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Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert

Beschluss des DGB zur Friedenspolitik

Im Folgenden dokumentieren wir den vom Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Mai 2002 verabschiedeten Leitantrag zur Friedenspolitik

53 (Angenommen in folgender Fassung als Abänderungsantrag 6)

Bundesvorstand

Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert


Am 11. September 2001 erreichte der internationale Terrorismus eine neue Dimension. Die menschenverachtenden, durch nichts zu rechtfertigenden Terroranschläge haben deutlich werden lassen, dass sich auch die Weltmacht USA nicht vor diesen schrecklichen Gewalttaten schützen konnte. Vor dem Hintergrund dieser neuen Formen der Bedrohung sind die bisherigen Grundannahmen und Denkmuster der inneren und äußeren Sicherheitspolitik neu zu bewerten.

Eine umfassende Strategie gegen den Terrorismus erfordert neue wirtschaftliche, soziale und entwicklungspolitische Initiativen, sowie juristische Konsequenzen und notfalls mit einem UNO-Mandat versehene Militäraktionen.

Wir warnen nachdrücklich gegen eine Eskalation von Hass und Gewalt und plädieren für Besonnenheit im Kampf gegen den Terrorismus. Die Bekämpfung des Terrors und die Beseitigung seiner Ursachen ist ein langer Prozess und umfasst ein Bündel von Maßnahmen. Dazu gehört die Beseitigung der wirtschaftlichen und sozialen Ursachen von Verarmung, Hunger und Elend in verschiedenen Regionen der Welt. Auch dadurch muss der terroristischen Gewalt der Nährboden entzogen werden.

Im Angesicht terroristischer Gewalt gilt es, die Prinzipien einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft zu bewahren. Dies betrifft den zwischenstaatlichen wie den innerstaatlichen Bereich. Darum muss die Balance zwischen den erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Terrorismus und der Wahrung der Freiheits- und Bürgerrechte wiederhergestellt werden.

Der DGB spricht sich deshalb mit allem Nachdruck dagegen aus, im Namen der Terrorbekämpfung rechtsstaatliche Prinzipien der Gewaltenteilung auszuhöhlen, den Datenschutz aufzuweichen und die Diskriminierung im Ausländerrecht sowie im Umgang mit Ausländern zu verschärfen. Es darf nicht dazu kommen, dass polizeiliche Ermittlungen ohne jeden Anfangsverdacht und außerhalb staatsanwaltschaftlicher Kontrolle aufgenommen werden können. Auch die Einschränkung des Datenschutzes durch den Auskunftsanspruch gegenüber Banken und Internet-Betreibern ohne Information der Betroffenen sind abzulehnen. Das gilt auch für die Möglichkeit, Ausländer auszuweisen ohne einen konkreten Verdacht der Betätigungen in oder der Unterstützung von terroristischen Vereinigungen.

Die Vereinten Nationen sind die einzige globale Instanz, die legitimiert ist, im Bereich der zwischenstaatlichen Politik über den Einsatz militärischer Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus zu entscheiden. Auch hier muss weiterhin das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der größtmöglichen Vermeidung ziviler Opfer Beachtung finden.

Die Beseitigung des Taliban-Regimes hat für Afghanistan nach über 20 Jahren Krieg eine Chance für Frieden, Menschenrechte, Wiederaufbau und nationale Unabhängigkeit gebracht. Diese Chance müssen die politischen Kräfte Afghanistans mit Hilfe der Vereinten Nationen und der gesamten internationalen Staatengemeinschaft jetzt nutzen. Diese stehen in der Verantwortung eine Rückkehr von Gewalt und Bürgerkrieg zu verhindern. Die Gewerkschaften sehen mit Sorge, dass bei Einsatz und Kosten für den Krieg und den bereitgestellten Mitteln für den Wiederaufbau Afghanistans ein eklatantes Missverhältnis zwischen Kriegs- und Friedensmission besteht. Die Bundesregierung muss sich im Rahmen der Europäischen Union für nichtmilitärische Konzepte der Terrorismusbekämpfung und der Stabilisierung von Krisenregionen engagieren. Diese müssen in eine umfassende Strategie für Frieden, Sicherheit und globale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert eingebettet werden.

Für die unmittelbare Zukunft ergeben sich aus Sicht des DGB folgende Handlungsnotwendigkeiten:

1. Konfliktverhütung und Krisenprävention ausbauen
  • Die seit dem 11. September auf Initiative der USA zustande gekommene globale Allianz gegen den Terror, der neben den Nato-Mitgliedstaaten nicht nur die russische Föderation und China, sondern auch arabische und islamisch geprägte Staaten angehören, muss in eine dauerhafte Allianz für Frieden, weltweite soziale Gerechtigkeit und Entwicklung einmünden.
  • Die Vereinten Nationen bieten das notwendige Forum für den Aufbau einer solchen universalen Koalition. Sie allein verleihen der Reaktion auf den Terrorismus globale Legitimität und verfügen über die notwendigen politischen Instrumente zur Friedenssicherung und zur Überwindung politischer, ethnischer und religiöser Konflikte.
    Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2001 an Kofi Annan und die UNO belegt die wachsende Bedeutung dieser oft unterschätzten und zu wenig unterstützten Weltorganisation.
    Um den gestiegenen Anforderungen an die UNO gerecht zu werden, muss sie finanziell, administrativ und vor allem politisch gestärkt werden. Interne Reformen bei der Arbeitsweise und Zusammensetzung des Sicherheitsrats müssen hinzukommen.
    Ein weiterer wichtiger Schritt zur Stärkung der Vereinten Nationen und zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ist die Ratifizierung des Statuts von Rom zur Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs. Militärtribunale sind kein geeignetes Mittel, um die Täter und ihre Hintermänner ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Dem Statut liegt die Überzeugung zugrunde, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine inneren Angelegenheiten einzelner Staaten sind. Der DGB fordert die Regierungen Russlands und der USA auf, sich zu beteiligen.
  • Die Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle muss weitergeführt werden. Dazu gehört, dass die internationalen Verträge zur Nichtweitergabe von Nuklearwaffen und von Trägerwaffen-Technologien, das Chemiewaffenübereinkommen und das Übereinkommen über biologische Waffen weiterentwickelt werden. Die Ratifizierung des Atomteststopp-Abkommens ist überfällig.
  • Der nuklearen Abrüstung kommt eine besondere Bedeutung bei. Der DGB begrüßt, dass sich Russland und die Vereinigten Staaten darauf verständigt haben, den Umfang ihrer strategischen Nuklearwaffen drastisch zu verringern.
    Der DGB bedauert, dass der ABM-Vertrag (Vertrag von 1972 zwischen den USA und Russland zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) von den Vereinigten Staaten gekündigt wurde. Das Festhalten der amerikanischen Regierung an einem neuen Raketenabwehrsystem birgt die Gefahr weiterer Aufrüstung in sich und wird von den meisten westeuropäischen Regierungen abgelehnt. Waffenexporte sind deutlich zu vermindern und Initiativen zur Rüstungskonversion zu ergreifen.
  • Die Bundesregierung muss an der restriktiven Rüstungsexportpolitik Deutschlands festhalten. Kriegswaffen dürfen nicht in Spannungsgebiete und nicht an Empfängerstaaten geliefert werden, die erwarten lassen, dass sie die Waffen nicht nur zu ihrer legitimen Verteidigung einsetzen. Der Kampf gegen den Terror darf nicht dazu dienen, diese Prinzipien auszuhebeln.
  • Deutschland hat vor dem Hintergrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Auch für den DGB ist das Existenzrecht Israels unantastbar. Seine Anerkennung und Respektierung durch die Palästinenser sind unabdingbare Voraussetzungen für eine dauerhafte Friedenslösung, ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und ihr Recht auf einen souveränen Staat Palästina. Die Menschen auf beiden Seiten haben das Recht auf ein Leben in Sicherheit und unter gerechten und sozial akzeptablen Lebensverhältnissen. Daher sind alle Kriegshandlungen und Selbstmordkommandos sofort zu beenden. Zur Deeskalation der Gewalt ist dringend eine internationale diplomatische Initiative für eine friedliche Lösung erforderlich, um die vorhandenen UN-Resolutionen umzusetzen und an den bereits vorliegenden Vereinbarungen zwischen Israel und den Palästinensern anzuknüpfen.
    Die Lösung von Regionalkonflikten kann nur gelingen, wenn Selbstbestimmungsrecht, Volkssouveränität, sowie Demokratie und Menschenrechte Anwendung finden.
  • Der DGB setzt sich dafür ein, den interkulturellen Dialog zu intensivieren. Der Austausch zwischen den Kulturen und Religionen ist die einzige Möglichkeit, Feindbilder und Bedrohungsgefühle abzubauen. Dies gilt auch für das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Kulturen und Herkunft in Deutschland.
2. Globalisierung gerecht gestalten
  • Armut und Unterentwicklung sind nicht die einzigen Ursachen für den Terrorismus. Aber Hunger und wirtschaftliche und soziale Perspektivlosigkeit tragen dazu bei, dem Terrorismus eine Grundlage zu bieten. Der Kampf gegen den Terrorismus kann ohne Überwindung der weltweiten Armut nicht gewonnen werden.
    Die Überwindung des internationalen Terrorismus erfordert grundlegende Änderungen der Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Solidarität und Gerechtigkeit sind auch in einer globalen Welt möglich. Der Prozess der Globalisierung muss aber gestaltet werden und kann und darf nicht nur Finanzmarktakteuren und multinationalen Konzernen überlassen bleiben, das gebieten Moral und Menschlichkeit. Die gerechte Verteilung der Erträge in der Globalisierung ist jetzt zu einer zentralen Forderung einer umfassenden Sicherheitspolitik geworden.
  • Die nationale und multinationale Entwicklungszusammenarbeit muss stärker zur Konfliktprävention in den Empfängerländern beitragen. Politische, soziale und wirtschaftliche Stabilität und damit auch Frieden sind ohne verantwortungsvolle Regierungsführung und den Schutz der Menschenrechte nicht denkbar. Hier muss die Entwicklungspolitik ansetzen und den Ausbau und die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen, die Achtung von Menschen- und Gewerkschaftsrechten, den Zugang zu sozialen Diensten und die Bekämpfung der Korruption in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen.
  • Der DGB unterstützt die von der Bundesregierung auf dem G 8 - Treffen in Köln 1999 eingebrachte Initiative zur Entschuldung der ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder und fordert deren zügigere Umsetzung. Die dadurch erzielten Entlastungen müssen vor allem den armen Bevölkerungsschichten zugute kommen.
  • Entwicklungszusammenarbeit ohne eine konsequente Marktöffnung für die Produkte der Entwicklungsländer verfehlt ihr Ziel. Bereits heute nimmt die Europäische Union fast ein Drittel der Exporte der 48 am wenigsten entwickelten Länder auf. Ziel muss es sein, die Märkte der Europäischen Union, u.a. für Reis und Bananen, stärker für die Produkte dieser Länder zu öffnen. Damit werden sie als Handelspartner aufgewertet und ihre Rolle als Zuwendungsempfänger wird verringert.
  • Gleichzeitig müssen im Rahmen der Welthandelsorganisation soziale und ökologische Mindeststandards im Welthandel verankert werden. Als soziale Mindeststandards müssen die fünf von der Internationalen Arbeitsorganisation beschlossenen Kernarbeitsnormen gelten.
    Die Politik und Funktionsweise des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation müssen transparenter und demokratischer gestaltet werden. Die Menschen in den Entwicklungsländern müssen von Betroffenen zu Beteiligten werden. Das Konzept der Bundesregierung zur "Entwicklungspolitik als globale Strukturpolitik" weist in die richtige Richtung. Es wird zusehends wichtiger, globale Rahmenbedingungen in WTO, IWF, Weltbank und anderen internationalen Regelwerken mitzubestimmen, auch seitens nichtstaatlicher Akteure. Die Übermacht der OECD-Länder in den internationalen Verhandlungssystemen sollte verringert werden. Ziel muss die gleichberechtigte Teilhabe aller Beteiligten sein.
3. Europa international handlungsfähig machen
  • Die Europäische Union muss heute mehr denn je ihr politisches Gewicht einbringen, um internationale Konfliktlagen auch ohne militärische Gewalt zu lösen. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in der Weltpolitik und die soziale Gestaltung der Globalisierung müssen Kernstück eines neuen sicherheitspolitischen Denkens in der Europäischen Union werden. Die Europäische Union muss die Anstrengungen für ein gemeinsames europäisches außen- und sicherheitspolitisches Konzept verstärken. Nur so können die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, im Bündnis und in der westeuropäischen Union sich gemeinsam für eine neue, sozial gerechtere und friedlichere Welt zu engagieren.
    Zwischen den militärisch-technischen Möglichkeiten der USA und denen der Europäer liegen Welten. Jetzt die Forderung zu erheben, die Europäer müssten, um ihren Einfluss zu sichern, den USA vergleichbare militärische Fähigkeiten erwerben, ist abwegig. Die Europäische Union muss ihre eigenen Interessen definieren und ihre Ressourcen in den Aufbau von Fähigkeiten investieren, mit denen sich die Ursachen der Konflikte, die sie besonders tangieren, am besten bearbeiten lassen. Europa muss seine Rolle in der internationalen Konfliktbewältigung eigenständig bestimmen, um Perspektiven für die Überwindung von Gewalt zu öffnen. Das Krisenmanagement der EU auf dem Balkan seit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa könnte dafür zum zukunftsweisenden Modell werden.
    Statt den amerikanischen Unilateralismus zu beklagen, muss sich Europa für solide und neu gestaltete transatlantische Beziehungen engagieren. Die Europäische Union mit ihrer Erfahrung zwischenstaatlicher Kooperation und Integration ist besonders geeignet, der UNO zu dem ihr zustehenden Gewicht für die Sicherung des Weltfriedens zu verhelfen.
    Die Europäische Union muss sich ihren Gründungsgedanken als Friedensobjekt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stärker vergegenwärtigen. Nationalismus, Rassismus und Fundamentalismus sind nicht ein für allemal überwunden. Der zunehmende Rechtspopulismus ist eine Herausforderung in Europa. Der Frieden hat auch eine innere Dimension.
    Zu einer demokratischen Armee gehören aus Sicht des DGB die Sicherung und Stärkung jener zivilen Elemente innerhalb der Streitkräfte, die bereits in der Vergangenheit ihre demokratische Wirksamkeit bewiesen haben. Das Konzept des "Staatsbürgers in Uniform" und die "Innere Führung" stehen für die Verankerung der Streitkräfte in der Demokratie. Auch bei einer stärkeren Europäisierung muss sichergestellt sein, dass die Einbindung der Bundeswehr in eine demokratische Gesellschaft ein wesentliches Element bleibt. Durch die staatsbürgerliche und gewerkschaftliche Betätigung der Soldatinnen und Soldaten, durch eine geregelte Interessenvertretung sowie durch politische Bildung wird die Integration in die Gesellschaft und in die Demokratie gewährleistet.
    Der DGB hält es für notwendig, die Reform der Bundeswehr und ihre Aufgabenstellungen, insbesondere auch im Rahmen der NATO, in einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu thematisieren. Das außen- und sicherheitspolitische Konzept, in das die zukünftige Rolle der Bundeswehr zu integrieren ist, muss auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen.


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