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"Un´altro mondo č possibile!" - "Eine andere Welt ist möglich!"

Europäisches Sozialforum in Florenz: Das Treffen der Bewegungen - Drei Nachbetrachtungen

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus drei Artikeln, die unmittelbar nach dem Europäischen Sozilaforum in Florenz in verschiedenen Zeitungen erschienen.


Harmonie in der offenen Stadt

Daniel Stern


Es ist schwer abzuschätzen, was zwischen dem 6. und 10. November am Europäischen Sozialforum in Florenz entstanden ist. Einiges deutet darauf hin, dass hier eine europäische Bewegung gegen den Krieg, den Neoliberalismus und die soziale Ausgrenzung geboren wurde. Dass dieses Treffen ein historisches war und die Konstituierung einer vernetzt agierenden, europäischen Linken massgeblich vorantreibt. Einer europäischen Linken, die sich nicht nur zu Grossdemonstrationen gegen Gipfeltreffen trifft, sondern wirklich auch eine gemeinsame Sprache entwickelt und sich auf gemeinsame Ziele verständigen kann. Doch wenn zehntausende aus allen Teilen Europas zusammenkommen und an drei Tagen über 400 Veranstaltungen stattfinden, dann lässt sich ein Resümee nicht einfach ziehen, zumal allgemein zugängliche Zusammenfassungen der Workshops und Seminare fehlen. Auf jeden Fall ist klar: Florenz war kein linkes Pfaditreffen und auch nicht einfach ein Abklatsch des Weltsozialforums von Porto Alegre.
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Die Zahl der TeilnehmerInnen in Florenz wächst täglich. Nachdem die Organisatoren ursprünglich 15 000 Leute erwartet hatten, schreiben sich bis Donnerstagmittag bereits 28 000 ins Register ein. Bis zum Samstag werden es 60 000 sein. Dennoch bricht kein Chaos aus. Überall stehen HelferInnen, achten darauf, dass sich die Säle nicht gefährlich überfüllen, und erteilen Auskünfte. Die Stadt Florenz hat für das Sozialforum alle möglichen Räume zur Verfügung gestellt. Das repräsentative Kongresszentrum kann genauso benützt werden wie das Kulturzentrum im ehemaligen Bahnhof Leopolda. Die Bewegung der Disobbedienti hat sich in der Radrennbahn eingerichtet. Die «Ungehorsamen», die früher unter dem Namen Tute Bianche agierten, sind in Italien stark in den «Centri Sociali», den autonomen Zentren der Städte, verankert. Sie betreiben während des Forums die Fernsehstation Global-TV. In der Radrennbahn haben sie Schlafsäle und Verpflegungsmöglichkeiten eingerichtet, nebenan läuft der Discobetrieb.

... Im Hauptgebäude ist eine Art Buchmesse im Gang, wo die linken Verlage Italiens ihre Neuerscheinungen präsentieren. Daneben finden sich Infostände politischer Gruppen, von den griechischen Kommunisten bis zur WWF-Sektion Toscana.
Zwar dominiert in der Menge die italienische Sprache, doch auch aus Deutschland, Spanien, Griechenland, Britannien, Frankreich und Griechenland sind jeweils weit über 1000 BesucherInnen angereist. Auch auf BesucherInnen aus der Schweiz trifft man hin und wieder: Ein Trio der Partei der Arbeit aus Zürich kreuzt den Weg, die beiden Gewerkschaftspräsidenten Eric Decarro (VPOD) und Christian Tirefort (Comedia) sitzen im gleichen Seminar, oder man stolpert in einen Workshop zum Thema Steuerflucht und Steuerparadiese, organisiert von MitarbeiterInnen der Erklärung von Bern und der Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke. Später, am Freitag, das Gewühl ist inzwischen merklich angestiegen, tauchen auch noch zwei Vertreter der Anti-WTO-Koordination aus Bern auf. Die italienischen Zöllner verwehrten ihnen am Mittwoch die Einreise. Die beiden Berner weigerten sich, in den Retourzug zu steigen, solange keine schriftliche Begründung für die Ablehnung vorliege. Es folgten eine Anklage wegen Körperverletzung und die Inhaftierung in der Arrestzelle des Polizeipostens von Domodossola. Am nächsten Tag verfügte eine Richterin jedoch, dass die Einreiseverweigerung nicht statthaft gewesen sei. Am Forum sind noch viele solcher Geschichten zu hören; rund 1000 Leute sollen an der italienischen Grenze zurückgewiesen worden sein. In Florenz dagegen ist die Atmosphäre entspannt: Dafür sorgen nicht zuletzt die Behörden und BewohnerInnen der Stadt. Bürgermeister Leonardo Domenici nimmt selbst an mehreren Veranstaltungen teil, genauso wie auch der Präsident der Region Toscana, Claudio Martini. Die Verkehrsbetriebe von Florenz geben für die Zeit des Forums ein vergünstigtes Generalabonnement aus und begrüssen die Gäste auf Flugblättern. Die Museen der Stadt gewähren während der vier Tage allen ForumsteilnehmerInnen freien Eintritt. Viele Geschäfte hängen Schilder aus: «Florenz – offene Stadt». Das ist durchaus demonstrativ gemeint, hatte doch der italienische Regierungschef Berlusconi wochenlang vor dem absehbaren Chaos gewarnt und die bekannte Schriftstellerin Oriana Fallaci gar den Einfall der Hunnen beschworen. Die Kulturgüter der Stadt seien gefährdet. Doch das war reine Panikmache: Die 6000 von Rom in die Stadt abkommandierten Carabinieri stehen gelangweilt an den strategisch wichtigen Punkten, und jene Ladenbesitzer, die ihre Geschäfte zusperrten und verbarrikadierten, verpassen ein lukratives Extrageschäft in der Nebensaison.

... Die Veranstaltungen haben oft den Charakter der Informationsvermittlung. Etwa, wenn Markus Drake aus Helsinki über den Sozialabbau und die Ausgrenzung von Papierlosen in Finnland erzählt. Auch in Helsinki gebe es seit dem Sommer ein Ausschaffungsgefängnis. Seine autonome Gruppe versucht den Ausgegrenzten eine Stimme zu geben und blockiert immer am 6. Dezember, dem finnischen Unabhängigkeitstag, den Festsaal, in dem sich der Staatspräsident mit den Honoratioren des Landes versammelt. Solche Beispiele deuten darauf hin, dass die Repression gegen Flüchtlinge inzwischen zum europäischen Standard geworden ist, gerade auch in Skandinavien, wo doch im Übrigen, so Drake, «das Maximum an Sozialstaat umgesetzt ist, das sich die EU-Mächtigen überhaupt vorstellen können». Auch die Stimmen von Papierlosen selbst sind an dieser Veranstaltung zu hören, ansonsten sind sie am Forum wenig präsent.
Manche Veranstaltungen erinnern an einen Wettbewerb in feuriger Rhetorik. Beim Treffen von GewerkschaftsführerInnen mit Leuten der Antiglobalisierungsbewegung fordert der Sprecher der italienischen Basisgewerkschaften Cobas, Piero Bernocchi, unter tosendem Applaus, einen europaweiten Streik gegen den Krieg zu organisieren. Wieder andere Veranstaltungen sind bewegend und liefern zugleich Argumente für die politische Auseinandersetzung: 4000 Leute besuchen am Samstagmorgen ein Podium gegen den Krieg. Schon vor seiner Rede erhält dabei der 87-jährige Pietro Ingrao, ehemaliger Parlamentspräsident Italiens und eine lebende Legende der italienischen Linken, eine stehende Ovation. Ingrao attackiert die italienische Regierung: Sie begehe Verfassungsbruch, weil sie US-Präsident George Bush auf seinem Kriegskurs gegen den Irak unterstützt. An der gleichen Veranstaltung spricht auch die Generalsekretärin von Amnesty International, Irene Khan. Sie erzählt die Geschichte dreier Morde. Drei genau recherchierte, himmeltraurige Geschichten aus Kolumbien, Tschetschenien und den Philippinen, wie Menschen von Soldaten der Staatsmacht ermordet wurden. Ihr Fazit: «Den Krieg gegen den Terror benützen verschiedene Staaten als Lizenz, sich nicht mehr an die Gesetze zu halten.»

Was generell auffiel: Die Veranstaltungen waren von grosser Toleranz geprägt, von gegenseitigem Respekt und dem Willen, einander zuzuhören. Die Erfahrungen der italienischen Linken haben das Sozialforum beeinflusst. Während die Mitte-links-Parteien des Ulivo-Bündnisses nicht genug davon kriegen, sich gegenseitig auszutricksen, und so der Rechtsregierung unter Berlusconi alle Freiräume lassen, haben andere ihre früheren Grabenkämpfe überwunden. Die Zusammenarbeit zwischen den linken Gewerkschaften CGIL, den Cobas, der Linkspartei Rifondazione Comunista, den Disobbedienti sowie kulturellen und pazifistischen Gruppen zeigte sich auch am Erfolg der grossen Abschlussdemonstration gegen den drohenden Angriffskrieg auf den Irak.

... Von allen abgelehnt werden der Krieg, der Neoliberalismus und der Rassismus. Das tönt zwar relativ platt, auf dieser Basis sind jedoch verschiedene Kampagnen entwickelt worden.
So wird am 15. Februar in ganz Europa zu einem Aktionstag gegen den Krieg aufgerufen; Ziel ist, dass 10 Millionen auf die Strasse gehen. Auch zum Bereich Bürgerrechte gibt es konkrete Vorstellungen: Geplant ist ein europäischer Marsch der Ausgegrenzten. Zudem sollen Vorschläge für eine Änderung der EU-Charta erarbeitet werden, welche die Rechte der MigrantInnen und sozial Benachteiligten besser berücksichtigen soll. Weiter werden auch die Demonstrationen und Aktionen gegen die Gipfeltreffen weiterlaufen; die Nato-Tagung in Prag (21. und 22. November), der EU-Gipfel in Kopenhagen (13. bis 15. Dezember), das Weltwirtschaftsforum in Davos (23. bis 28. Januar 2003) und im Juni 2003 der G8-Gipfel in Evian (1. bis 3. Juni 2003) sind die nächsten Ziele.

... Ob all der Suche nach dem Gemeinsamen ist die Debatte über die Unterschiede etwas untergegangen. An den grossen Veranstaltungen machte es oft den Anschein, dass von den OrganisatorInnen Widersprüche bewusst vermieden wurden. Harmonie war angesagt, Streit durfte nicht sein. Dabei droht, dass die Bewegung aneinander vorbei agiert und sich so längerfristig spaltet. Es wäre genau die Aufgabe des Sozialforums, auch die Unterschiede herauszuarbeiten. GewerkschafterInnen, die sich gegen Sozialdumping wehren, müssen mit MigrantInnen-Gruppen, die offene Grenzen fordern, ihre Positionen ausdiskutieren. UmweltschützerInnen müssen mit den Beschäftigten in der Chemie-, Auto- oder Erdölindustrie zusammenkommen. Europäische Bauernorganisationen, welche hier den einheimischen Markt schützen wollen, mit Bauern und Bäuerinnen aus Asien oder Afrika, die den europäischen Protektionismus als ungerecht empfinden. Genau solche Diskussionen fanden nicht statt, sollten nicht sein. ...

Aus: Wochenzeitung Woz, 14. November 2002


New Globals in Florenz

Matthias Zucchi


Die von der römischen Regierung geschürte Hysterie vor dem Europäischen Sozialforum in Italien hatte unter anderem einen paranoiden Aufruf der Journalistin Oriana Fallaci (Autorin des anti-islamischen Bestsellers Die Wut und der Stolz) zur Folge: Zum Zeichen "der Trauer über die moralische Vergewaltigung der Stadt" sollten die Läden in Florenz geschlossen bleiben wie "1922, als Mussolinis Faschisten zum Marsch auf Rom aufbrachen", hatte sie gefordert. Doch am vergangenen Wochenende suchte man an Restaurants und Geschäften der Innenstadt vergebens nach den von Fallaci angemahnten Hinweisschildern "Wegen Trauerfall geschlossen".

Eine Gleichsetzung Hunderttausender Globalisierungskritiker mit dem Faschismus war nicht nur ein ungeheuerlicher Affront, sie wollte offenbar auch keinem so recht einleuchten. Ein Teil der Florentiner Kaufleute sympathisierte hingegen ganz offen mit den Demonstranten. Sogar im Schaufenster einer luxuriösen Modeboutique an der Arno-Promenade prangte ein Schild mit dem Motto des Forums "Un´altro mondo č possibile!" (Eine andere Welt ist möglich). Nein, die Bürger der toskanischen Kapitale haben sich nicht verunsichern lassen; sie haben sich unter die Demonstranten gemischt, sich auf den Balkonen und an den Fenstern ihrer Wohnungen gedrängt, um eigene Spruchbänder gegen einen Krieg im Irak zu schwenken, und die Vorbeiziehenden als Zeichen der Solidarität mit Getränken versorgt. Florenz spiegelte das erstarkende Selbstbewusstsein einer jungen, optimistischen Bewegung, die ihr Recht auf Mitbestimmung fordert - nicht nur in Italien, sondern überall. Die Saat der Angst, mit der Berlusconis Rechtspopulisten das Forum der new globals diskreditieren wollten, ist nicht aufgegangen. Zweifellos war das auch den lokalen Ordnungskräften zu verdanken. Das mit den Begriffen "Dialog, Toleranz, Vertrauen und Verantwortung" operierende Polizeikonzept, entworfen in bewusster Abgrenzung zur Abschreckungsdoktrin von Genua während des G 8-Gipfels 2001, hat sich in Florenz glänzend bewährt. Die verbalen Steißbeintrommler in Rom sahen sich einmal mehr Lügen gestraft: Für Schläger war in Florenz kein Platz - auf keiner Seite.

Die Wut Hunderttausender angesichts einer Globalisierung, die das Faustrecht zum moralischen Grundprinzip erhebt - und ein erneuter Golfkrieg wird als eklatantes Symptom dieser Hybris gesehen - ist zu groß geworden, um still und demütig vor dem hysterischen Alarmismus und der selbstgewissen Arroganz der Regierenden zu kapitulieren. In Italien, wo ein milliardenschwerer Premier unverhohlen und unbehindert den Eigennutz einer kleinen Schar skrupelloser Geschäftemacher zum Gemeinnutz erklärt hat, ist diese Wut vielleicht stärker als im übrigen Europa.

Aber den italienischen Globalisierungskritikern ist es eben auch gelungen, endgültig den toten Winkel der vermeintlich verantwortungslosen Neinsager zu verlassen, den ihnen die neue Rechte und die etablierte Linke unisono zugewiesen hatten. Neben Romano Prodi erklärten auch Italiens Präsident Carlo Ciampi und der christdemokratische Parlamentsvorsitzende Pierferdinando Casini nach Florenz, man müsse sich wohl doch seriöser und konstruktiver mit der Forderung nach einer "anderen Globalisierung" beschäftigen.

Aus: Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung 47, 15.11.2002


In Florenz trat eine neue Generation an, um die Welt zu verändern Nach seiner Premiere in Italien findet das Europäische Sozialforum 2003 in Paris seine Fortsetzung

Von Erhard Crome*


Das Europäische Sozialforum vom 6. bis 10.November in Florenz hat Zehntausende angezogen. Am Ende haben etwa 50000 Menschen an dem Forum teilgenommen, über eine halbe Million, manche sagen fast eine Million Menschen, waren am 9.November an der großen Demonstration gegen den angekündigten Krieg der USA gegen Irak beteiligt.
Mit strahlendem Lächeln sagte einer der italienischen Organisatoren am Ende: »Florenz war der Ursprung des Humanismus, heute ist es der Ausgangspunkt für eine neue emanzipatorische Bewegung.« Für alle, die nach dem Ende des Realsozialismus nur noch Zynismus für Ideen einer großen Gesellschaftsveränderung aufbringen, mag dies befremdlich klingen. Aber vielleicht ist es ja doch so. Das Motto des Forums: »Ein anderes Europa ist möglich«, hat auch deshalb seine große Attraktivität bewiesen, weil es eine positive Identifikation des politischen Handelns möglich macht. Das Weltsozialforum in Porto Alegre, das dort vom 31. Januar bis zum 5. Februar 2002 zum zweiten Mal stattgefunden hatte, regte an, regionale Sozialforen zu veranstalten. Das europäische war nun das in Florenz. Vorbereitet wurde es auf europaweiten, offenen Vorbereitungstreffen in Brüssel, Wien, Thessaloniki und zuletzt Anfang Oktober in Barcelona. Dort hatten sich wieder etwa 250 Menschen versammelt, um Zielrichtung, Programm und Organisation des Sozialforums zu debattieren und abschließend zu fixieren. Eine international zusammengesetzte Programmgruppe sowie eine internationale Organisationsgruppe arbeiteten eng mit den italienischen Organisatoren zusammen.

Alternative zur derzeitigen Welt neoliberaler Globalisierung

Die Vorbereitung war zuweilen Zeit raubend und kompliziert, waren doch Akteure sehr unterschiedlicher Gruppen, Initiativen und Bewegungen zusammengekommen, um gemeinsam für den Erfolg des Forums zu sorgen: Globalisierungskritiker, Umweltschützer, Gruppen von Schwulen und Lesben, Wissenschaftler-Initiativen, Gewerkschafter, Menschenrechtsgruppen, kirchliche Gruppen für den Frieden und Dritte-Welt-Gruppen, bildungspolitische Initiativen und vor allem die Friedensbewegungen trugen gemeinsam dieses Sozialforum.

Gemäß der Charta von Porto Alegre konnten Parteien nicht als solche an dem Sozialforum teilnehmen, wenngleich Mitgliedern politischer Parteien, die in sozialen Bewegungen aktiv sind, selbstverständlich die Mitwirkung nicht verwehrt werden sollte. Insofern ist das Gewicht der linken politischen Parteien in Europa gewiss Teil des Europäischen Sozialforums, aber nicht als solches zu umreißen.

Es ist in dieser Breite das erste Mal – zumindest seit dem historischen Einschnitt von 1989/90 –, dass eine Bewegung den Wunsch und den Willen artikuliert, eine Alternative zu der derzeitigen Welt der neoliberalen Globalisierung und des Krieges zu erstreben. Diese Breite wurde durch den langwierigen und trotz aller Auseinandersetzungen geduldig gemeinsam realisierten Vorbereitungsprozess möglich gemacht; niemand wurde ausgegrenzt, jeder konnte sich einbringen.

Auch wenn das endgültige Programm erst im Oktober feststand und wichtige organisatorische Feinheiten erst in den letzten Wochen geklärt werden konnten, war doch eine beeindruckende Reihe von Rednerinnen und Rednern aus vielen Ländern der Welt zusammengekommen, die Wichtiges zur Analyse der gegenwärtigen Welt und über die Kämpfe um Gerechtigkeit und Frieden in den verschiedenen Ländern mitteilen konnten. Auf der Teilnehmer-Seite war bemerkenswert der hohe Anteil junger Menschen. Raffaella Bolini, die die italienische Organisationsgruppe geleitet hatte, sagte dazu: »Hier in Florenz ist eine junge Generation angetreten, die bereit ist, die Welt zu verändern.«

Das Konferenzzentrum in der Fortezza da Basso verfügt allein schon über mehrere Säle mit bis zu 5000 Plätzen sowie zahlreiche kleinere Räume, die bis zu 500 Plätze haben. Weitere Veranstaltungsorte in der Stadt kamen hinzu. So fanden an drei Tagen – Donnerstag bis Sonnabend – am Vormittag jeweils sechs große Konferenzen mit jeweils mehreren tausend Teilnehmern statt. Sie wurden, wie in Thessaloniki und Barcelona beschlossen war, um drei inhaltliche Achsen gruppiert: Globalisierung und Liberalismus, Krieg und Frieden sowie Bürgerrechte, Menschenrechte und Demokratie. Die Konferenzen wurden in Verantwortung des italienischen Vorbereitungskomitees in Verbindung mit der internationalen Arbeitsgruppe inhaltlich konzipiert und mit jeweils unterschiedlichen Rednern aus verschiedenen Ländern besetzt. Zugleich boten sie vielfältig Raum für Diskussionen. Nachmittags fanden jeden Tag bis zu 50 Seminare und Workshops statt, die von teilnehmenden Organisationen oder Gruppen vorbereitet wurden.

Vielfältige Themen und heterogene Gruppen

Abends wurden Diskussionsangebote gemacht, so unter der Rubrik: Dialoge zum Verhältnis von »neuen« sozialen Bewegungen einerseits und politischen Parteien, »alten« Gewerkschaften und politischen Institutionen andererseits. Unter dem Gesichtspunkt: »Alternativen« wurden gewaltloser Widerstand, ziviler Ungehorsam und neue Erfahrungen bei der Austragung sozialer Konflikte debattiert. Wie kann der Sozialstaat verteidigt werden? Was ist mit dem Schutz der Rechte aller Menschen in Europa? Unter dem Motto »Windows« schließlich wurden die Problemlagen im Mittelmeerraum, in Lateinamerika, die Rolle der Religionen, die Situation in Afrika und vor allem der Nahostkonflikt erörtert. Betroffene aus den Regionen selbst berichteten über die Lage. Solidarität war das wichtigste Fazit der Teilnehmenden. Globalisierung heißt auch: Es gibt spätestens jetzt kein fremdes Leid mehr.

Ein Hauptpunkt des Forums war die Ablehnung des neuerlichen Krieges, nun der USA und ihrer Föderaten gegen Irak, nicht nur in Gestalt der riesigen Demonstration am Sonnabend, sondern auch in vielen der Diskussionen. Niemand stellte mehr die Frage, ob er denn kommen wird, sondern die Debatte ging darum, wann er kommt, mit welcher Gewalt und was dagegen zu tun ist. Wird er im Februar ausbrechen? Welche Verantwortung tragen die europäischen Regierungen? Einhelliges Fazit war: Wenn wir Bush schon nicht in den Arm fallen können, so können wir doch den europäischen Regierungen das Mittun so schwer wie möglich machen. Und es wurde auf die unterschiedlichen Erfahrungen in den verschiedenen europäischen Ländern seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien verwiesen: Überall dort, wo ohne Wenn und Aber gegen den Krieg mobilisiert wurde, kam es zu großen Demonstrationen und Willensbekundungen der Friedensbewegung. Wo jedoch mit einerseits und andererseits hantiert wurde und – sachlich zutreffend – darauf verwiesen wurde, dass Milosevic, wie jetzt Saddam Hussein, ein Schurke ist, kam es nicht zu einer massenhaften Bewegung, blieb die Friedensbewegung eigenartig zahnlos.

Ein Charakteristikum des Sozialforums war, dass auch über neueste Entwicklungen sehr kenntnisreich debattiert wurde. So ging es in mehreren Veranstaltungen um die neoliberalen Planungen, nach dem Scheitern des Internationalen Investitionsschutzabkommens (MAI) über die Welthandelsorganisation (WTO) das so genannte GATS-Abkommen (Handel mit öffentlichen Dienstleistungen) unter Dach und Fach zu bringen. Immer rascher sind auch in Europa die Politiker dabei, Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, öffentlichen Nahverkehr und vor allem das Trinkwasser zu verkaufen. Das GATS-Abkommen soll bis 2005 weltweit bindend Gültigkeit erlangen. Die Unterschrift eines Landes unter dieses Abkommen würde den Ausverkauf öffentlicher Güter dauerhaft festschreiben. Wesentliche Lebensbereiche, Schule, Gesundheit, Sozialeinrichtungen wären von Profitmaximierung allein bestimmt. Die EU-Kommission wird demnächst das »Angebot« der EU zu den Privatisierungen in diesem Bereich machen.

All dies geschieht hinter verschlossenen Türen. Insofern ist das Mindesterfordernis, so die europäischen Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten auf dem Forum, diesen Prozess transparent zu machen. Gerade hier zeigt sich, dass Kapitalismus und Demokratie eben nicht zusammengehören, wie von den Ideologen der Kapitalordnung immer gern behauptet, sondern der Neoliberalismus am liebsten autoritär über die Köpfe der Menschen hinweg herrscht, während Demokratie immer wieder neu von unten errungen werden muss. Ein hervorragendes Mittel gegen den Ausverkauf der Einrichtungen der Daseinsvorsorge, so die Aktivisten der deutschen Anti-GATS-Bewegung in Florenz, sind übrigens Volksentscheide auf kommunaler Ebene.
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* Dr. Erhard Crome ist Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Aus: Neues Deutschland, 16.11.2002


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