"Eine andere Welt ist möglich"
Nach dem Attac-Kongress von Berlin - Auszüge aus Reden
Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus dem "Freitag" über den großen Attac-Kongress vom 20./21. Oktober 2001 in Berlin sowie Auszüge aus den Ansprachen von Horst-Eberhard Richter und Jean Ziegler
Marina Achenbach
Die Losung von einer anderen
Welt
"Drei Versuchungen müssen wir widerstehen. Wir dürfen die linken
Reinheitsrituale nicht zulassen. Wir müssen die Versuchung der Gewalt
vermeiden, um keine Vorwände für die Kriminalisierung zu liefern, aber
auch um mit allen Globalisierungskritikern demokratisch
zusammenarbeiten zu können. Und wir müssen die Ungeduld besiegen
und müssen auch verlieren lernen. Denn das wird nicht ausbleiben. Doch
schon wenn Ihr Euch engagiert, werdet Ihr etwas gewinnen. Ihr werdet
Freunde haben."
Susan George
Der Erfolg ihres ersten Kongresses in Deutschland übertraf alle
Erwartungen der Attac-Leute. Als die Anmeldungen bei 1.200 lagen,
besorgten sie kurzfristig neue Räume: die Technische Uni Berlin. Zum
Beginn am Freitag Abend war das Audimax überfüllt. 2.500 Teilnehmer
waren es schließlich, Hunderte verfolgten draußen die Reden als
Videoübertragung. Am Ende wurden fast 4.000 Karten für den dreitägigen
Kongress "Eine andere Welt ist möglich" verkauft. Und das, nachdem
vorausgesagt worden war - oft bedauernd, aber definitiv -, dass es mit der
Bewegung der Globalisierungskritiker, die seit Genua so viel
Aufmerksamkeit auf sich zog, nach den Anschlägen von New York und
Washington aus sei.
Die Weißhaarigen unter den Anwesenden, die sich mit den jungen
mischten - die Altersstufen dazwischen waren weniger erkennbar -
erinnerten sich an den legendären Vietnam-Kongress 1967 in denselben
Räumen, einst ebenfalls Auftakt für eine sich politisierende Generation.
Dass manche von ihnen schon ein paar Mal das Entstehen und Erlöschen
oppositioneller Bewegungen, die damit verbundene Hoffnung auf
gesellschaftliche Veränderungen wie auch die Resignation miterlebt haben,
unterlegte ihre Wahrnehmung mit irritierenden Emotionen. Sie schienen
verblüfft und skeptisch zugleich. Manche trugen ihre alten Affekte in die
Debatte: Wollt ihr euch wirklich mit der angepassten IG Metall einlassen
und mit ver.di schmücken? Aber vielleicht geschah es ihnen zum ersten
Mal, dass sie damit ohne Echo blieben. Horst Schmitthenner von der IG
Metall, der nach den Subjekten der notwendigen Veränderungen fragte,
wurde ebenso akzeptiert wie der Schweizer Jean Ziegler, die in Paris
lebende amerikanische Schriftstellerin Susan George, wie Joăo Batista de
Oliveira von der Landlosenbewegung in Brasilien, wie Horst-Eberhard
Richter, Barbara Unmüßig, Vorsitzende der NGO WEED und aktiv im
Koordinierungsrat von Attac, wie Oskar Lafontaine, Ingeborg Wick aus der
NGO Südwind, der Politikwissenchaftler Wolf-Dieter Narr, die
Schauspielerin Käthe Reichel und die unzähligen Diskutanten bei
Arbeitsgruppen, Podiumsdiskussionen, im Plenum.
ATTAC sammelt, obwohl das keine Dachorganisation werden soll. Einer
der jungen Organisatoren, Sven Giegold, erklärte zum Schluss:
"Besonders beeindruckt hat mich hier die Begegnung zwischen einer
jungen Generation, die sich für globale Gerechtigkeit einsetzt, mit den
Älteren, deren politische Erfahrung bis 68 zurückreicht." Sie sehen mit
Gelassenheit zu, wie sich von überall Leute melden, deren Erfahrungen aus
sehr unterschiedlichen Bereichen stammen. ATTAC beginnt nicht bei Null,
das betonte Sven Giegold. Es biete einfach einen neuen Grundkonsens für
gemeinsames politisches Handeln an.
Diese Bewegung entzündet sich an einem strohtrockenen ökonomischen
Begriff: an der Besteuerung des Spekulationskapitals, der sogenannten
Tobin-Steuer. Schon dieses Phänomen ist kaum einzuordnen. Junge
Leute, angereist von überall her mit Rucksack, ein T-Shirt mit dem
%-Zeichen übergestreift, machen sich kundig über die internationalen
Finanzmärkte, freien Wechselkurse, die ganze Volkswirtschaften zum
Einsturz bringen, über die Ursachen des Hungers in der Dritten Welt, die
Rolle der Steueroasen und des Bankgeheimnisses, die Spielräume von
Nationalstaaten im globalisierten Markt und die neoliberale Ideologie. In 80
Arbeitsgruppen wurde den ganzen Samstag über diskutiert.
Hier bildet sich offenbar wieder eine eigene Kompetenz, ein
Gegen-Wissen. Dieses Mal zielt es auf die globalisierten
Wirtschaftsprozesse. Und vermutlich wird es eines Tages die Kompetenz
der Experten übertreffen. Denn oft genug waren Leute aus solchen
Initiativen schockiert über die schwachen Kenntnisse bei den sakrosankten
Profis, den Sachbearbeitern in Ministerien oder Unternehmen, wenn sie mit
ihnen konfrontiert waren. Ob es Ökologen oder Kernkraftgegner waren,
Vertreterinnen von Frauen-, Solidaritäts- und Friedensgruppen. Heute
werden zwar manchmal junge Leute aus diesen Initiativen vom Staat zu
Hilfe gerufen, um im Rahmen von NGO in Krisengebieten mit ihren
Kompetenzen und ihrem Engagement einzuspringen. Ansonsten
missachtet und vergeudet die Gesellschaft meist diese Fähigkeiten.
ATTAC will, so erklärte Barbara Unmüßig, Teil eines großen Netzwerks
bleiben, will keine Zentrale, keine Hierarchie schaffen, sich nicht als Verein
anmelden und sich keine Form geben, die bestimmte Regeln aufzwingt wie
Landesverbände, Vorstände, Satzungen. Die Frage der Legitimation der
Akteure müssen sie für sich allmählich klären. Selbstorganisation steht im
Vordergrund.
Der "schleichende Akzeptanzverlust der neoliberalen Globalisierung" sei
die Grundlage für die Existenz des Netzwerks. "Es entsteht ein
Bewusstsein dafür, dass mit der Globalisierung ein epochaler Umbruch im
Gang ist. Es formt sich ein ganzheitliches Bild von Globalisierung. So
etwas wie ATTAC lag in der Luft."
Die Erfolgsbedingungen würden in der Zusammenarbeit und in der
Mobilisationsfähigkeit liegen. Vielfalt ist ihr Zauberwort. Keine verbindliche
theoretische, weltanschauliche, religiöse oder ideologische Basis, aber ein
Grundkonsens eine sie. Es würde einen gewaltigen Diskussionsbedarf
geben. Ein wissenschaftlicher Beirat werde erwogen, auch weil neue
Faktoren hinzukommen: die Terrorbekämpfung, die sich ankündigende
Rezession.
Die internationale Dimension ist ihr Unterpfand:"Ich glaube wirklich, dass
wir es mit einem neuen Internationalismus zu tun haben." So wird bei
ATTAC geredet. Kein Trommeln, eher klingt es nach einer erwägenden
Sachlichkeit.
Aus der Eröffnungsrede von Horst-Eberhard Richter
"ATTAC ist, wenn ich es richtig sehe, gefasst darauf, mit allen Klischees
aus der Kiste der politischen Kriegsführung bombardiert zu werden als
Anarchisten, linke Utopisten, pubertäre Aufrührer ... ATTAC ist nicht das
neue Weltgewissen. Aber seine Chance ist es, diese innere Stimme in der
moralischen Krise zu nutzen, die gewiss in den Wirren des ungerechten
Krieges immer lauter werden wird."
"Es geht um die fundamentale Abkehr von der spalterischen
egomanischen Weltanschauung, nach welcher die Sieger in der
Konkurrenzschlacht berufen seien, bei den Verlierern die Dürftigkeit, die
Schwäche und das Leiden zurückzulassen, um sich selbst in einer
grandiosen narzisstischen Freiheit und Unbekümmertheit aufzuschwingen.
Diese Vision ist pleite. - Es hatte für manche schon den Anschein, als
hätten die staatsozialistischen Regime die Idee der sozialen
Humanisierung in ihren eigenen Untergang mit hineingezogen. Stattdessen
ist zu begreifen, dass diese Idee weiterhin lebensfähig und für eine
Weiterentwicklung unserer Kultur lebensnotwendig ist."
"Indessen müssen wir aufpassen, dass am Ende nicht wieder nur ein
flüchtiges Läuterungsritual herauskommt, das wie ein Katzenjammer
verfliegt, siehe die rasche Verdrängung von Vietnam oder der fast tödlichen
gemeinsamen Selbstbedrohung im Kalten Krieg."
Aus der Rede von Jean Ziegler
"Es ist eine Weltordnung entstanden, die den Interessen der immensen
Mehrheit der Bevölkerung dieses Planeten diametral entgegensteht. Von
6,2 Milliarden Menschen leben 4,8 Milliarden in den sogenannten
Entwicklungsländern, und die meisten leben nicht wie Menschen ..."
In den letzten zehn Jahren habe der kapitalistische Produktionsprozess
drei Paradigmenwechsel durchgemacht: Zum ersten haben sich die
Multinationalisierung und Monopolisierung seit 1991 in unglaublich rasanter
Weise durchgesetzt.
Der zweite Paradigmenwechsel komme durch die Computersysteme
zustande. Diese Erfindungen und das Ende der Bipolarität seien eine
historische Koinzidenz, die die riesigen weltweiten Unternehmen technisch
und zugleich politisch möglich mache.
Zum dritten habe sich eine Kapitalform autonom gemacht, das
Finanzkapital, das nicht wertschöpfende, spekulativ agierende
Börsenkapital. "Wenn der Max Weber, der alte, gute, 1919 geschrieben
hat, Reichtum ist das Werk einer Reihe von wertschaffenden Menschen -
dann ist heute Reichtum, also wirtschaftliche Macht, das Produkt der
Spekulationen einer Horde wildwütender Börsenjäger."
Jean Ziegler versteht es, Zahlen zu präsentieren, die aufregen. Keine Spur
von Angestrengtheit zeigt sich bei den Zuhörern. Und wenn seine
Darstellungen zu niederschmetternd werden, bringt er das Publikum zum
Lachen. Sein Schweizer Tonfall hilft ihm dabei.
"Ich bin total fasziniert von dieser Börsenwelt, nicht nur als Soziologe,
sondern auch, weil da ein Universum entstanden ist, in dem totale
Irrationalität koexistiert mit höchster Rationalität. Die calvinistischen
Genfer Privatbankiers rekrutieren Kernphysiker, die Modelle der
Börsenvorgänge mit allen Variablen, die man überhaupt denken kann,
entwerfen, um die Risiken zu minimieren. Also höchste Rationalität. Aber
die Börsen reagieren auf dumpfe Ängste, auf Euphorie, auf falsche
Nachrichten mit totaler Emotivität. Diesem System sind wir heute
ausgeliefert. Heute liegt die Weltherrschaft bei einer ganz kleinen Gruppe
von Oligarchien, die das Finanzkapital beherrschen, die vernetzt sind, sich
gleichzeitig bekämpfen durch Übernahmen, Fusionen und ähnliches, die
aber das System global verteidigen. Denken wir an die Ermordung von
Salvador Allende. Ich sage es noch einmal: Der 11. September ist etwas
Furchtbares, aber es ist der zweite 11. September!"
Individuen seien heute reicher als Staaten. Der Besitz der 15 reichsten
Menschen der Welt übersteige das Bruttoinlandsprodukt der afrikanischen
Länder ohne S-Afrika. Neben dem Reichtum schaffe das durchaus vitale
kapitalistische System die Ungleichheit. Und die Ungleichheit sei negativ
dynamisch. Wieder ein Zahlen-Beleg: 1960 verdienten 20 Prozent der
reichsten Bewohner des Planeten etwa 31 mal mehr als die 20 Prozent der
Ärmsten. Im Jahr 2000 waren es 83 mal mehr!
"Wer sind die Verlierer? Ich wähle den Parameter Hunger: 36 Millionen sind
im vergangenen Jahr gestorben an Hunger. Millionen unterernährter Frauen
gebären Kinder, die als Invaliden auf die Welt kommen. Ich nenne sie die
von Geburt an Gekreuzigten. Jedes Jahre. Jedes Jahr. Alles bekannt.
Alles beschrieben, zum Beispiel im Welternährungsreport der UNO. Der
Report sagt aber auch, dass heute ohne Probleme 12 Milliarden Menschen
ernährt werden könnten, und zwar ohne genveränderte Pflanzen. Hinter
jedem verhungerten Menschen gibt es einen Mörder. Der Dritte Weltkrieg
hat für diese Menschen schon längst begonnen. Und der wickelt sich ab in
eisiger Normalität. Man weiß alles, man kennt es, man sieht zu."
Und um diese Vorgänge am Laufen zu halten, sei eine Ideologie vonnöten:
"Auch ein Genfer Bankier braucht - zumindest am Morgen noch - eine
Legitimationstheorie. Die findet er im Neoliberalismus, der sich als
Zelebration ökonomischer ›Naturgesetze‹ gibt."
Ziegler erzählt von einem Gespräch mit einem Bankier, der erschüttert war
von dem Elend im Kongo. Auf seiner Bank aber liege zum Teil das
gestohlene Vermögen des gestürzten korrupten Mobutu. Als Ziegler ihm
vorschlug, es einfach zurückzugeben, sei der Bankier ehrlich erschrocken:
Aber das kann man doch nicht. Man darf doch nicht in Kapitalströme
eingreifen! So würde die Ideologie verfangen, meint Ziegler.
Für ihn ist der "einzige Weg die neue planetarische Zivilgesellschaft!" Das
seien die sozialen Bewegungen, so der Bauern in Asien, der Landarbeiter
in Lateinamerika, auch die NGOs, einige Gewerkschaften. Es begann am
30. Nov. bis 5. Dez. 1999 in Seattle. Diese Bewegung nutze ebenfalls die
neue Technik, sie habe sich mobilisiert über das Internet, mittels jener
"Bruderschaft der Nacht", die über Internet kommuniziere. Dazu gehöre
auch das internationale soziale Forum von Porto Alegre in Brasilien, als
Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Ende Januar 2002
tagen beide.
Doch gerade auch die Mobilisierung auf der Straße sei unglaublich wichtig,
so wie die 200.000 in Genua. Weil dort die Gegenposition klar gemacht
werde vor dem Weltbewusstsein. Die sieht man: sie widerstehen.
"Was jetzt entsteht, ist etwas sehr Faszinierendes, und Sie sind Teil
davon."
Aus: Freitag, 44, 26. Oktober 2001
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