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Die Weltgeschichte an einem neuen Wendepunkt?

Der lange Zeithorizont und die Perspektiven der Globalisierung

Interview mit Giovanni Arrighi *

In einem Interview analysiert Giovanni Arrighi, ein Veteran der Weltsystemtheorie, die tektonischen Verschiebungen in der Weltgesellschaft und die Konsequenzen für die emanzipatorischen Bewegungen weltweit. Die Krise der imperialen Supermacht, die neuen Süd-Süd-Vernetzungen und das Auftauchen neuer ökonomischer Pole können weltweit zu erweitertem Spielraum für reformerische und sozialrevolutionäre Kräfte führen und das Wachstum einer neuen Internationale der sozialen Bewegungen befördern.

Das Interview wurde auf dem Berliner Kongress "Kapitalismus reloaded" von Peter Strotmann aufgenommen.

Giovanni Arrighi, man sagt häufig mit einem Schuß Ironie, Sie seien ein Mitglied der "Viererbande". Können Sie erklären, was damit gemeint ist, was Ihre gemeinsame Plattform war oder ist oder sein könnte?

Ja, zur "Viererbande" gehörte Samir Amin und Andre Gunder Frank, die ich beide 1969 in Paris getroffen habe, und Immanuel Wallerstein, den ich 1968 in Dar Es Salam getroffen habe. Und dann habe ich im Verlauf der Jahre eine Anzahl von Artikeln veröffentlicht über die Krise, die kommende Krise, die später in "New Left Review" veröffentlicht wurden und einige Jahre später übersetzt wurden. Gunter Frank fragte mich, ob wir ein gemeinsames Buch über die Krise machen sollten. Ich sagte ja, lasst uns das zusammen mit Samir Amin und Immanuel Wallerstein machen, und so wurde die "Viererbande" geboren mit dem Buch unter dem Titel "The Dynamics of Global Crisis". Wir haben uns regelmäßig getroffen, um die verschiedenen Ansichten zur Krise zu diskutieren. Was wir gemeinsam hatten war wohl eine radikale Dritte-Welt-Perspektive. Das war unsere Gemeinsamkeit, es gab aber auch Differenzen. Wenn man sich das Buch anschaut, so gibt es dort einen Teil, in dem die gemeinsamen Prämissen dargestellt werden, dann vier Einzelteile und dann gibt es dort eine offene Debatte, wobei ich in gewissen Themen mit Gunder, in anderen mit Immanuel und Samir übereinstimmte, in anderen mit Samir etc. Anschließend haben wir ein Buch gemacht unter dem Titel "Transforming the Revolution", das nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Auch hier haben wir auf derselben Basis zusammen gearbeitet, mit einigen gemeinsamen Positionen und andererseits auch unterschiedlichen Einschätzungen. Das wurde dann also die "Viererbande". Wir wollten noch ein anderes Buch machen, aus dem wurde aber nichts. Es gab dann eine gewisse Auseinanderentwicklung zwischen Gunder und Immanuel, bevor Gunder sein Buch "Re-Orient" veröffentlichte. Ich selbst fand mich näher an Gunder und Samir. Als Gunder Buch veröffentlicht wurde, haben wir 3 Besprechungen in "Review", dem Journal des Fernand-Braudel-Zentrums veröffentlicht. Gunder reagierte sehr verärgert, besonders mit Immanuels Besprechung, weniger mit Samir und noch weniger mit mir.

Im Wesentlichen war es eine stärkere Betonung auf den Punkten, die die radikalen Bewegungen des Westens vernachlässigen. Denn es sollte im Auge behalten werden, dass die große Trennung, "the Big Devide" noch immer die zwischen dem Norden und dem Süden ist. Das ist es auch, was uns von solchen Analysen wir Hardt und Negri unterscheidet, die ja meinen, es gebe dieses Nord-Süd-Trennung nicht mehr und es handele sich um eine "flache Welt", wie Thomas Friedman sagt. In einigen Aspekten stimme ich überein mit Hardt/Negi, aber in diesem entscheidenden Punkt nicht, nämlich in der Frage, dass der Nord/Süd Gegensatz der fundamentalste Widerspruch in der gegenwärtigen Welt ist. Wir sind also – in gewissem Sinne – unheilbare "Third Worldist".

Ist da nicht noch ein weiterer gemeinsamer Nenner, der weite Horizont?

Oh ja, in unterschiedlicher Weise. In der Tat war es ja ein Disput zwischen Wallerstein und Frank, wie weit zurück dieser Zeithorizont ausgedehnt werden sollte. Immanuel hat die Einschätzung, dass alles im langen 16. Jahrhundert begonnen hat, in Europa, hier habe sich das System geformt. Gunder behauptet, dass es auch vorher eine globale Ökonomie gegeben hat, die sich um China herum zentriert hat, während Europa die Peripherie war. Samir und ich – obwohl nicht in allen Punkten einer Meinung mit Gunder - vertreten auch die Meinung , dass die Entstehung der kapitalistischen Wirtschaft in Europa in einen Zusammenhang gestellt werden muss mit der globalen Ökonomie, wie sie zuvor existiert hat. In meinem Buch "The Long Twentiest Century" habe ich meine Sicht der Entstehung der Kapitalismus und seiner Transformation dargelegt. Obwohl es Europa als Zentrum dieser Transformation sieht, so wird es doch in den weiteren Horizont der Eurasischen Ökonomie gestellt, wie sie zur Zeit der italienischen Stadtstaaten existierte.

Also ja, wir haben den langen Zeithorizont, das ist sehr wesentlich.

Was ist Ihre Ansicht der Globalen Krise heute? Konzentrieren sich die Krisenerscheinungen – anders vielleicht als vor 30 Jahren –auf die Währungsfragen, den Abstieg des US-Dollars, das desaströse Doppeldefizit der USA etc.?

Es gab schon in den 70er Jahren eine große Dollarkrise. Zunächst hatten wir den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, die Zentralität des Dollars wurde in Frage gestellt. Der Neoliberalismus ist eine Reaktion auf diese Krise. Ende der 70er gab es diesen Run auf den Dollar, als der Goldpreis auf 800$ per Feinunze stieg. Das hat die USA dazu bewegt, einen Konkurrenzkampf um die Kapitalressourcen der Welt zu führen, um den Dollar zu festigen. Es war der Volcker-Schock, der die Schuldenkrise der 3. Welt provozierte. Es war erfolgreich im Wiedererstarken des Dollars und in der zeitweiligen Wiederbelebung der US-amerikanischen Hegemonie, hat aber gleichzeitig andere Widersprüche provoziert. David Harvey interpretiert den Neoliberalismus als eine Klassenreaktion auf den "Wohlfahrtsstaat" und die Macht der Arbeiter. Ich denke, das ist ein Element - Gunder Frank sieht das anders. Das Hauptziel der neoliberalen Konterrevolution der frühen 80er Jahre ist nach meiner Einschätzung allerdings die Zähmung und Demütigung der Dritten Welt. In den 70er Jahren verlangte ja bekanntlich die Dritte Welt nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Die Brand-Kommission war ja z.B. eine reformistische Antwort auf dieses Verlangen. Britannien und die USA nahmen stattdessen eine konterrevolutionäre Position ein und eskalierten die Konkurrenz auf dem Kapitalmarkt. Das zerstörte tatsächlich die Wirtschaften Afrikas und Lateinamerikas. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass das auch die Zeit ist, in der der Aufstieg Ostasiens begann. In der Mitte der 80er beobachten wir den Aufstieg Chinas und die Wende in Indien. Es ist sehr wohl möglich, dass diese Konterrevolution scheitert, da mit China und Indien und anderen Ländern ein neuer Pol im Süden entsteht, der Gegenpol zu den USA aufbaut.

Wieso Gegenpol? Handelt es sich nicht lediglich um einen kapitalistischen Gegenpol?

Na ja, wie ich gestern auf dem Kongress "Kapitalismus reloaded" sagte, würde ich das offen lassen. Wir sollten nicht – darauf hat Samir Amin hingewiesen –die Möglichkeit des Marktsozialismus in China ausschließen. Obwohl es ungeheuere Ungleichheiten gibt, obwohl es eine große und wachsende Kapitalistenklasse in China gibt, in einem Land, in dem 1,3 Milliarden Menschen leben, heißt das nicht, dass China ein kapitalistisches Land ist. Man kann Kapitalisten haben ohne Kapitalismus zu haben. Die kapitalistische Klasse in China bildet sich hauptsächlich aus der chinesischen Diaspora, sie hat sich beträchtlich bereichert in ihren Beziehungen zur chinesischen kommunistischen Partei, aber sie kontrolliert nicht diese Partei. Die Partei selbst ist tief gespalten, aber man sollte nicht die Kraft der Grassroot-Bewegung von Arbeitern und Bauern unterschätzen.

Mit anderen Worten: China ist nicht die Sowjetunion. Es gibt zwei große Unterschiede zwischen China und der SU: zum einen hat der Kommunismus in China niemals die Bauernschaft zerstört, wie Stalin das durch Unterdrückung und Urbanisierung getan hat. Die chinesische Revolution hingegen gründete sich auf die Bauern und die Bauernschaft wurde niemals zerstört. Diese Bauernschaft ist nicht nur eine Quelle von Arbeit, sondern auch eine Quelle der Organisationsfähigkeit von kleinen Unternehmern in einem riesigen Umfang. Das ist der eine große Unterschied.

Dann der andere große Unterschied: zu einem bestimmten Zeitpunkt zerstörte Stalin die Kommunistische Partei durch die Geheimpolizei, während Mao die Partei durch die Massenbewegung zerstörte.

Beide hatten keinen Erfolg, oder?

Da bin ich mir nicht sicher. Stalin hat sicherlich erfolgreich die revolutionäre Partei der SU zerstört und eine Art bürokratische Klasse geschaffen. In China war das anders. Die Partei wurde zerstört, aber als sie nach der Kulturrevolution, nach Maos Tod, zurückkam, da war die Benutzung des Marktes als Herrschaftsinstrument ein Ausdruck einer sehr geschwächten bürokratischen Klasse. Daher mussten sie mobilisieren, Konzessionen machen etc. Deshalb sollte man keine voreiligen Schüsse ziehen, denn diese Dinge brauchen eine lange Zeit, um sich zu zeigen. Man braucht einen langen Zeithorizont besonders in einem Land wie China. Das sind lange Perioden. Was wir hier haben ist eine sehr breite kleinbürgerliche Schicht und eine winzige Schicht der Oberschicht-Billionäre. Auf der anderen Seite gibt es eine breite Protestbewegung, eine wieder auferstehende, wachsende Arbeiterklasse, wie Bevely Silver analysiert hat. Es gibt Tausende, Zehntausende von Protestbewegungen. Welches andere Land hat eine solche Bewegung! Zwar sind die Gewerkschaften von der Partei kontrolliert, aber es gibt alle möglichen informellen Streiks und Kämpfe, die dem Kapital und dem Staat die Grenzen zeigen. Auch die neue Führung ist sich sehr bewusst der Tatsache, dass die Ungleichheiten und Ungleichgewichte, die durch das so genannte Wirtschaftswunder erzeugt worden sind, angegangen werden müssen, wenn die Partei überleben will.

Ich sage nicht, dass das Sozialismus ist, ich stelle nur fest, dass dort heftige Kämpfe stattfinden und dass es nicht entschieden ist.

Könnte man das mit der Taktik des Guerillakampfes vergleichen? Man versucht den Frontalangriff, es gelingt nicht, man zieht sich zurück, gibt befreite Gebiete auf, versucht es auf Umwegen. Sie versuchten, der Bürokratisierung durch die Kulturrevolution zu entgehen, das misslang und Teng Hsia Ping übernahm wieder die Macht. Vielleicht denken die Chinesen dialektisch, in langfristigen Widersprüchen, in sehr langen Zeiträumen. Reorganisieren sie sich jetzt in einem strategischen Rückzug, um neue Kräfte zu sammeln? Wird es mit den neu entstehenden proletarischen Kräften einen neuen Anlauf zum Sozialismus geben?

Ob das sozialistisch sein wird, hängt vom Ergebnis der verschiedenen Kämpfe und politischen Konzepten ab. Ich unterscheide – in Anlehnung an Fernand Braudel – zwischen Markt und Kapitalismus. In der Linken, auch in der Rechten, werden Markt und Kapitalismus zu oft gleichgesetzt. Braudel bezeichnet den Kapitalismus als anti-marktwirtschaftlich. Die Beziehung zwischen Kapital und Markt ist sehr widersprüchlich. Wenn der Markt wirklich herrschen würde, wenn es wirklich vollkommene Konkurrenz gäbe, dann könnte es keinen Kapitalismus geben. Kapitalismus existiert, weil er den Markt manipuliert, internalisiert und mächtige Organisationen entwickelt und – wie Braudel sagt – die Kontrolle über den Staat ergreift. Auch deshalb denke ich, die Sache in China ist nicht entschieden, denn die Kapitalisten kontrollieren dort nicht den Staat.

Aber wenn sie nun auch die Unternehmer in die Partei aufnehmen und ihre Unternehmen Kapital in die entwickelten kapitalistischen Länder exportieren, wird es dann nicht zu einem ganz normalen kapitalistischen Akkumulationsprozess kommen, der den Rest der Gesellschaft übernehmen wird?

Es gibt einen US-amerikanischen Autor (Preskovic), der von 3 Milliarden neue Kapitalisten in Indien und China spricht. Aber das ist ein Widerspruch in sich selbst. Man kann nicht 3 Milliarden Kapitalisten haben. Denn die Kapitalisten brauchen ja die, die keine Kapitalisten sind. Wenn man eine so große Menge von Möchtegern-Kapitalisten hat, dann hat man eine Situation, in der die Kapitalisten miteinander in Konkurrenz stehen, das hält die Profitrate niedrig. Und das Land, das zum Funktionieren des Kapitalismus notwendig ist – was auch immer die Ideologen des Kapitalismus dazu sagen – wird zerstört. Je mehr Kapitalisten man schafft, um mehr konkurrieren sie untereinander. Auch bei Marx ist die Ausbeutung von Arbeit durch Kapital erst dadurch möglich, dass die Arbeiter in eine Situation gestellt werden, in der die Arbeiter miteinander konkurrieren. Es geht also um die Intensität der Konkurrenz zwischen Arbeit auf der einen Seite und Kapital auf der anderen Seite. Die Tatsache, dass es immer mehr Kapitalisten gibt, bedeutet in sich nicht, dass die Gesellschaft immer kapitalistischer wird.

Ist das der Grund, warum Giovanni Arrighis neues Buch den Titel trägt "Adam Smith in Peking"?

Ja, weil – ganz im Gegensatz zur gängigen Meinung – Adam Smith radikal antikapitalistisch war.

Wie bitte?

Ja, seine Theorie von der Konkurrenz besagte, dass man die Kapitalisten miteinander konkurrieren lassen sollte, während die neuen neoliberalen Ideologen dafür sorgen wollen, dass die Arbeiter miteinander konkurrieren sollen, zum Vorteil der Profite der Kapitalisten. Es stellt also die Welt auf den Kopf, wenn behauptet wird, jeder sollte zum Vorteil der Kapitalisten miteinander konkurrieren. Smith hat genau das Gegenteil gesagt. Er wollte die Kapitalisten miteinander konkurrieren lassen. Wann immer – sagt er - Kapitalisten sich treffen, konspirieren sie gegen das allgemeine Interesse. Seine Idee ist es deshalb, freien Marktzugang zu gewährleisten, Konkurrenz zu erzwingen und dadurch die Profite zu senken. Sein Interesse war es, die Profite zu senken. Die Idee von der Krise ist nicht von Marx, sondern von Adam Smith. Marx hat behauptet, dass eine Akkumulationskrise dann entsteht, wenn neue Kapitalistenklassen auftauchen. Smith ging von einem Gleichgewichtszustand aus. Mit Smith und der chinesischen Erfahrung kann man also sagen, dass der Markt ein Instrument der Herrschaft ist. Zentrale Idee ist nicht die so genannte unsichtbare Hand in dem Sinne eines selbst regulierenden Marktes im Gegensatz zur bürokratischen Regulierung. Die Frage ist vielmehr: in welchem Interesse findet die Regulierung statt? Deshalb muss man nicht auf die Form der Dinge, sondern auf die Substanz der Dinge und die zugrunde liegende Strategie schauen.

Man sollte auch immer im Auge behalten, dass China 1,3 Milliarden Menschen zählt. Die Provinz Shandong, die ich im letzen Jahr besuchte, hat dieselbe Bevölkerungsgröße wie Deutschland, und das ist nur eine Provinz. Und dort gibt es eine Vielzahl von Arrangements auf der Grassroot-Ebene, von dörflichen und städtischen Kleinunternehmen, die sich zu riesigen Konglomenraten bilden, mit Bauernfamilien als Eigentümern, und es gibt so viele davon. Diese dörflich-städischen Komplexe beschäftigen 180 Millionen Menschen, das sind mehr als die Beschäftigten der USA. Selbst die Multinationalen Unternehmen beschäftigen nur einen Teil davon. Es ist also eine sehr komplexe, widersprüchliche Situation. Man kann nicht Markt mit Kapital gleichsetzen. Die Frage bleibt: der Markt, wie funktioniert er, wer konkurriert miteinander. Natürlich, mit der Liquidation der Staatsunternehmen entstand eine große Masse von arbeitlosen oder unterbeschäftigten Arbeitern. Gleichzeitig entsteht eine neue Arbeiterklasse, die man genau beobachten sollte.

Es gibt da noch diese andere Dimension. Im Mai habe ich Samir Amin getroffen und es war interessant, dass wir - ohne uns vorher zu treffen - doch zu denselben Schlussfolgerungen über China und über den Süden gekommen sind. Denn das Auftauchen von China als einem neuen Zentrum der weltweiten Produktion und Akkumulation verändert die globalen Beziehungen zwischen Norden und Süden. China ist immer noch ein armes Land, ist immer noch in vielen Aspekten ein Land des Südens. Es strahlt auf andere Länder des Südens aus. Lateinamerika erhebt sich jetzt gegen die US-Hegemonie, auch unter anderem, weil in China eine Alternative gesehen wird. Venezuela, Brasilien und andere Länder finden in China ihren neuen, höchst dynamischen Markt. Im Unterschied zu Bandung, das ja im Wesentlichen ideologischen und politischen Einfluss ausübte, aber ansonsten höchst abhängig vom Markt des Westens und Nordens war, gibt es heute eine Alternative. Indien, Südafrika, und Brasilien haben auch die gesamte Hochtechnologie, die sie brauchen. China finanziert die USA, sie haben dort das Kapital, und all die Arbeitskräfte und auch die natürlichen Ressourcen, die sie brauchen, also eine neue Situation in der Welt ist entstanden. Abkoppelung ist nicht mehr die einzige Frage, denn sie koppeln sich ab, aber sie verbinden sich auch unter einander und stärken sich gegenseitig in Bezug auf den Norden, und dadurch veranlassen sie den Markt, in ihrem Interesse zu arbeiten.

Nicht alle werden dieser Analyse zustimmen, denn ist diese Situation günstig für die Arbeiter? Die nationale Bourgeoisie wird gestärkt, aber bedeutet das, dass durch diese Süd-Süd-Vernetzung die Emanzipation der Bevölkerung vorangetrieben wird?

Was ist damit genau gemeint? Ich hatte das Glück, China zur Zeit der Kulturrevolution 1970 für 5 Wochen besuchen zu können, dann kam ich 1993 zurück und seitdem bin dort regelmäßig gewesen. Es gibt dort auch ein "empowerment of the people". Mehr als 100 Millionen Menschen – je nachdem, welche Statistik man benutzt – sind aus absoluter Armut befreit worden. Man sieht, dass die Leute in vieler Hinsicht besser leben. In andere Hinsicht wiederum nicht. Wenn eine ähnliche Entwicklung in Brasilien und Indien stattfinden würde, wäre das schon was.

Bei Chavez ist das anders, er ist nicht so populär bei der nationalen Bourgeoisie in Lateinamerika, aber er attackiert die großen sozialen Unterschiede, die in diesen Ländern herrschen.

Die Entwicklung der nationalen Bourgeoisien des Südens ist aufgrund des Nachahmungseffektes stark mit der Entwicklung des Nordens verknüpft, da für sie der Maßstab der Lebensstandard der Bourgeoisie des Nordens ist. Wenn diese großen Differenzen nicht überwunden werden, ist die Klassenzusammensetzung des Südens in vielfacher Hinsicht deformiert. Ja, es gibt gewaltige neue Ungleichheiten, nicht so sehr in Indien, dort waren sie ja eh schon riesig, aber in China. Das erzeugt die Bedingungen für interne Transformationen, neue Arbeiterklassen werden erzeugt. Warum sollten diese Arbeiterklassen weniger kämpferischer sein als die Arbeiterklassen des Nordens? Die Geschichte. Südkoreas, Südafrikas, Brasiliens hat das gezeigt. Die Diktatur des Apartheit-Regimes wurde durch die Arbeiter zu Fall gebracht. China hat eine jahrhundertealte Tradition von Rebellionen.

Der Wind in der Dritten Welt scheint sich also zu drehen, man kann einen gewissen Optimismus angesichts der Süd-Süd-Vernetzung beobachten. Wenn man den Zeithorizont erweitert auf die nächsten 50 oder hundert Jahre, gibt es möglicherweise eine neue weltrevolutionäre Bewegung? In diesem großartigen Artikel in der "New Left Review" stellen Sie den ökonomischen, politischen, ja selbst militärischen Abstieg des US-Imperialismus fest. Bedeutet das, dass Raum entsteht für neue revolutionäre Bewegungen, die nicht durch die USA verhindert oder zerschlagen werden können? Gibt es neue Modelle sozialer Umwälzungen, die auch für uns im Norden für Inspiration sorgen können? Kann man eine neue Theorie der Weltrevolution formulieren?

Na ja, das haben wir (die "Viererbande) schon im Buch "Transforming the Revolution" zu formulieren versucht. Die neuen Revolutionen können nicht die alten sein. Die Idee der Revolution selbst muss umformuliert werden. Revolution als Eroberung der Staatsmacht hat in gewisser Weise Erfolg gebracht, aber insgesamt ist es an ihre Grenzen gestoßen. Es geht nicht so sehr um die Eroberung der Staatsmacht als um die Bedingungen sozialer Transformationen. Das bedeutet Unterschiedliches je nach den verschiedenen Orten, manchmal Gutes, manchmal Schlechtes.

Lasst uns einen Blick auf China, Indien oder Brasilien werfen. Wenn die Industrialisierung des Südens und die Einkommensverbesserungen in diesen Ländern zu internen Kämpfen führen, dann ist z.B. die ökologische Frage ein großes Thema. China und Indien können nicht in derselben Weise reich werden wie es für die USA oder Europa der Fall war, weil das alle ersticken würde. Wenn diese Länder also neue Arten des Konsums, der Produktion, des Transformierens finden würden, die aus den Kämpfen der Basisbewegungen unterschiedlicher Art entstehen, dann könnte das weit größere revolutionäre Auswirkung auf die Gesellschaft haben als die politischen Revolutionen.

Also sollte die Idee der Revolution selbst neu erfunden werden.

Ja, und Pessimismus ist nicht gerechtfertigt. Zum Beispiel im Thema Krieg: die weltweite Bewegung gegen den Irak-Krieg im Februar 2002 ist historisch einmalig. Beim Ausbruch des ersten Weltkrieges brachen – wie wir wissen – alle sozialen Bewegungen zusammen und haben sich mit ihren Bourgeoisien verbündet. Niemals in der Geschichte hat es eine weltweite Bewegung gegen den Krieg gegeben bevor er ausbrach. Das zeigt, dass es auf der Ebene der Bevölkerung ein neues Bewusstsein gibt, obwohl die ideologischen Differenzen bleiben. Und das hat den Handelungsspielraum der Regierungen verringert, in Deutschland hat Schröder damit sogar Wahlen gewonnen. Es gibt also einen Druck von unten, der bestimmt, was die Regierungen tun können. Das ist eine neue Entwicklung, etwas, das in gewissem sinne der Ersten Internationalen ähnelt. Als Marx auf dem Treffen der Ersten Internationalen sprach, waren einige Anarchisten, einige Kommunisten usw. Es gab keine politische Einheit. Was wir erleben, spielt sich in einem viel größerem Maßstab ab. Es ist sehr gefährlich, sich nostalgisch zur Revolution zu verhalten. 1968 war eine Revolution, die versagte und siegte, es hat die Welt verändert, so oder so, es hat die Welt durchgerüttelt. Revolution ist ein lang anhaltender Lernprozess, sie ist erfolgreich hier, erfolglos dort, sie hat seine Auf- und Abschwünge. Die Linke, besonders die marxistische Linke, war immer in die Eroberung des Winterpalastes verliebt. Ich denke, es gibt keinen Winterpalast, den man erobern kann, es macht keinen Sinn. Wenn man sich die chinesische Revolution anschaut, dann gab es dort keinen Winterpalast, und das mag ein Grund sein, warum sie überlebt. Mao hatte zu den Massen, zu den Bauern zu gehen und dort Wurzel zu schlagen, sie umzingelten die Städte, dann gab es die japanische Invasion usw. Es finden alle möglichen Revolutionen statt, die viel wichtiger sind als die Eroberung des Winterpalastes.

Es gibt da ein Problem in der marxistischen Theorie. Traditionelle Marxisten behaupteten ja, dass mit der Entwicklung der Produktivkräfte im Norden dort ein Gegenmodell zum Kapitalismus aufgebaut werden könnte. Wenn nun die neuen Umbrüche im Süden zu deren Industrialisierung führen sollten, bedeutet das, dass von dort her neue Modelle nichtkapitalistischer Art entstehen, die dem alten Norden zeigen, wie man sozialistische Modelle gestaltet?

Na ja, die Arbeiter des Nordens waren immer ein Problem, da sie in einem goldenen Käfig gefangen gehalten waren und überzeugt waren, dass sie etwas zu verlieren haben, wenn die Nation verlor. Nehmen wir dagegen China. Was Marx über das Proletariat sagt, dass es sich nicht emanzipieren kann ohne die ganze Gesellschaft zu emanzipieren, ist mit größerer Wahrheit auf das chinesische Proletariat und auf China selbst anzuwenden als es je zutraf für das britische oder US-amerikanische Proletariat. Denn China kann sich nicht emanzipieren ohne dass es z.B. ökologische Lösungen, neue Konsummuster, neue Produktionstechnologien erarbeitet. Andernfalls ersticken sie sich selbst bevor sie die ganze Welt ersticken. Warum zögern die USA, China anzugreifen? Weil China die Arbeiterklasse der USA mit billigen Produkten versorgt, die ihr einen höheren Lebensstandard erlauben. Natürlich zerstört das auch Arbeitsplätze. Eine gespaltene Situation. Wenn China sich erhebt und Konsummuster, Produktionsmuster, Demokratiemuster entwickelt, die viel globalisierbarer sind als die Muster, die sich im kleinen aber dominanten Universum des Westens entwickelt haben. Schauen wir nur mal auf die Geographie und vergleichen wir Gesamteuropa mit Gesamtchina. Europa eroberte von Wlodivostok über Europa über den Atlantik hinaus die beiden Amerikas, Australien usw. Wenn wir die Bevölkerung dieses Paneuropas betrachten, eingeschlossen die Siedler, dann sind das von Wladiwostok zu Australien 1,6 Millarden Menschen. China hat 1,3 Milliarden, etwa vergleichbar damit, aber auf einem sehr viel kleinerem Stück Land. So ist es historisch ein sehr arbeitsintensives, die Natur schützendes Modell. Es gibt hier natürlich einen Streit um das Konsummodell. Wenn China dem fordistischen Konsummodell folgt, mit Autos etc, dann zerstört es alles. Wenn es jedoch fort fährt, einen Energie sparenden, Kapital sparenden, arbeitsintensiven Weg einzuschlagen, dann kann es ein alternatives Modell für die Welt entwickeln.

Wird das geschehen?

Ich weiß es nicht.

Ist es möglich?

Ich denke ja!

Ist es wahrscheinlich?

Ich weiß es nicht.
Darum geht der Kampf. Er geht nicht um die Eroberung der Macht hier und da.
Der Kampf ist auch ein kultureller und intellektueller Kampf. Es geht darum, zu verstehen, dass die wesentlichen Transformationen sich um ein Epizentrum drehen, das nicht mehr im Westen ist. Deshalb muss man offen sein.

Der Imperialismus verliert seine Gestaltungskraft?

Zum Konzept des Imperialismus und Neoliberalismus muss man vorsichtig sein. Die alten Imperialisten wollten Land und Leute erobern und beherrschen. Die neuen Imperialisten wollen das gar nicht. Natürlich gibt es da Widersprüche. Einige wollen die Ausdehnung, andere nicht. Die USA drängen z.B. Europa, die Türkei aufzunehmen, aber sie würden niemals Mexiko inkorporieren in der Weise wie Europa Spanien oder Portugal aufgenommen hat. Ich denke im Übrigen, Europa sollte Britannien aus Europa ausschließen und zum 51. Staat er USA machen.

Unterschätzt eine solche Analyse nicht die Rolle der NATO? Handelt es sich hier nicht um ein aggressives Militärbündnis, das aufgelöst gehört?

Glücklicherweise werden sich solche Dinge von selbst auflösen. Die NATO ist eine anachronistische Institution geworden. Kagan, dieser konservative US-Theoretiker, fordert ja explizit, dass die NATO umstrukturiert werden muss, um den nächsten Krieg mit China führen zu können. Deshalb sagte ich: vergessen wir die alte Idee der innerimperialistischen Rivalitäten. Momentan geht es eher darum, wie der Norden mit dem Süden umgeht. Das sieht man am Irak-Krieg. Es ging nicht so sehr darum, dass die Europäer den Süden nicht auch in seiner untergeordneten Stellung halten wollten, sie meinten nur zu Recht, dass Bush hier eine verrückte Methode anwendet.

Treibt der Irak-Krieg einen Nagel in den Sarg des US-Imperialismus?

Wiederum: Es könnte sein.

* Giovanni Arrighi ist Professor für Soziologie an der Johns Hopkins Universität in Baltimore/USA. Seine Forschungen konzentrieren sich auf Ursachen und Folgen von Ungleichgewichten in Reichtum, Status und Macht von Nationen.
Das Buch "Adam Smith in Beijing, Die Genealogie des 21. Jahrhunderts" von Giovanni Arrighi erscheint im Dezember 2006 im VSA-Verlag


Aus: "Sand im Getriebe"; http://sandimgetriebe.attac.at


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