Der 11. September und die Folgen: Die Globalisierung schlägt zurück
Ein Beitrag von Ernst-Otto Czempiel
Ernst-Otto Czempiel, der Nestor der deutschen Friedensforschung, hielt bei den Frankfurter Römerberggesprächen im November 2001 einen viel beachteten Vortrag über Erscheinungsweisen und Ursachen des internationalen Terrorismus. Der Vortrag war - gekürzt - in der Frankfurter Rundschau dokumentiert worden (5. November 2001) und wird als Langfassung in der Online-Ausgabe der FR angeboten (www.fr-aktuell.de). Wir dokumentieren den Teil des Beitrags, in dem sich Czempiel kritisch mit den friedenspolitischen, ökonomischen und sozialen Defiziten der "Globalisierung" auseinandersetzt.
Der grausame Gewaltakt vom 11. September wirft damit die Frage auf, ob und in
welcher Weise die mit dem Sammelbegriff der "Globalisierung" bezeichneten
Handlungen der Industriestaaten zu der Entstehung jenes Kontextes beigetragen
haben, den die Gewalttäter im Auge hatten. Über der Beschäftigung mit den
Binnenfolgen der Globalisierung für die Industriegesellschaften wurde nie ganz
übersehen, dass sie in der von ihr betroffenen Umwelt auch negative Folgen
auslöste. Die Zerstörung des World Trade Centers macht darauf aufmerksam, dass
die externalisierten Folgen der Globalisierung viel mehr Schaden angerichtet haben
müssen, als bislang wahrgenommen.
Der Begriff der Globalisierung hat immer schon die Komplexität der Prozesse
unterfordert, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die vertraute Staatenwelt
aufgelöst haben. In der entstehenden Gesellschaftswelt blieben die Staaten zwar
erhalten, müssen sich aber mit einem gesteigerten Mitspracheanspruch der
Gesellschaften auseinandersetzen. Er wird nicht nur von wirtschaftlichen Akteuren
erhoben, sondern auch von politischen. Dafür zeugt die große und zunehmende
Anzahl der Non-governmental Organizations. Am 11. September traten höchst
unwillkommene gesellschaftliche Akteure in Erscheinung mit Aktivitäten einer
Größenordnung, die bisher nur Staaten zugeordnet wurden. Wenn Usama Bin
Ladin in seinen Fernsehansprachen direkt die USA herausfordert, dann zeigt sich
darin nicht nur die Hybris eines Fanatikers, sondern auch das Selbstbewusstsein
eines Mannes, der sich der Zustimmung großer gesellschaftlicher Gruppierungen
sicher weiß. Dass die Kampfansage mit religiösen Differenzen angereichert wird,
sollte über ihre politischen Charakter nicht hinwegtäuschen. Religiöse
Unterschiede sind immer schon zu politischen Zwecken instrumentalisiert worden,
von den Kreuzzügen des Hochmittelalters bis zum Nordirland-Konflikt und den
Bürgerkriegen auf dem Balkan. Zugrunde lagen immer politische und ökonomische
Konflikte. Was die Gewalttäter des 11. September im Auge hatten, war wohl kaum
die Verteidigung des Islam gegen das Christentum, sondern - wenn überhaupt
etwas - die der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Beherrschten gegen die
Herrschenden, der Verarmenden gegen die, die immer reicher werden.
Dass die globalisierte Welt solche Antagonismen aufweist, war uns wohl bewusst.
Die seit Jahren anhaltende Kritik an der Entwicklungspolitik, an der
Reichtumsverteilung bezeugt das, ebenso die Kritik der nicht-nuklearen Welt an
der Abrüstungsverweigerung der Abrüstungspolitik der Nuklearwaffenbesitzer. Was
wir nicht erkannt haben ist, dass die Kritik an der Politik der Industriestaaten nicht
mehr nur von den Regierungen der nicht-industrialisierten Welt stammte, sondern
von gesellschaftlichen Akteuren aufgenommen und zugespitzt worden ist zur
wachsenden Bereitschaft zum Widerstand. Die Demonstrationen in Seattle und
Genua, die Auseinandersetzungen auf der Anti-Rassismuskonferenz in Durban
waren ein Menetekel, aber wir haben nicht hingeschaut.
So ist uns entgangen, dass die Globalisierung, die Expansion unserer
Wirtschaftsinteressen sowohl wie die unserer Macht- und Herrschaftsansprüche
bei den davon Betroffenen weniger auf Zustimmung als auf Ablehnung und Kritik
stößt. Es haben sich eben nicht nur die Politiken der Industriestaaten globalisiert.
Auch die Reaktion derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die mit dieser
Globalisierung nicht einverstanden sind und sie ablehnen, hat sich globalisiert. In
den von der Globalisierung negativ betroffenen Teilen der Welt haben sich
gesellschaftliche Akteure aus der Kontrolle ihrer Politischen Systeme emanzipiert
und ein Aktionspotenzial an den Tag gelegt, dass bis zum 11. September niemand
für möglich gehalten hatte.
Ob und wie dieses Aktionspotenzial durch den Massenmord in New York und
Washington gestärkt oder geschwächt worden ist, wird sich erst zeigen. Wenn der
Konsens zugenommen hat - was vom Verhalten der Industriestaaten abhängen
wird -, können die politischen Folgen unübersehbar werden. Es ist deshalb schon
richtig, einem Akteur wie Usama Bin Ladin und seinem Netzwerk Al Qaida große
Aufmerksamkeit zu widmen. Ob der Feldzug gegen Afghanistan die richtige Abhilfe
darstellt, steht dahin.
Wir befinden uns offenbar in einem Prozess reziproker Globalisierung. Die
Emanzipation gesellschaftlicher Interessen aus der Kontrolle ihrer Politischen
Systeme und die Expansion ihrer Aktivitäten weit über die Grenzen ihres
Heimatstaates hinaus ist nicht mehr ein in den Industriestaaten auftretendes und
vornehmlich von wirtschaftlichen Akteursgruppen erzeugtes Phänomen. Es tritt
jetzt auch in der nicht-industrialisierten Welt auf, wo sich gesellschaftliche Akteure
ebenfalls aus der Kontrolle ihrer Politischen Systeme entfernt und sich die
Fähigkeit zugelegt haben, global zu operieren, Gewalt weltweit einzusetzen. Die
Gruppe Al Qaida, so wird vermutet, hat Tochtergesellschaften in mehr als 60
Ländern der Welt. Ob es weitere Gruppen gibt und welche, welche Verbindungen
zum Drogenhandel oder zur organisierten Kriminalität bestehen, wissen wir nicht.
Diese Netzwerke gewaltsamer Opposition sind nicht identisch mit den
Gesellschaften, in denen sie sich befinden; die Gesellschaften sind insofern auch
nicht für diese Netzwerke verantwortlich. Sie haben sie auf gar keinen Fall
beauftragt, die Globalisierungspolitik der Industriestaaten mit Gewalt zu
bekämpfen. Insofern kann diese Globalisierungspolitik auch nicht als Ursache der
Gewaltakte angesehen werden. Sie muss aber in ihrem eigenen Interesse sehr viel
sensibler registrieren, wie ihre Politik bei den von ihr Betroffenen aufgenommen
wird. Trifft sie nicht auf deren mehrheitliche Zustimmung, muss die Politik geändert
werden. Andernfalls fördert sie eine politische Haltung, die zur Nährlösung künftiger
Gewalttäter werden könnte. Es ist deshalb aus sicherheitspolitischen Gründen
geradezu geboten, sämtliche Außenwirkungen der Politik der Industriestaaten so
auszurichten, dass sie mit den wirtschaftlichen und politischen
Entfaltungsinteressen der von ihr Betroffenen kompatibel wird.
Hört man die Stimmen der negativ von der Globalisierung Betroffenen ab, so sind
die wichtigsten Korrekturen an zwei Politikfeldern vorzunehmen: den ungelösten
Konflikten in Nahen und Mittleren Osten und der Ungleichverteilung der
Entfaltungschancen zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern.
Nicht nur für die meisten arabischen Zeitschriften, sondern auch für den
saudi-arabischen Verteidigungsminister Prinz Sultan würde eine Lösung des
Jerusalem- und des Palästina-Problems allen Gewalttätern ihren wichtigsten
Vorwand nehmen. Denn diese Konflikte, die eine Quelle der Spannung im Mittleren
Osten schon seit mehr als 50 Jahren darstellten, betreffen alle Muslime, nicht nur
die arabischen. Zu Recht versuchen der amerikanische und der deutsche
Außenminister den nahöstlichen Friedensprozess wieder in Gang zu setzen, leider
nur mit der üblichen Pendel-Diplomatie. Den immer tiefer in
Kommunikationsverweigerung und Gewalt versinkenden Konfliktparteien wäre mit
einer Internationalisierung der Konfliktbearbeitung, wie sie Präsident George Bush
1991 mit der Madrider Konferenz eingeleitet hatte, sehr viel besser gedient.
Eine ähnliche Quelle des politischen Terrorismus haben die Industriestaaten durch
die seit 10 Jahren anhaltende Strangulierung der irakischen Bevölkerung mit den
Sanktionen angezapft. Ihr Zufluss wird seit drei Jahren mit den Bombardierungen
des Irak durch anglo-amerikanische Flugzeuge noch verstärkt. Dieser Politik der
Industriestaaten sind im Irak mehr als 500.000 Kinder zum Opfer gefallen, als zwar
nicht beabsichtigte, aber eingetretene Folge. Seit langem war zu bezweifeln, dass
diese Sanktionspolitik politisch Sinn machte. Jetzt ist unübersehbar, dass sie
einen großen Beitrag leistet zu dem sich ausbreitenden Gefühl bei der arabischen
Gesellschaft, von den Industriestaaten nicht nur unterdrückt, sondern buchstäblich
bekämpft zu werden. Deswegen muss der Irak so schnell wie möglich in die
mittelöstliche Staatenwelt reintegriert, die Sanktionspolitik im Tausch gegen die
anhaltende Kontrolle des Verzichts auf Massenvernichtungswaffen umgehend
aufgehoben werden.
Dass die Bombardierung des Irak nicht nur der amerikanischen Absicht entspringt,
sozusagen eigenmächtig die Wiederaufrüstung dieses Landes zu verhindern,
sondern Teil eines globalen Machtanspruches ist, hat der amerikanische
UN-Botschafter Negroponte dem UN-Sicherheitsrat offen geschrieben. Washington
behält sich vor, nach dem Sieg in Afghanistan auch andere Staaten der Region
anzugreifen. Was sich ausnimmt wie ein Extrem, bildet die Spitze einer seit
langem erkennbaren Tendenz der Vereinigten Staaten, die Weltführung unilateral
an sich zu ziehen und dabei die Mitsprache anderer Staaten, bestenfalls in Form
von Konsultationen zu tolerieren. Statt wie Präsident George Bush 1991 die Neue
Weltordnung auf den verstärkten Multilateralismus in den Vereinten Nationen zu
gründen, haben seine Nachfolger immer mehr den Alleingang bevorzugt.
Die Staaten und Gesellschaften der Welt wissen natürlich, dass sie für die
Weltführung nicht so wichtig sind wie die USA. Sie sind aber deswegen doch nicht
weniger wert. Der frühere Außenminister Genscher hat die Respektierung der
Ebenbürtigkeit aller Staaten, auch der kleinsten und der ärmsten als Grundlage
erfolgreicher Führungspolitik bezeichnet. Wird sie vernachlässigt, erscheint der
Anspruch auf Weltführung rasch als klassisches Hegemoniestreben, als Versuch,
ausschließlich die eigenen Interessen weltweit durchzusetzen und das Aufkommen
rivalisierender Machtpositionen zu verhindern. Unter westlichen Geopolitikern ist es
evident, dass in solchen Interessen der Schlüssel nicht nur zur amerikanischen
Asien-Politik zu finden ist. Das galt nicht durchweg für alle amerikanischen
Präsidenten nach 1990. Wie vor ihnen Jimmy Carter, haben George Bush und vor
allem Bill Clinton sich bemüht, die politischen Konflikte dieser Welt zu lösen. Bill
Clinton hat sogar versucht, den Totschlagsbegriff der "Schurkenstaaten" aus der
Welt zu schaffen und durch den der "Problemstaaten" zu ersetzen. Insgesamt aber
ist die Globalisierungspolitik der Weltführungsmacht in der vergangenen Dekade
vornehmlich ihren eigenen Interessen zugute gekommen.
Die Westeuropäer haben sich kaum anders verhalten. Sie haben der Globalisierung
des NATO-Einsatzes im neuen Konzept des Bündnisses vom April 1999 nicht
widersprochen, haben nicht verhindert, dass der Luftkrieg gegen Serbien in aller
Welt als Probelauf dieses neuen Konzeptes aufgefasst wurde. Der Aufbau eines
eigenen europäischen Krisenreaktionskurses gibt diesen Deutungen weitere
Nahrung. Hat sich nicht die NATO den Mazedoniern geradezu aufgezwängt, ohne
jedes UN-Mandat, sondern in eigener Mandatierung? Die AKP-Politik der
Europäischen Union hat keinen Konflikt in Afrika verhindert, keinen gelöst. Den mit
der EU eng verbundenen Staaten Afrikas südlich der Sahara geht es nach 48
Jahren der Assoziation mit Westeuropa wirtschaftlich schlechter als je zuvor.
Die Kritik an einer Globalisierung, die vornehmlich den Interessen der westlichen
Industriestaaten dient, hat auf den Demonstrationen von Seattle und Genua
größere Wirkung gezeigt. Die Welthandelskonferenz will sich den
Entwicklungsländern stärker öffnen, sozusagen eine "Entwicklungsrunde"
einläuten. Das ist mehr als überfällig. Die Entwicklungspolitik hat angesichts
ständig steigender Bevölkerungszahlen viel erreicht, aber eben nicht genug. Noch
immer leben 1,3 Milliarden Menschen in absoluter Armut. Fast ein Viertel der
Menschheit gibt als Folge des Hungers und der Armut den "Nährboden für
Terrorismus" ab, wie die Vorsitzende der Welthungerhilfe, Ingeborg Schäuble,
Anfang Oktober in Berlin gesagt hat. Der Krieg gegen den Terrorismus muss daher
ein Krieg gegen die Armut sein, fordert die philippinische Präsidentin Arroyo.
Und dennoch haben sich auf ihrem Millenniumsgipfel die Vereinten Nationen im
September 2000 nur zu dem Versuch entschlossen, die Zahl der Armen und der
Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Auch die Bundesregierung setzt mit
ihrem "Aktionsprogramm 2015" keine kürzeren Fristen. Mag auf dem Hintergrund
der bisherigen Entwicklungspolitik das Programm als ehrgeizig gelten, zur Therapie
des politischen Terrors reicht es nicht. Der Präsident der Weltbank, James
Wolfensohn, hat die Konsequenzen des 11. September in die beiden lapidaren
Forderungen zusammengefasst, die Entwicklungs- und Auslandshilfe zu erhöhen
und die Handelsbarrieren rund um die industrialisierte Welt abzubauen.
Wer die Quellen des internationalen Terrorismus verstopfen will, muss die
Außenwirtschafts- und gerade auch die Entwicklungspolitik einem
Paradigmenwandel unterziehen. Die Verteilungsgerechtigkeit auf diesen Feldern zu
erhöhen, ist nicht mehr nur eine Forderung der Moral und der Humanität, sie ist am
11. September eine Forderung der Sicherheitspolitik geworden.
Man kann in einer sich globalisierenden Welt, in der die Staaten aneinander, und
teilweise schon ineinander geschoben und gesellschaftliche Gruppen zu
eigenständigen Akteuren im zwischenstaatlichen Raum geworden sind, Weltpolitik
nicht mehr von Verteidigungsfähigkeit trennen. Zwar haben wir noch nicht die
"Weltinnenpolitik", von der die beiden früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker
und Herzog gesprochen haben, aber die Strukturen der sich globalisierenden Welt
sind denen der Innenpolitik schon analog. Die Welt ist ein
Wirkungszusammenhang geworden, so dass die globale Verfolgung macht- und
wirtschaftspolitischer Interessen Reaktionen der davon Betroffenen weltweit
hervorrufen. Sie fallen unterschiedlich aus, reichen im Extremfall bis zur
Gewaltanwendung. Passives Erleiden, stumme oder laute Kritik an den
Industriestaaten, politische Opposition gegen sie und das Anwachsen
entsprechender Feindbilder sind die Vorstufen. Vor 20 Jahren noch wurden die
USA von den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens als Freund
angesehen, jetzt muss das Außenministerium in Washington allen Amerikanern
vom Besuch dieser Länder abraten. Ähnlich ergeht es den Westeuropäern in
Afrika.
Es ist unzulässig, die Globalisierung weiterhin als Einbahnstraße anzusehen; hier
herrscht inzwischen lebhafter Gegenverkehr. Er tangiert sogar unsere Sicherheit.
Deren Begriff muss also nicht nur erweitert, er muss gänzlich neu formuliert
werden. Verteidigung gehört natürlich dazu; ihr vorgelagert aber muss eine
Außenpolitik werden, die sich selbst als Sicherheitspolitik in einer globalen Welt
begreift und sich so verhält, dass sie auch die Zustimmung der von ihr Betroffenen
findet. Entwicklungshilfe ist moderne Sicherheitspolitik, Außenwirtschaftspolitik
auch. Beide müssen mit dieser Elle gemessen und bewertet werden.
Wer in der globalisierten Gesellschaftswelt das Außenpolitikverständnis der alten
Staatenwelt weiter praktiziert, die Sicherheit den Streitkräften und das
Wohlergehen der Wirtschaft anvertraut, lebt gefährlich. Diese Art der Globalisierung
schlägt zurück.
Eine gekürzte Ausgabe des gesamten Beitrags wurde in der Frankfurter Rundschau vom 5. November 2001 dokuemntiert.
Zurück zur "Globalisierungs"-Seite
Zur Friedenswissenschafts-Seite
Zurück zur Homepage