sprich ihr Eigenkapital zu erhöhen, um sie krisenfester zu machen. Findet sie denn Gehör?

Die erste Reaktion war Aufregung bei den Finanz- und Wirtschaftsfunktionären. Die hat sich gelegt und Lagarde vertritt weiterhin diese Position, wenngleich nicht hundertprozentig klar ist, in welchem Umfang dieser Rekapitalisierungsbedarf besteht. Aber wie kritisch europäische Banken wieder dastehen, zeigte sich gerade bei der Herabstufung der Kreditwürdigkeit der französischen Banken Société Générale und Crédit Agricole, die viele Staatsanleihen von südeuropäischen Krisenländer in den Büchern haben.

Flankenschutz erhält Lagarde von ihrem Landsmann Oliver Blanchard, Chefökonom des IWF. Er moniert, dass der Abbau der globalen Ungleichgewichte nicht stattfindet, die Exportüberschussländer wie China oder Deutschland und die Defizitländer wie die USA keinen Kurswechsel vollzogen hätten. Stimmen Sie zu?

Nur bedingt. Auf der Seite Chinas gibt es durchaus ernst zu nehmende Anstrengungen, um die Schwerpunkte von der Export- auf die Binnenwirtschaft zu verlagern. Sie begreifen das zusammen mit der Aufrechterhaltung hoher Wachstumsraten als ihren Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft und ihren Beitrag zum Weg aus der aktuellen Krise. Bei anderen Überschussländern sieht es nicht so aus. Die deutsche Ökonomie stützt sich nach wie vor im Wesentlichen zu einem sehr hohen Grad auf ihre Exporte und exportiert damit faktisch auch Arbeitslosigkeit und soziale Probleme.

Wie groß ist die Gefahr eines Abdriftens der Weltwirtschaft in eine neuerliche Rezession wie nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers vor fast genau drei Jahren?

Es gibt drei Risikofaktoren. Der erste ist ein neuerliches Absinken der Wirtschaft in wichtigen Industrieländern in eine Rezession nach dem kurzen Zwischenaufschwung, ein sogenannter Double Dip. Der zweite Punkt ist, dass die Gefahr einer neuen Kernschmelze im Finanzsektor keineswegs gebannt ist, sondern dass nach wie vor eine äußerst kritische Situation vorliegt. Und der dritte Faktor ist die Gefahr, dass eine Massenarbeitslosigkeitskrise wie in den 30er Jahren wiederkehrt – die Anzeichen in Südeuropa gehen in diese Richtung. Deutschland steht zwar verglichen mit anderen Ländern relativ gut da, aber weltweit ist die Zunahme der Arbeitslosigkeit enorm. Und mit der jüngsten Verschlechterung der Wirtschaftsaussichten wird es weiterhin eine zunehmende Arbeitslosigkeit geben. Es ist ganz interessant, dass Christine Lagarde in ihren Reden als dritte Herausforderung immer diesen Punkt wachsender sozialer Spannungen nennt, um die sich der IWF heutzutage auch kümmern müsse.

Weltbankchef Robert Zoellick befürchtet ein Übergreifen der Krise auf die Schwellenländer. Begründet?

Die Gefahr besteht. Die Schwellenländer schauen etwas ratlos auf die Unfähigkeit der Europäer oder der US-Amerikaner, ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu kriegen. Sie sind sich sehr wohl dessen bewusst, dass eine generelle Verschlechterung der Wirtschaftsaussichten in den nördlichen Industrieländern auch Rückwirkungen auf sie haben wird.

Viele dieser Länder sind hochgradig abhängig von Exporten in die Industrieländer. Ein Einbruch im Norden zieht auch einen Einbruch im Süden nach sich. Die Schwellenländer sind Abwärtsrisiken ausgesetzt, wenngleich in dem neuen Ausblick auf die Weltwirtschaft, dem »World Economic Outlook«, gesagt wird, sie seien nicht in dem Maße krisengefährdet wie der industrialisierte Norden.

Interessant ist, dass sich die Positionen auf internationaler Ebene gewendet haben. Jetzt wird darüber diskutiert, dass China und selbst Brasilien den Europäern mit Kapital helfen könnten, während vor einiger Zeit die Europäer noch versucht haben, China zu kolonialisieren. Das ist eine sehr spannende Entwicklung.

Zahlen und Fakten: IWF und Weltbank

Am 22. Juli 1944 wurden im US-amerikanischen Bergdorf Bretton Woods die Grundpfeiler der Finanzordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzt: der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank.

Der IWF wurde als Hüter eines globalen Währungssystems mit festen, an die Leitwährung US-Dollar geknüpften Wechselkursen, geschaffen. Das System scheiterte 1973, weil USA-Präsident Richard Nixon im Zuge des teuren Vietnam-Krieges die Golddeckung aufhob, die seit Bretton Woods garantierte, dass Dollars von den USA jederzeit zu einem festen Kurs in Gold umgetauscht wurden. Die Wechselkurse wurden flexibilisiert und der Dollarkurs stürzte ab.

Seitdem dominieren flexible Wechselkurse und Währungskrisen in Schwellenländern – wie in Mexiko 1995, Südasien 1997, Russland 1998, Brasilien 1999, Argentinien 2001. Hohe Zeit für den IWF, der den Staaten mit Krediten aushilft, damit sie ihre Gläubiger bedienen können. Derzeit entfallen freilich 80 Prozent der Kreditsumme von 110 Milliarden US-Dollar auf Ost- (knapp 53 Prozent) und Westeuropa (26,6 Prozent).

Beim Beitritt zum IWF zahlt jedes Land eine gewisse Geldsumme, die sogenannte Quote. Die Höhe der Quote wird anhand der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Staates berechnet. Gleichzeitig wird durch diese Quote bestimmt, inwieweit der jeweilige Staat ein Mitspracherecht bei Entscheidungen hat und wie groß sein Kreditlimit ist. Trotz einer Stimmrechtsreform zugunsten von Schwellenländern dominieren die Industriestaaten. Die USA haben mit ihrem Anteil nach wie vor Vetorecht. ML



* Aus: Neues Deutschland, 23. September 2011


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