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Von politischen Trostpflästerchen und notwendigen Klärungsprozessen

Die Protestbewegung muss eine programmatische Alternative zur konzernorientierten Globalisierung entwickeln

Rainer Falk veröffentlichte im August 2001 einen Beitrag in der Frankfurter Rundschau "Nur die Trennlinie gegen Provokateure schützt vor Selbstzerstörung"), in dem er sich ausführlich mit den Hintergründen der Gipfelgegner von Genua auseinandersetzt und der Protestbewegung empfiehlt, ein umfassendes Alternativprogramm zur neoliberalen Globalisierung zu entwerfen. Wir dokumentieren einige Auszüge:

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Sowohl für das herrschende Politikmanagement als auch für die neue Bewegung für globale Gerechtigkeit wird nach Genua nichts mehr so sein wie zuvor. Nach der triumphalistischen Phase der Globalisierung ist jetzt auch der triumphalistische Antiglobalismus an seine Grenzen gelangt.

Voreilig mutmaßten einige bereits wieder über einen "Sieg der Globalisierungsgegner", als gegen Ende des diesjährigen G-8-Gipfels bekannt wurde, dass das nächste Treffen 2002 fernab in einem Bergdorf in den kanadischen Rocky Mountains stattfinden soll.

Die Führer der mächtigsten Industrienationen und ihr russischer Juniorpartner gelobten Bescheidenheit: Mit kleinen Delegationen wolle man künftig anreisen, das Format der Treffen solle zurückgestutzt werden, den "Geist von Rambouillet" wolle man wiederbeleben, die Praxis der effizienten Kamingespräche im kleinen Kreis.

Doch verkennt sowohl das Bild der in die Flucht geschlagenen G 8 als auch deren demonstrative Bußfertigkeit die Ursachen und Motive, die zu den wachsenden Protesten am Rande von Gipfelveranstaltungen geführt haben: Nicht das "Format" derartiger Treffen, sondern deren geringer Beitrag zur Problemlösung (bzw. deren Anteil an der Problemverschärfung) und die fragwürdige Legitimität derartiger Gremien bilden den Hintergrund, vor dem sich seit den 90er Jahren eine neue soziale Bewegung für globale Gerechtigkeit formiert.

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Die politischen Entscheidungen des offiziellen Gipfels von Genua eignen sich als 100-prozentiger Beleg dafür, dass die Gipfelkritiker Recht haben. Beschlossen wurden: ein G-7-Statement zu weltwirtschaftlichen Fragen, ein "Aktionsplan" für Afrika, ein finanzieller Beitrag zum neuen UN-Gesundheitsfonds, ein "Aktionsplan" zur Überwindung der digitalen Nord-Süd-Kluft und ein Abschlusskommuniqué mit betont entwicklungspolitischer Schwerpunktsetzung. Entgegen genommen haben die Staats- und Regierungschefs Berichte ihrer Minister über die "Chancen des digitalen Zeitalters", über "erneuerbare Energieträger" und über die "Stärkung der internationalen Finanzarchitektur". EntwicklungspolitikerInnen, etwa Heidi Wieczorek-Zeul, mögen nach diesem Berg von Papier greifen wie Ertrinkende nach einem Strohhalm. Doch dies kann nicht darüber hinweg täuschen, dass in Genua nichts beschlossen wurde, was nicht ohnehin bereits herrschende Praxis war:
  • Mit ihrer Zusage von 1,3 Milliarden US-Dollar zum neuen UN-Gesundheitsfonds, mit dem den Krankheiten Aids, Malaria und Tuberkulose zu Leibe gerückt werden soll, blieben die G 8 weit unter der Summe, die die Vereinten Nationen für notwendig halten, nämlich 10 Milliarden Dollar. Relativiert wird die Zusage noch dadurch, dass das Geld keineswegs neu aufgebracht, sondern aus bestehenden Finanztöpfen genommen werden wird.
  • Der Afrika-Plan versteht sich nur als unverbindliches Rahmenwerk; er soll erst bis zum nächsten Gipfel in Kanada konkrete Gestalt annehmen.
  • So vollmundig die entwicklungspolitischen Versprechen, sei es zur Hilfe bei der Überwindung der digitalen Kluft, sei es zur Unterstützung des "Africa Renaissance Plan" der afrikanischen Präsidenten, in Genua ausfielen - nirgends gingen sie mit finanziellen Zusagen einher, die geeignet wären, den Abwärtstrend bei der öffentlichen Entwicklungshilfe zu stoppen oder gar umzukehren.
  • Auch in puncto Entschuldung haben die G 8 lediglich die laufende HIPC-Initiative für die ärmsten Länder bestätigt, von der heute schon klar ist, dass sie nicht weit genug geht, um eine erneute Überschuldung der Betroffenen in ein paar Jahren zu verhindern.
  • Obwohl sich neue Finanzkrisen am Horizont abzeichneten (Argentinien, Türkei), haben die G 8 in Genua die Idee endgültig begraben, dass die Welt eine "Neue Internationale Finanzarchitektur" braucht, wenn die gefährliche Instabilität auf den Finanzmärkten zurückgedrängt werden soll.
  • Auch umweltpolitisch markiert Genua ein eindeutiges Versagen der G 8. Zwar wird im Kommuniqué die Notwendigkeit betont, die Exportkreditagenturen (ECAs) in den G-8-Ländern mit "hohen Umweltstandards" zu versehen. Doch wiegt dies wie ein Trostpflästerchen angesichts der Unfähigkeit, die Widersprüche in der Klimapolitik zu überbrücken, und der Vertagung der Klimaprobleme auf eine globale Klimakonferenz in das Jahr 2003.
  • Schließlich: Mit Blick auf die angestrebte neue handelspolitische WTORunde haben die G 8 den Entwicklungsländern erneut "verbesserten Marktzugang" zugesagt - ein altes Versprechen, das sie bei vorhandenem politischen Willen schon längst hätten einlösen können. Es ist jedoch unklar, ob sich der Süden auf diese Weise für eine neue WTO-Runde ködern lässt, bei der ganz andere Fragen im Mittelpunkt stehen werden, sofern es die Industrieländer schaffen, bis dahin ihre eigenen handelspolitischen Gegensätze aus dem Weg zu räumen.
Insgesamt gesehen war das Gipfeltreffen von Genua also ein Fehlschlag ...

... In Genua hat die Zahl derer, die gegen die globalen Ungerechtigkeiten auf die Straße gingen, vor dem Hintergrund einer explosiven Szenerie und dank des Elans der italienischen Aktiven nochmals zugenommen.

"300.000 demonstrierten friedlich - 1.000 zerstörten alles", titelte die altehrwürdige, von Antonio Gramsci gegründete Unitŕ am Sonntag nach der größten Demonstration in der Gipfelgeschichte. Die Zahlen mögen zu hoch gegriffen, die Aussage unter dem Schock der Ereignisse zu zugespitzt sein, und dennoch könnte Genua für die neue Bewegung für globale Gerechtigkeit zu einem Wendepunkt werden, ganz und gar nicht im Sinne eines Rückzugs, wohl aber im Sinne eines Katalysators, der überfälligen Debatten und Klärungsprozessen neuen Schwung gibt.

In Genua erlebten wir zum Teil hautnah jene Logik der gewaltsamen Eskalation, vor der viele nach den tragischen Ereignissen am Rande der EU-Ratstagung in Göteborg gewarnt hatten. Den "Gipfel" stellten zweifellos die tödlichen Schüsse der italienischen Polizei auf den 23-jährigen Carlo Giuliani dar. Vom wahllosen Tränengas- und Schlagstock-Einsatz bis zum nächtlichen Überfall des Gebäudes, in dem das Genua Social Forum (GSF), das die Proteste vor Ort koordinierte, untergebracht war, zogen die Carabinieri so ziemlich alle Register, wie man sie sonst nur aus Bürgerkriegssituationen kennt. ...

Eine besonders verhängnisvolle Rolle innerhalb des Eskalationsszenariums spielte offensichtlich das (mindestens) faktische Zusammenspiel zwischen der Polizei und dem so genannten Schwarzen Block. Diese Gruppierung ist, wie auch aus der Geschichte des politischen Anarchismus bekannt, inzwischen nicht nur von der Polizei vielfach infiltriert, sondern erweist sich insgesamt als "nützliches Instrument der Polizeistrategien" (so Riccardo Petrella) bei der Diskreditierung der gesamten Protestbewegung.

Die Bewegung für globale Gerechtigkeit kann den damit einhergehenden Gefahren und ihrer Selbstzerstörung letztlich nur dann wirksam entgegenwirken, wenn sie eine klare Trennlinie gegenüber derartigen Provokateuren zieht. Dies schließt - über die politische Isolierung hinaus - auch das Nachdenken über Maßnahmen ein, die den friedlichen Ablauf von Demonstrationen sicherstellen können. Einen ersten (sicherlich noch unzureichenden) Vorschlag in dieser Richtung hat in Genua die Londoner New Economics Foundation, die schon zahlreiche Gegengipfel ("The Other Economic Summit") mit organisiert hat, gemacht: Sie plädiert für einen "Code of Protest" mit einer Selbstverpflichtung auf gewaltfreie Aktionsformen.

Wichtiger noch ist jedoch die Fortführung der inhaltlichen Debatte. Wie unter anderen Walden Bello von "Focus on the Global South" in Genua hervorgehoben hat, besteht die große Herausforderung für die Opposition gegen die konzernorientierte Globalisierung darin, eine programmatische Alternative zu entwickeln, die den Globalisierungsprozess mit den Werten von Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit in Einklang bringt. Die nächste Station der Bewegung für globale Gerechtigkeit heißt deshalb Porto Allegre, wo im Januar 2002 das 2. Weltsozialforum stattfindet.

Aus: Frankfurter Rundschau, 3. August 2001

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