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Mit Keynes gegen die bevorstehende Wirtschaftskrise?

Über diese Streitfrage debattieren: Dr. Werner Seppmann, Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung, und Dr. Arne Heise, Professor für Finanzwissenschaft an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik


Grenzen des kapitalistischen Krisenmanagements

Von Werner Seppmann *

Aktuell ausgebrochen ist natürlich mehr als eine »Finanzmarktkrise«: »Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch die Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansahen.« (Marx) Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Krise der profitorientierten Organisation von Ökonomie und Gesellschaft, deren bedrohliche Konturen schon lange sichtbar sind. Denn hinter der Fassade des neoliberalistischen Strohfeuers, an dem sich nur ein Kreis Auserwählter wärmen konnte, verschlechterten sich die Lebensverhältnisse für große Bevölkerungsteile. Für sie ist die Krise in der Form von Arbeitsplatzunsicherheit und sozialen Rückstufungen schon seit Jahren Realität: In großem Tempo breiteten sich mit den Demütigungszonen der Arbeitslosigkeit und Randständigkeit Bedürftigkeit und Zukunftsängste aus.

Dass in der EU mehr als 70 Millionen Menschen in Armut leben (darunter mehr als 2,5 Millionen Kinder alleine in der BRD), ist alles andere als eine »Entgleisung« des neoliberalistischen Umgestaltungsstrebens. Solche Zustände sind sowohl die Konsequenzen eines radikalisierten Modells der Kapitalverwertung als auch eine willkommene Drohkulisse, um die Lohnabhängigen einzuschüchtern: Die Allgegenwart existenzieller Bedrohung soll ihre Verzichts- und Anpassungsbereitschaft sicherstellen.

Die Verstärkung seiner Machtposition durch ein wachsendes Arbeitslosenheer in Kombination mit der Neugestaltung der internationalen Arbeitsteilung (»Globalisierung«) wurde vom Kapital konsequent ausgenutzt, um Zugeständnisse, die in früheren Prosperitätsphasen gemacht werden mussten, aufzukündigen. Der Anteil der Lohnabhängigen an dem von ihnen geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum sollte entscheidend reduziert werden. Das ist auch gelungen: Alleine in dem relativ kurzen Zeitraum von 2000 bis 2006 wurde in der BRD die »Lohnquote« (Anteil der abhängig Beschäftigten am Bruttosozialprodukt) um über zehn Prozent hinuntergedrückt. Dadurch reduzierte sich das Masseneinkommen um jährlich 130 Milliarden Euro! Durch beträchtliche Steuerentlastungen für die Wohlhabenden wurde der Umverteilungseffekt noch verstärkt. Es sind diese »Erfolge« der neoliberalistischen Offensive, die ihren Anteil an der Entstehung jener Kapitalmassen haben, durch die solche Spekulationsblasen, die jetzt mit lautem Knall platzen, erst ermöglicht wurden.

Über den Charakter kapitalistischer Krisen herrschen meist verzerrte Vorstellungen. Sie lassen zwar ein mögliches Ende des Kapitalismus erahnen, gewöhnlich werden in solchen Umbruchphasen jedoch ökonomische Ungleichgewichte und strukturelle Verzerrungen beseitigt und durch die Verunsicherung der Lohnabhängigen die Machtpositionen des Kapitals gestärkt. Maßnahmen zur Kriseneindämmung haben meistens einen Haken: Sie beseitigen nicht die Ursachen, sondern bekämpfen die Symptome. Die inneren Widersprüche des Kapitalismus werden nicht beseitigt. Vorübergehende Erfolge werden mit der Gefahr intensiverer Verwerfungen in der Zukunft erkauft.

Ob die aktuell in Panik geschnürten Maßnahmepakete zugunsten der Banken im Sinne der Systemstabilisierung erfolgreich sein werden, steht in den Sternen. Auch wenn die fast unbegrenzte Kapitalzufuhr ihre erhofften Wirkungen entfalten sollte, dürften die Rettungsmaßnahmen nur zeitlich begrenzte Effekte haben, weil auf die entscheidenden Probleme noch nicht einmal ansatzweise reagiert wurde: Die Krise ist ausgebrochen, weil die in wenigen Händen konzentrierten Kapitalmassen wertbildend nicht mehr investiert werden konnten und deshalb in einem, sich immer weiter von realen Wirtschaftsabläufen entfernenden, Spekulationskreislauf »zwischengelagert« wurden. Dadurch konnte zwar die für den Kapitalismus lebenswichtige Illusion aufrechterhalten werden, dass die angehäuften Geldmassen in ihrer Gänze noch profitabel verwertet werden könnten. Doch gelang das nur durch zunehmend spekulative »Finanzprodukte«.

Reagiert wird aus der Not heraus mit einer weiteren Geldzufuhr, die schon mittelfristig die Spekulationsspirale auf einer »höheren« Stufe wieder in Gang setzen wird. Konjunkturelle Stabilisierungseffekte dürften von den Liquiditätstransfusionen und staatlichen Bürgschaftserklärungen nicht ausgehen. Mit der Forderung nach einer beschäftigungspolitischen Flankierung der Rettungsmaßnahmen für das Finanzkapital wird auf diese Situation reagiert. Jedes Programm eines an den Interessen der Lohnabhängigen orientierten ökonomischen Interventionismus muss konzeptionell in Rechnung stellen, dass sich die Bedingungen für »wohlfahrtsstaatliche« Entwicklungen jedoch verschlechtert haben.

Das Knirschen im Finanzsystem ist auch Ausdruck der Tatsache, dass der Risikokapitalismus immer beträchtlichere Ressourcen verschlingt, um seine Reproduktionsfähigkeit sicherzustellen: Immer mehr privatwirtschaftlich verursachte Kosten, angefangen vom Raubbau an Mensch und Natur sowie einem konkurrenzgeprägten und ziellosen »Innovationsstreben« über die Folgelasten profitorientierter Arbeitsplatzvernichtung bis zu den Milliardensummen, die den Zusammenbruch des Finanz- und Verwertungskreislaufs verhindern sollen, werden »vergesellschaftet«. Unmittelbarer Ausdruck dieser Entwicklung ist eine globale Wohlstandsreduktion, also einem Aspekt, der im Keynesianismus nicht thematisiert wird.

Die ökonomischen und sozialen Bewegungsspielräume für einen »klassischen« Reformismus sind dadurch enger geworden -- jedoch nicht gänzlich verschwunden! Ausgeschöpft werden können sie aber nur mit Gegenstrategien, die mit der gleichen Grundsätzlichkeit vertreten werden, wie es das Kapital bei seinem ausbeutungsorientierten Umgestaltungsprogrammen getan hat: Sie müssen so radikal wie die Wirklichkeit selbst sein. Wann, wenn nicht jetzt, sollen die Einkommensverteilung und die notwendigen Arbeitszeitverkürzungen zur Sprache gebracht sowie als konjunkturstabilisierende Strategie, eine Stärkung der Massenkaufkraft durch relevante Einkommenssteigerungen (der Arbeitenden und der Hartz-IV-Empfänger) gefordert werden? Wirkungsvoll geschehen kann dies jedoch nur bei gleichzeitiger Thematisierung der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Deren Dreh- und Angelpunkt ist die soziale Kontrolle aller zentralen ökonomischen Prozesse, also eine Maßnahme, die Keynes ausdrücklich vermeiden wollte.

* Dr. Werner Seppmann, Jahrgang 1950, veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Marxismusforschung, Sozialphilosophie und Kultursoziologie. Er ist Vorsitzender der Wuppertaler Marx-Engels-Stiftung und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter. Zusammen mit Ekkehard Lieberam leitet der in Gelsenkirchen lebende Seppmann das Projekt Klassenanalyse@BRD, das bisher vier Bände zur Sozialstrukturanalyse Deutschlands im Neue Impulse Verlag veröffentlicht hat.

Aus: Neues Deutschland, 7. November 2008


Nach der Notversorgung kommt die Nachsorge



Von Arne Heise **

Es gibt sicher kein Vertun mehr -- wir stecken in der tiefsten Finanzkrise seit den 1930er Jahren, die sich später zur Weltwirtschaftskrise mit Millionen von Arbeitslosen und schwersten politischen Verwerfungen ausgewachsen hat. Natürlich gibt es keine einfachen historischen Wiederholungen, aber auch im Zuge der gegenwärtigen Finanzkrise, deren genaue Dimension noch niemand ernsthaft abschätzen kann, sind erste realwirtschaftliche Auswirkungen spürbar: einige Automobilbauer haben ihre Produktion drastisch zurückgefahren, für viele Investoren ist es gegenwärtig schwierig, an Finanzmittel heranzukommen oder jedenfalls erhöht sich der Preis für »frisches Geld«, und der deutsche Export ist erstmals seit vielen Jahren gesunken.

In den letzten Tagen haben wir nach Jahren, ja Jahrzehnten der Dominanz der Zurückdrängung staatlicher Interventionen -- unter Globalisierungsgeschrei, Überalterungsgetöse und Effizienzmanie wurden die sozialen Sicherungssysteme heruntergefahren, öffentliche Unternehmen privatisiert und die makroökonomische Verantwortung auf strikteste Preisstabilität und ausgeglichene Haushalte kapriziert -- eine kaum für möglich gehaltene Renaissance staatlicher Gewährleistung erlebt: In milliardenschweren Hilfspaketen wurden rund um den Globus zuerst strauchelnde Investment- und Hypothekenbanken, schließlich ganz gewöhnliche Geschäftsbanken und dubiose »Schatteninstitute« wie Hedge-Fonds vor dem Untergang und damit das gesamte Finanzsystem vor dem Kollaps bewahrt.

Ob damit tatsächlich das Vertrauen in eine grundlegende ökonomische Aktivität kapitalistischer Wirtschaftssysteme -- das Leihen und Verleihen von Geld als gewöhnliches Bankgeschäft -- bereits wiederhergestellt ist, nachdem keineswegs vereinzeltes Fehlverhalten einzelner Banker, sondern systematische Fehlanreize, mangelnde Regulierungen und der wettbewerbsgeleitete Zwang zur ständigen Innovation immer windigerer Finanzprodukte zum hemmungslosen Umgang mit dem anvertrauten Geldkapital der Sparer (und auch einiger Spekulanten und Zocker) führten, bleibt abzuwarten. In jedem Falle waren die Notoperationen als Sofort-Programm notwendig, so sehr die Sozialisierung von Verlusten nach Jahren der schamlosen Privatisierung von Gewinnen auch schmerzen mag und die an die Hilfsmaßnahmen geknüpften Bedingungen auch als unzureichend empfunden werden.

Wie in der Medizin, so muss nach der lebenserhaltenden Notversorgung nun die Nachsorge eintreten. Dazu gehört einerseits, Lehren aus den Geschehnissen in Form einer besseren Regulierung der internationalen Finanzmärkte zu ziehen. So einfach es ist, gewisse Finanzderivate gänzlich zu verbieten, manche perverse Anreizstruktur -- z.B. kann es wohl nicht angehen, dass Rating-Agenturen von den Firmen bezahlt werden, deren Finanzprodukte sie kritisch bewerten sollen -- zu verändern und die Gehälter der Banker vom eingegangenen Risiko zu entkoppeln, so wenig wahrscheinlich ist eine neue Finanzarchitektur, die jede größere Verwerfung künftig ausschließt. Dafür wäre eine bessere Kenntnis zukünftiger Entwicklungen oder höherer Grad an planerischem Eingriff erforderlich als vorstellbar oder wünschenswert ist. Aber durch eine insgesamt adäquatere makroökonomische Steuerung -- jenseits der Preisstabilitäts- und Null-Defizits-Fantasien der Neoliberalen -- könnte die Real- gegenüber der Finanzanlage wieder gestärkt und damit der Strudel spekulativer Verwerfungen eingedämmt werden.

Eine adäquatere makroökonomische Steuerung ist also einerseits notwendig, um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung jenseits der jeweiligen konjunkturellen Lage auf einem Niveau zu verstetigen, das mit höherem Beschäftigungsstand einhergeht als in den letzten drei Jahrzehnten, und die realwirtschaftliche Investition gegenüber der viel spekulativeren Finanzanlage stärkt. Wie schon der große englische Ökonom John Maynard Keynes bemerkte, scheint es erträglich, wenn die Finanzspekulation wie der Schaum auf sprudelnder Realanlage ist.

Aber der Gesellschaft wird schlecht gedient sein, wenn die Realinvestition zur Schaumkrone auf einem reißenden Strom von spekulativen Finanzhassadeuren wird. Keynes' Erkenntnis stammte natürlich von den Erfahrungen der 1930er Jahre, aber sie ist heute richtiger denn je. Eine solcherart reformierte makroökonomische Steuerung impliziert übrigens nicht schlicht die Rückkehr zum Keynesianismus der 1970er Jahre -- also zur Politik des leichten Geldes und eines Defizit-Spendings! Das wäre allein deshalb zu einfach, weil die beteiligten Akteure -- die Bundesbank bzw. die Europäische Zentralbank auf der einen Seite und der Bundesfinanzminister auf der anderen Seite -- eigenständig und autonom handeln, sich allzu häufig gegenseitig blockieren und vor allem, ohne die Einbeziehung der Tarifpolitik in eine abgestimmte Politik kaum zu einem wachstums- und beschäftigungsförderlichen Verhalten animierten werden können. Es bedarf deshalb neben einer Neuorientierung der makroökonomischen Akteure auf die Verantwortlichkeit für ein verstetigtes Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum vor allem einer besseren Koordinierung von Geld-, Finanz- und Tarifpolitik.

Damit es allerdings nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt oder es nur in Extremsituationen tatsächlich zu einer funktionierenden Kooperation kommt, müssen institutionelle Strukturen geschaffen werden, die die effektive Koordinierung ermöglichen und dauerhaft sicherstellen. Das 1967 verabschiedete und immer noch gültige Stabilitäts- und Wachstumsgesetz bietet dafür den Rahmen der »Konzertierten Aktion«; im Rahmen der europäischen Governance-Struktur ist dafür seit 1999 -- unter Federführung des damaligen Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine -- der sogenannte Europäische Makrodialog im Rahmen des »Kölner Prozesses« geschaffen worden.

Die Foren für eine bessere Koordinierung der Makropolitik existieren also, bislang fehlte allerdings einerseits der politische Wille -- angesichts der Dominanz des Neoliberalismus gut erklärbar -- und andererseits eine adäquate Institutionalisierung, die die Kooperation nicht vom jeweiligen ökonomischen Mainstream abhängig macht, sondern klare Anreize dazu setzt. Immerhin könnte die gegenwärtige Krise dazu beitragen, die Kooperationsbereitschaft aller Akteure zu erhöhen -- die spektakuläre Verhaltensabstimmung der internationalen Zentralbanken und vieler Finanzminister in den letzten Wochen zeigt, was möglich ist, wenn den Verantwortlichen das Wasser bis zum Halse steht.

Wenngleich die makroökonomische Stabilisierung grundsätzlich mittel- bis langfristig ausgerichtet werden muss und sich von allzu aktionistischem, kurzfristigem (»diskretionärem«) Eingreifen eher fernhalten sollte, impliziert sie doch natürlich eine regelgebundene Reaktion auf zyklische Entwicklungen. Die bevorstehende Rezession, deren Auslöser in der gegenwärtigen Kreditklemme, dem Einbruch auf den Exportmärkten, der Verunsicherung vieler Konsumenten und dem tatsächlichen Vermögens- und Einkommensverlust vieler Menschen zu suchen sind, erfordert sicher eine weitere, koordinierte Senkung der Eckzinsen durch die EZB wie auch die massive Stimulierung durch ein investitionsorientiertes »Konjunkturprogramm« der Bundesregierung (und anderer europäischer Regierungen) sowie eine Festlegung der Tarifparteien auf eine Lohnentwicklung, die darauf verzichtet, wie in der Vergangenheit die Lohnstückkosten gegenüber den europäischen EU-Partnerländern zu senken. Andererseits darf sie aber auch nicht in den Fehler verfallen, jetzt die ungünstige Verteilungsentwicklung der letzten Dekaden korrigieren zu wollen -- allerdings stehen dafür die Zeichen in einer Rezession eh recht ungünstig.

** Prof. Dr. Arne Heise wurde 1960 geboren. Der gelernte Bankkaufmann studierte Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten in Bremen und Manchester. Von 1992 bis 2000 war er Leiter des Referates »Konjunkturforschung, Allgemeine Wirtschaftstheorie und -politik« am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2002 ist Heise Professor für Finanzwissenschaft an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik.

Aus: Neues Deutschland, 7. November 2008


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