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Es ist etwas faul im Kasino

Wirtschaftsexperten und soziale Bewegungen fordern Umdenken

Von Susanne Götze *

Die Kritik aus den sozialen Bewegungen am G20-Finanzgipfel wird lauter: Wirtschaftsexperten und Globalisierungskritiker fordern eine schonungslose Analyse des herrschenden Finanzsystems.

Die Finanzkrise ist eine Systemkrise. Die Ursachen des Bankenkollapses liegen nicht nur in der menschlichen Gier, sondern auch im Aufbau des kapitalistischen Kasinos selbst. Das Krisenmanagement der reichsten G20-Länder reiche deshalb kaum aus, mahnten Wirtschaftsexperten und Vertreter sozialer Bewegungen auf einer vom Verein WEED (World Economy, Ecology and Development) und dem Evangelischen Entwicklungsdienst Anfang der Woche organisierten Konferenz am Montag in Berlin. Man müsse vielmehr den Ursachen auf den Grund gehen.

»Meine Kollegen haben bis heute oft nicht die Tücken des Systems durchschaut«, erklärte der Ökonom Stephan Schulmeister vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. »Deshalb geht es für mich darum, die Widersprüche aufzuzeigen.« Der Finanzmarktkapitalismus sei ein schlechtes Spiel, das schon lange sehr viel Schaden anrichte. Das Einzigartige dieser Krise sei die historisch große Kluft zwischen der Realwirtschaft und der immensen Dynamik des Handels von Werten am internationalen Finanzmarkt, so Schulmeister. Weiter erklärte er, dass allein in Deutschland, das sehr stark beteiligt sei, im Bereich des Derivatehandels das Sechzigfache des Bruttoinlandsproduktes bewegt werde. Durch das Credo »Lass dein Geld arbeiten«, das die letzten 20 Jahre geherrscht habe, sei es zu einer Verselbstständigung des finanziellen Sektors gekommen.

Der indische Wirtschaftsforscher Kavaljith Singh berichtete, dass die Zahl der privaten Anlagen auf dem Subkontinent seit 2002 massiv zugenommen habe. Innerhalb von sechs Jahren sei in seinem Land allein das in Private-Equity-Fonds (Beteiligungsgesellschaften) investierte Geld von 2 auf 17 Milliarden Dollar gestiegen.

Doch das war keineswegs immer so: Noch in den 70er Jahren habe der Finanzsektor als Geldgeber der Produktion gedient, so Peter Wahl von WEED. Heute dagegen sei alles auf die Finanzwirtschaft ausgerichtet – das große Geld lasse sich nicht mehr mit einer Fabrik, sondern mit einem virtuellen Zertifikat machen. Die Folgen ließen sich an der Serie von Krisen – von der ersten Schuldenkrise 1980 in Mexiko bis hin zur Asienkrise und der New-Economy-Blase Ende der 90er Jahre ablesen, sagte Wahl. Langfristig führe dieser pervertierte Finanzkapitalismus vor allem zu Instabilität, steigender ungleicher Verteilung, einem Zurückdrängen der Politik und damit zu einer Erosion der Demokratie.

Welche Auswirkungen die derzeitige Krise auf Schwellen- und Entwicklungsländer haben wird, lässt sich momentan nur vermuten. Yilmaz Akjüz, der als Wirtschaftsexperte für die Vereinten Nationen arbeitet, betonte, die Folgen werden, je nachdem wie die Staaten ins internationale Finanzsystem eingebunden seien, sehr unterschiedlich sein. Die Krise könne die Länder vor allem über den Verlust von Wertpapieren, den erschwerten Zugang zu Kapital und die Auswirkungen von spekulativen Blasen treffen. So sei Chile mit seinen Pensionsfonds an internationaler Spekulation beteiligt. Durch geringes Wachstum in den Industrieländern könnte es dann zu weniger Investitionen oder auch zum Abzug von Kapital aus den Ländern kommen. Auch die Handelsbedingungen könnten betroffen sein.

In Lateinamerika, schätzt UN-Experte Akjüz, werde das ohnehin schwache Wachstum weiter nachlassen. »Durch die gefallenen Rohstoffpreise werden die exportabhängigen Staaten vermutlich hart getroffen. Anders dagegen in Asien: Länder wie China könnten die sinkende Nachfrage aus Europa dadurch abfedern, dass sie ihren eigenen Konsum stärken. Dafür müsste der Staat Geld in die Infrastruktur investieren und die Binnennachfrage fördern. In afrikanischen Staaten südlich der Sahara erwartet Akjüz auch weniger Wachstum, doch seien viele Staaten weniger mit der internationalen Wirtschaft verflochten. Bereits heute sei klar, dass ärmeren Ländern die verminderte Investitions- und Kreditvergabe zu schaffen machen wird.

* Aus: Neues Deutschland, 20. November 2008


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