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Zwangsverscherbeln

Wolfram Elsners Arbeit über heutigen Kapitalismus und Spekulation

Von Ekkehard Lieberam *

Wolfram Elsner, Hochschullehrer im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen und Leiter des Instituts für Institutionelle Ökonomie, hat eine politische Anklageschrift gegen den spekulativen Kapitalismus geschrieben. Sie ist als neustes Heft im Rahmen des »ökonomischen Alphabetisierungsprogramms« des pad-Verlages erschienen und hat es in sich. Elsners Resümee: »Bürger und Gesellschaft sind nicht mehr nur in Geiselhaft, sondern im Folterkeller der Spekulationsindustrie.«

Global ist laut Elsner das »ungleichste System seit Menschengedenken« entstanden. Zugleich haben wir es mit einer neuartigen Internationalisierung der politischen Macht des Kapitals zu tun. Insgesamt vierzig Kapitalgruppen, die sich wechselseitig besitzen und weltweit die 47000 größten Unternehmen kontrollieren, bilden demnach ein »geschlossenes Herrschaftssystem«. Bei dem, was gemeinhin Finanzmärkte genannt wird, geht es um wenige hundert Topentscheider sowie einige hundert super- und megareiche private Aktionäre und Gläubiger. Der »neoliberale« Staat tanzt nicht nur »nach der Pfeife der hypernervösen, nur noch über minimale Übersicht verfügenden, nur noch in der kürzesten Frist handelnden Spekulationsindustrie«; er schirmt sie auch von jedem Risiko ab, entbindet sie von jeder Verantwortung für ihre Spekulationsorgien, versorgt und mästet sie, breitet »die kollektive Vollkasko-Versicherung, die perfekte soziale Hängematte durch die jetzige und die nächsten Steuerzahler-Generationen über sie aus«.

Der heutige spekulative Kapitalismus sei voller Absurditäten: »Notenpresse anwerfen zur Staatsfinanzierung ist des Teufels, die Notenpresse anwerfen zur Flutung überspekulierter Bankbilanzen ist ›marktkonform‹.« Da wird um einige Cents für Schulen, Kultur und Sport gestritten, »aber die EZB haut binnen weniger Wochen weit über eine Billion Euro in die Bankbilanzen«.

Das Transaktionsvolumen und die damit verbundene Kaufmacht des globalen Kasinos schätzt Elsner auf einen Dollarbetrag im »zweistelligen Trilliardenbereich«. Es gebe Derivat- und Wettpapiere im Umfang von etwa 700 Billionen bzw. 60 Billionen Dollar. Zum »Spiel um die Profitrate unter den Bedingungen der gigantischen Dominanz des Nominalkapitals« gehöre die Fähigkeit dieses fiktiven Kapitals, rechtzeitig vor dem jeweiligen »Platzen der Blase« in reales Kapital zu flüchten und »seinen Mehrwert von nominalen in realen Profit umzuwandeln versuchen – was logischerweise nicht allen gleichzeitig gelingen kann«. Das Kapital verliere dabei jede positive Dynamik in der Realökonomie, was daran deutlich werde, daß von den zwischen 2000 und 2009 in Deutschland erwirtschafteten Exportüberschüssen in Höhe von einer Billion Euro 700 bis 800 Milliarden Euro »auf die amerikanischen Spekulationsplätze« geflossen sind. Damit aber habe der Kapitalismus seinen Charakter verändert »von einem System zyklischer Reinigungskrisen zu einem System der permanenten strukturellen Krise« – die Perspektive: »bestenfalls noch ein Vor-sich-Hindümpeln, schlimmstenfalls chaotische Zusammenbrüche«.

Karl Marx (genauer: der von ihm zitierte englische Gewerkschaftsaktivist T. J. Dunning) hat im ersten Band des »Kapitals« davon gesprochen, daß für das Kapital bei 300 Prozent »kein Verbrechen (existiert), das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens«. Heute, so Elsner, muß der »gehobene Finanzkapitalist im globalen und intertemporalen Durchschnitt« schon mit 25 Prozent zufrieden sein«. Der Verdacht komme auf, daß er heutzutage für diese 25 Prozent »die Verbrechen begehen muß«, die bei Marx für 100 und 300 Prozent angedeutet sind. Für Menschenrechte und Demokratie ist da kein Platz. Als Belege nennt Elsner die Vertreibung großer Teile der Bevölkerung in Afrika, Asien und Lateinamerika von ihrem Land, die Installierung eines Kriegs (droh)regimes mit »neuen brutalen, ›robust‹ genannten Kriege (n)«, das »Zwangsverscherbeln des griechischen Volksvermögens« und die »Aufteilung der Ressourcen des Irak und Libyens«.

Elsner verweist auf eine sensibler gewordene Öffentlichkeit, auf eine implodierende Legitimationsbasis des spekulativen Kapitalismus, auch auf Solidarisierungen selbst von Militärs und aus der Polizei mit den Volksbewegungen in Portugal und Griechenland. Sein abschließender Appell, »politisch selbstbewußt und klug zu bleiben«, ist im Sinne von Antonio Gramsci ein Bekenntnis zum »Optimismus des Willens«. Der aus seiner Analyse wachsende »Pessimismus des Verstandes« (ohne »notwendige Strukturveränderungen« werden »wir die Hölle auf Erden bekommen)« ist eine Mahnung, endlich den Ernst der Lage zu begreifen und entsprechend politisch zu handeln.

Wolfram Elsner: »Neoliberaler« Kapitalismus versus Demokratie. Pad-Verlag, Bergkamen 2012, 54 Seiten, 5 Euro; ISBN 978-3-88515-239-2; (Bei Direktbestellung ab fünf Exemplaren 4,50 Euro, ab zehn Exemplaren 4 Euro).
Bezug: pad-Verlag, Am Schlehdorn 6, 5992 Bergkamen; Tel. 02307/261601, E-Mail: pad-verlag@gmx.net

* Aus: junge Welt, 26.03.2012


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