"Angesichts von Präventivkriegen und Terrorismus kämpft die Gewerkschaft für den Frieden"
Rede von Giorgio Caprioli, Generalsekretär der FIM CISL (Italienischer Arbeitergewerkschaftsbund/Metall und Maschinenbau), am 3. April in Stuttgart
Im Folgenden dokumentieren wir die Rede, die Giorgio Caprioli, Generalsekretär der FIM CISL (Italienischer Arbeitergewerkschaftsbund/Metall und Maschinenbau), auf der Großkundgebung gegen Sozialabbau am 3. April in Stuttgart gehalten hat.
Liebe deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen,
ich bedanke mich sehr für die Einladung, auf dieser Veranstaltung eine Rede zu halten. Heute wird in vielen europäischen Städten für soziale Gerechtigkeit und die Würde der Arbeiternehmer demonstriert. Wie hier in Stuttgart halten heute auch an zahlreichen anderen Orten Gewerkschaftsführer Reden vor den Arbeitern eines anderen Landes,
um die Notwendigkeit und den Willen zu bekunden, die inneren Grenzen Europas niederzureißen und Einheit zwischen allen Arbeitern und Gewerkschaften unseres teuren, alten Kontinents zu schaffen.
Das Großkapital hat diese Grenzen bereits seit langem niedergerissen. Durch die großen Wirtschaftsmächte wird die Souveränität der einzelnen Staaten unterwandert, um ein internationales Netzwerk aufzubauen, in dem nur noch das Gesetz des Profits zählt und die Solidarität und die Rechte der Arbeiter eingeschränkt werden.
Die Folgen dieser ausschließlich von den Mächtigen gesteuerten Globalisierung liegen
auf der Hand. Die Unterschiede zwischen Armen und Reichen wachsen.
Von den sechs Milliarden Menschen auf der Welt verfügen 20 % über 86 % des
Reichtums, während die ärmsten 20 % lediglich über 1 % verfügen. Sie versuchen, mit
weniger als einem Euro täglich zu leben, und haben kein Trinkwasser zu ihrer
Verfügung.
Die 500 größten internationalen Unternehmen der Welt kontrollieren 42 % des
weltweiten Reichtums, und der Umsatz der zehn größten Unternehmen der Erde
übersteigt den der hundert kleinsten Länder. Dieser Ungerechtigkeit auf weltweiter Ebene entspricht eine wachsende Ungleichheit
innerhalb der einzelnen Länder – ob arm oder reich. Überall werden die Reichen noch reicher, während die Zahl der Ausgegrenzten ohne
Arbeit und ohne Rechte steigt.
Immer mehr wird von befristeten Arbeitsverhältnissen und Zeitverträgen Gebrauch
gemacht, woraus besonders jungen Menschen Nachteile erwachsen. Die Aussichten
für ältere Menschen werden immer ungewisser, und sie sind von Rentenreformen und
finanziellen Einschnitten im Sozialwesen bedroht.
Die Förderung einer Entwicklung ohne Regeln erzeugt ebenfalls verstärkt
Umweltschäden. Große Waldflächen sind gefährdet, das Klima verschlechtert sich
durch den Treibhauseffekt, und Luft und Wasser sind insbesondere in den
Entwicklungsländern verunreinigt.
In den armen Ländern entsteht ein Wettkampf, der auf der Ausnutzung der Arbeiter
beruht. Ihnen werden Rechte vorenthalten und extrem niedrige Löhne gezahlt.
Als Antwort der weiter entwickelten Länder wird seit einiger Zeit eine Politik betrieben,
welche die Steuern für die reichsten Unternehmen und Bevölkerungsschichten senkt
und gleichzeitig die Sozialausgaben verringert, die für die Gewährleistung eines
Minimums an Würde für die ärmsten Bevölkerungsschichten erforderlich sind.
Diese Entwicklung ist eingetreten, weil sich auf der ganzen Welt ein wenig die
Überzeugung der freien Wirtschaft durchgesetzt hat, dass, wenn man dem Markt und
den Unternehmen freien Lauf ließe, allgemeiner Wohlstand einkehren würde. Doch die Versprechen der freien Wirtschaft, und davor haben die Gewerkschaften
stets gewarnt, erwiesen sich als Lügen.
Wir demonstrieren heute auch gegen den Anspruch dieser Theorien, zur einzig
gültigen Denkweise zu werden, der sich alle unterordnen müssen. Wir sagen heute
laut, dass die Gewerkschaft und die Arbeiter anderer Meinung sind. Eine neue Welt ist
möglich, wenn nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialsolidarischen
Gesichtspunkten gesucht wird.
Wir sind nicht gegen die Globalisierung, denn wir meinen, dass eine Ausweitung des
wirtschaftlichen Austausches und der kulturellen Beziehungen zwischen verschiedenen
Ländern und Völkern einen positiven Aspekt darstellen kann, der zu einer
Verbesserung der Situation für alle beitragen kann.
Wir sind für eine Globalisierung, die von den Werten des Friedens, der Solidarität und
der sozialen Gerechtigkeit bestimmt wird.
Angesichts von Präventivkriegen und Terrorismus kämpft die Gewerkschaft für den
Frieden.
Angesichts der Ungerechtigkeit kämpft die Gewerkschaft für größere Gleichheit.
Angesichts von Unterdrückung und der Verweigerung von Rechten kämpft die
Gewerkschaft für Freiheit und Solidarität.
Wir stehen vor einer einfachen Herausforderung: Entweder schränken wir die Rechte
der europäischen Arbeitnehmer ein und verschlechtern ihre Lebensbedingungen, um
den Konkurrenzdruck aus den Entwicklungsländern zu verringern, oder wir bringen
Länder wie Brasilien, Südafrika und Indien dazu, das europäische Modell zu
übernehmen. Wir dürfen uns nicht in Europa verschanzen, um unseren Wohlstand zu
verteidigen. Wir wollen der Möglichkeit, den für die armen Länder verfügbaren
Reichtum zu vergrößern, nicht im Weg stehen. Wir wollen jedoch, dass dieses
Wachstum nicht auf der Ausnutzung der Arbeiter und auf Sozialdumping beruht,
sondern auf der Ausweitung von Rechten und gewerkschaftlicher Freiheit.
Durch die Schwierigkeiten, denen wir überall in Europa gegenüberstehen, haben wir
aus den Augen verloren, wie wichtig unsere Erfahrungen als Bezugspunkt für die
übrige Welt sind. Sie beruhen auf drei Grundpfeilern, an die ich hier erinnern möchte.
Zunächst ein progressives Steuersystem, das auf dem Prinzip beruht: Wer mehr hat,
muss sich in größerem Maße an den gemeinsamen Ausgaben beteiligen. Viele
europäische Regierungen haben unter dem Vorwand, das Steuersystem zu
vereinfachen, Steuerreformen beschlossen, die diese Progressivität reduzieren. Die
Wahrheit ist jedoch, dass die Reichsten noch stärker begünstigt und die Ärmsten noch
stärker benachteiligt werden.
Den zweiten Grundpfeiler des europäischen Modells stellen die erhöhten
Sozialausgaben dar, um ärztliche Versorgung, Bildung, Unterstützung für kinderreiche
Familien, Wohnung und Rente für die Allgemeinheit zu sichern. Diese Sozialausgaben
sind nicht nur richtig, sondern auch sinnvoll für die wirtschaftliche Entwicklung. Die
Vorstellung, dass Sozialausgaben ein Luxus sind, den man sich nur in Zeiten des
Überschwangs leisten kann, trifft nicht zu. Eine gesündere, gebildetere und im Hinblick
auf die Zukunft der Familie und auf einen unbeschwerten Lebensabend besser
abgesicherte Bevölkerung stellt ein entscheidendes Kulturerbe dar – die wichtigste
Ressource jeder Volkswirtschaft!
Beim dritten Grundpfeiler der europäischen Erfahrung handelt es sich um das starke
und repräsentative Gewerkschaftswesen, das auf der Arbeitsplatzebene verwurzelt ist
und die Arbeitnehmer durch Tarifverträge schützen kann. Die Gewerkschaften sind in
ganz Europa schwerwiegenden Angriffen ausgesetzt: Überall wird versucht, sie zu
verkleinern und ihre Verhandlungsgewalt einzuschränken, insbesondere auf nationaler
Ebene.
Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass die nationalen Tarifverträge das
Hauptmerkmal des europäischen Gewerkschaftswesens sind. Sie garantieren Rechte
und Lohn für alle.
Das ist keine Selbstverständlichkeit! Landesweite Tarifverträge existieren außerhalb
Europas nicht, noch nicht einmal in Ländern mit starken Gewerkschaften und einer
entwickelten Wirtschaft wie z. B. in Japan und den USA!
In der italienischen Gewerkschaftsbewegung haben wir insbesondere in der Metall
verarbeitenden Industrie neben den nationalen Tarifverträgen verschiedene
unternehmensweite bzw. gebietsgebundene Verträge, welche den Schutz auf
nationaler Ebene verbessern sollen. Wir arbeiten gerade daran, die Erfahrungen in
diesem Bereich auszuweiten.
Die Verhandlungen in Italien stecken in einer schwierigen Phase, da die Arbeitgeber
versuchen, hinsichtlich der Löhne so wenig Zugeständnisse wie möglich zu machen
und die Rechte der Arbeitnehmer einzuschränken. Doch hängen die Schwierigkeiten
vor allem mit der verlangsamten wirtschaftlichen Entwicklung in ganz Europa und
besonders in unserem Land zusammen.
Daher haben die drei großen italienischen Gewerkschaften, CGIL, CISL und UIL, ein
Forum geschaffen, das die Regierung zu einer neuen Wirtschaftspolitik auffordert:
mehr Finanzmittel für die Entwicklung der ärmsten Gebiete unseres Landes, eine
gerechtere Steuerpolitik, Verteidigung der Sozialausgaben und eine
Einkommenspolitik, welche die Löhne vor Inflation schützt und Zuwächse in der
Produktivität an die Arbeitnehmer verteilt, indem Erträge und Spekulationen kontrolliert
werden.
Wir glauben, dass diese Initiative vollkommen mit dem europäischen Sozialmodell in
Einklang steht, und wir haben sie bereits am 26. März mit einem vierstündigen Streik
unterstützt.
Wir sind jedoch davon überzeugt, dass Gewerkschaftsaktionen nur innerhalb der
nationalen Grenzen nun nicht mehr ausreichen. Wir müssen uns im gesamten Europa
vereinigen und mit Nachdruck und Überzeugung den Arbeitern dieser Welt unser
Modell vorstellen, mit dem wir die besten Erfahrungen gemacht haben.
Dazu müssen wir in Europa den sozialen Dialog stärken und die Betriebsräte
ausbauen.
Dazu müssen wir mit den großen global agierenden Unternehmen internationale
Regelungen aushandeln, die soziale und gewerkschaftliche Rechte an allen
Niederlassungen gewährleisten, wie dies bereits in Italien bei Merloni und in
Deutschland bei Volkswagen geschehen ist.
Dazu ist eine Änderung in der Finanzpolitik der Europäischen Zentralbank erforderlich,
die stärker auf Entwicklung ausgerichtet sein muss. Zudem muss die Strenge der
Kriterien des Maastricht-Vertrages überprüft werden, um öffentliche Ausgaben für
Investitionen und Forschung zu begünstigen.
Dazu ist eine demokratische Reform der internationalen Institutionen und eine
Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik der Weltbank und des Internationalen
Währungsfonds notwendig, wie dies von unseren europäischen und weltweiten
Verbänden gefordert wird.
Dazu müssen wir in Europa den Sozialstaat verteidigen, eine gerechtere Besteuerung
fordern, unsere Verhandlungsposition stärken und uns für eine Wirtschaftspolitik
einsetzen, die auf Innovation, Forschung und Bildung aufbauende Entwicklungen
stärker berücksichtigt.
In diesen Zeiten der Krisen, Kriege und des Terrorismus stellen die Gewerkschaften
eine Kraft des Fortschritts, des Friedens, der Brüderlichkeit und der Demokratie dar.
Die Ausgaben zur Finanzierung von unseligen Kriegen müssen gesenkt werden, und
es muss mehr investiert werden, um das Leben von Milliarden von Arbeitnehmern,
Arbeitslosen und Rentnern zu verbessern.
Eine bessere Welt ist möglich. Schließen wir uns zusammen, und kämpfen wir dafür,
dass sie Wirklichkeit wird.
Quelle: www.dgb.de
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