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Ursachen und Grundstrukturen politischer Gewalt

Von Jochen Hippler *

Menschen greifen nicht selbstverständlich und leicht zu politischer Gewalt. Dazu bestehen zu viele psychologische Hemmschwellen, politische Restriktionen und persönliche Risiken. Zwar sind die Hindernisse einer Gewaltausübung in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kontexten und zu verschiedenen historischen Zeitpunkten unterschiedlich ausgeprägt, aber sie können prinzipiell relativiert oder überwunden werden. In fast allen Fällen gilt allerdings, dass politische Gewalt ein Zeichen sozialer, ökonomischer oder politischer Krisen darstellt, die sich häufig auch in ideologischen oder spirituellen Umbrüchen reflektieren. Das trifft sowohl für die Gewalt von oben – die politischer Machteliten - zu wie auch für die Gewalt von unten – die nichtstaatlicher Akteure.

Wenn Gewalt von politischen Machteliten oder Regierungen und deren bewaffneten Organen angewandt wird, kann dies offensiven oder defensiven Absichten entsprechen: Eine von der Bevölkerung nicht getragene Regierung oder ein staatliches System, die von Machtverlust oder gar Sturz bedroht sind, können versuchen, sich dem gewaltsam entgegen zustemmen. Dann ist wahrscheinlich, dass die direkten Träger der Bedrohung, also die Opposition, zum Ziel der Gewalt wird, aber häufig werden über die aktiven Kader und Politiker, die den Herrschern gefährlich werden könnten, auch mit ihnen identifizierte Gruppen getroffen: etwa politische Organisationen, Parteien oder Bewegungen, religiöse, kulturelle, ethnische oder nationale Gruppen. Der Völkermord in Ruanda 1994 gehörte sicher in diese Kategorie einer umfassenden Anwendung politischer Gewalt, um die Gefahr eines Machtverlustes präventiv und endgültig zu bannen.

Eine offensive Art des Einsatzes politischer Gewalt kann vorliegen, wenn ein Regime entweder nach außen (durch Krieg) die eigene Macht ausdehnen möchte, wie im Fall des Irak 1980 und 1990, als Saddam Hussein den Iran und Kuwait überfallen ließ oder beim US-Angriff auf den Irak 2003. Nicht selten sind solche Aggressionen mit interner Repression verbunden, um zugleich innenpolitische Gegner auszuschalten. Ein offensiver Umgang mit staatlicher Gewalt kann aber auch vorliegen, wenn ein Regime ein Konzept der politischen, ethnischen, nationalen oder rassistischen Umgestaltung der eigenen Gesellschaft betreibt und dazu ganze Bevölkerungsgruppen marginalisieren, vertreiben oder auslöschen möchte. Klassische Beispiele sind natürlich die Vernichtung der europäischen Juden durch den deutschen Faschismus, die Vernichtung der »Kulaken« in der Ukraine durch den Stalinismus, die ethnischen »Säuberungen« und der Völkermord auf dem Balkan, insbesondere durch die großserbischen Nationalisten, oder der jungtürkische Völkermord an den Armeniern.

Zwischen diesen beiden Extremen politischer Gewalt zu defensiven oder offensiven Zwecken liegt die »normale« Gewaltpolitik von Herrschern, die auf Kosten und ohne Zustimmung ihrer Völker regieren. In erfolgreichen Diktaturen kann das Maß der tatsächlich ausgeübten Gewalt erstaunlich gering bleiben, weil die Bevölkerung einerseits bereits von der Drohung gelähmt und diese Strategie meist mit positiven Anreizen des Wohlverhaltens verknüpft wird.

Sehen wir von dieser »routinemäßigen« Gewaltanwendung einer Diktatur oder autoritären Herrschaft ab, dann deutet vieles darauf hin, dass bei der offensiven wie defensiven Variante bereits gesellschaftliche oder gar regionale Ungleichgewichte oder Verwerfungen entstanden sind, zu deren Beseitigung die Gewalt dienen soll. Ein größeres Ausmaß an Gewalt deutet auf eine latente oder akute soziopolitische oder ökonomische Krise hin, die gewaltsam überwunden werden soll.

Eine solche Voraussetzung darf man auch bei massiver und dauerhafter Gewalt durch nichtstaatliche Akteure unterstellen, mag diese von Befreiungsbewegungen, Unabhängigkeitskämpfern, politischen Parteien oder Bewegungen, terroristischen Organisationen, oder ethnischen oder religiösen Gruppen ausgehen.

Armut, soziale Ungleichheit und Entwicklungsprobleme

Häufig wird Armut als eine zentrale Ursache politischer Gewalt allgemein und des Terrorismus insbesondere genannt. Ein solcher Zusammenhang erscheint einleuchtend, ist auch nicht prinzipiell falsch – aber funktioniert doch eher indirekt und über einige Zwischenschritte. Armut an sich ist schrecklich, aber nicht notwendigerweise ein direkter Auslöser oder eine Ursache von Gewalt. Wenn in einer Gesellschaft alle Menschen mehr oder weniger gleich arm sind, gibt es aus Armutsgründen kaum Anreize für Gewaltanwendung. Wenn allerdings krasse Armutsunterschiede vorhanden sind, eine Gesellschaft also tief in Arm und Reich gespalten ist, wächst das Potential latenter Gewalt, auch wenn diese nicht unbedingt zum Ausbruch kommen muss. Heikel wird es aber, wenn solche Armutsdifferenzen in erkennbare Bewegung geraten, sich also etwa vermindern oder verbreitern – dann kann die Gewaltwahrscheinlichkeit beträchtlich steigen. Eine Vergrößerung oder Verkleinerung des Abstandes zwischen Arm und Reich hat immer Gewinner und Verlierer zur Folge, und deren Reaktionen können die Gewaltschwelle senken. Armut kann unter bestimmten Umständen einen Leidensdruck produzieren, der – wenn andere Faktoren hinzutreten – in gewaltsame Reaktionen umschlagen, wie er auch in Apathie, Selbsthass, Kriminalität, Entpolitisierung, individuelle Überlebensstrategie und anderes münden kann, aber nicht muss. Der Faktor Armut ist also mit anderen verknüpft. Paul Brass weist auf den Zusammenhang zwischen Ungleichheit, ungleichen Wettbewerbssituationen und ethnischer Fragmentierung in Situationen von Modernisierung für eine nationalistische Mobilisierung mit dem Potential zu Gewalt hin: „(N)icht Ungleichheit an sich oder relativer Mangel oder Statusunterschiede sind der entscheidende Antrieb für den Nationalismus ethnischer Gruppen, sondern die relative Verteilung ethnischer Gruppen im Wettbewerb um wertvolle Ressourcen und Chancen und in der Arbeitsteilung in Gesellschaften, die soziale Mobilisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung erleben.“[1]

Ungleichheit, Armut und damit verbundene sozioökonomische Probleme müssen mit gesamtgesellschaftlichen Umbruchssituationen, innergesellschaftlicher Konkurrenz und diesen entsprechenden Ideologien zusammentreffen, um politisch explosiv zu werden.

Armut und in Bewegung geratene Armutsdifferenzen sind also ein Rohstoff der Gewaltentwicklung, aber nicht mehr als das. Sie führen nicht automatisch zur Gewalt, und Gewalt kann auch ohne sie zustande kommen. Trotzdem: Gerade Veränderungen in der Armutsstruktur, also beispielsweise die Pauperisierung der Mittelschichten, eine massive Vergrößerung oder Verkleinerung des Armutsgefälles, oder die bloße Gefahr bisher privilegierter Gesellschaftssektoren, abzusinken und gegenüber anderen ins Hintertreffen zu geraten, können wichtige Faktoren einer gesellschaftlichen Gewaltdynamik sein.

Ob die Gewaltschwelle dabei tatsächlich überschritten wird, ob dies punktuell oder systematisch, spontan oder organisiert, durch kleine Gruppen oder auf Grundlage einer breiten sozialen Bewegung, durch den Staat oder nicht-staatliche Akteure, durch Sachbeschädigung, Bürgerkrieg oder Terrorismus geschieht – das wird von dem konkreten Kontext und Konfliktverlauf, der Geschichte, Kultur, den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes abhängen.

Repression und der Charakter des Staates

Ähnliches gilt für den Faktor »politische Repression«. Die Verweigerung von Freiheits- und Partizipationsrechten und Unterdrückung können zu mächtigen Faktoren werden, die politischen Widerstand provozieren und schließlich auch zu gewaltsamem Ausdrucksformen führen. Diktatorische Regime haben oft auch weniger Anreize als demokratische Systeme, selbst bei der Konfliktbearbeitung auf Gewaltanwendung zu verzichten.[2]

Tobias Debiel formuliert: „Zu den strukturellen Gewaltursachen und den essentiellen Konfliktgegenständen zählen insbesondere die fortdauernde Bedrohung kultureller Identität durch staatliche Repression bzw. eine vorherrschende Bevölkerungsgruppe, der Ausschluss von der Machtausübung auf staatlicher Ebene, die hartnäckige Verweigerung regionaler Autonomie und lokaler Selbstbestimmung, schließlich die Beschneidung individueller wie kollektiver Entwicklungschancen: Wenn sich unter solchen Bedingungen das kollektive Gefühl von Diskriminierung bzw. Unterdrückung mit der Organisationsfähigkeit betroffener Gruppen verbindet, so sind gewaltsame Konflikte sozusagen vorprogrammiert.“[3]

Aber der Zusammenhang zwischen politischer – auch terroristischer – Gewalt und Repression sowie dem Fehlen von Demokratie mag zwar existieren, ist aber kompliziert und indirekt. Es gibt zahlreiche Diktaturen, die mit einem bemerkenswert niedrigen Grad an politischer Gewalt auskommen, während umgekehrt in manchen Demokratien oder Halbdemokratien ein beträchtliches Maß an politischer Gewalt existieren kann – Indien und Pakistan (in den 1990er Jahren) mit ihren internen ethnischen und religiösen Konflikten und der Konkurrenz um Kaschmir sind Beispiele. Auch Kolumbien, die Türkei oder Indonesien sind Länder mit Wahlen und einem gewissen Grad an Demokratie, aber leiden oder litten durchaus unter politischer Gewalt im großen Stil. Demokratische Staaten können Terrorismus hervorbringen, wie die Bundesrepublik Deutschland und Italien in den 1970er Jahren erfahren mussten. Umgekehrt existieren zahlreiche autoritäre Regime oder Diktaturen, die das Gewaltniveau nach innen und außen relativ niedrig halten können. Demokratie und die Geltung demokratischer Freiheitsrechte vermögen tatsächlich gewaltsamer Konfliktaustragung und terroristischer Gewalt vorzubeugen, indem sie bestimmte Widerstandsgründe beseitigen und zugleich politische Mechanismen bereitstellen, die eine friedliche Konfliktregulierung erlauben. Dies gilt allerdings nur prinzipiell und langfristig. Kurzfristig können Demokratisierungsprozesse das Gewaltpotential sogar noch erhöhen, indem die repressiven Instrumente der Gewaltvermeidung geschwächt werden, die konsensualen aber noch nicht ausreichend entwickelt sind oder eine Phase der Instabilität mit massiven Verschiebungen der Machtgleichgewichte eintritt. Trotz dieser Einschränkungen lässt sich feststellen, dass insbesondere in Bezug auf terroristische Gewalt funktionsfähige und entwickelte demokratische Gesellschaften (nicht unbedingt »neue« Demokratien) tendenziell weniger anfällig sind und – falls Terrorismus doch auftritt – dieser gesellschaftlich eher isoliert bleibt. Andererseits werden harte Diktaturen, die zivile Mechanismen der Konfliktregulierung nicht zulassen, auf Dauer eher einen gewaltsamen, ggf. auch terroristischen Widerstand hervorbringen – allerdings fast immer nicht allein wegen ihres diktatorischen Charakters, sondern weil dieser Faktor sich mit anderen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, politischen verbindet. Deshalb ist der Charakter staatlicher Systeme für die Gewaltfrage zentral. Der Arab Human Development Report 2004 kennzeichnet die arabischen Staatsapparate so: „Die allgemeinen Merkmale dieses arabischen Modells, das einige als den »autoritären Staat« bezeichnen (…) und das in einer Reihe von Studien ausführlich beschrieben wurde (…), sind in den jüngsten Kommentaren eines arabischen Journalisten und Aktivisten zusammengefasst. Er beschreibt die Regierung in seinem Land als ein System ohne freie und transparente Parlamentswahlen, das ein »monochromes« Parlament zur Folge hat. Auch die Pressefreiheit ist in diesem System eingeschränkt, ebenso wie politische und Menschenrechtsarbeit, das Justizsystem wird genutzt, um an Oppositionellen Exempel zu statuieren, und die Verfassung ermöglicht eine Regierung, die »auf unbestimmte Zeit eingesetzt und der Kontrolle durch Parlament und Justiz nicht unterworfen« ist. In einem solchen Regime wird auch die herrschende Partei zu nicht mehr als einem Teil des Verwaltungsapparats, der von »Funktionären ohne jegliche Initiative und Effizienz« geführt wird.“[4]

Solche Staatsapparate sind so auf die Gewährleistung sozialer und politischer Kontrolle fixiert, dass sie an den grundlegenden staatlichen Aufgaben (z.B. Entwicklung, Rechtssicherheit, Partizipation, Transparenz) scheitern oder sie erst gar nicht zu bewältigen versuchen. Solche Diktaturen oder Halb- und Scheindemokratien vermögen Terrorismus und ähnliche Gewaltformen aufgrund ihrer Spitzelsysteme und Repression oft jahrelang einzudämmen, aber erzeugen dadurch letztlich einen Konfliktstau, der sich später um so gefährlicher entladen kann.

Die Rolle der Wahrnehmung

Neil Kressel hat die psychologischen Bedingungen politischer Gewalt untersucht, insbesondere die Faktoren von Hass, Wut und Frustration. „Wirtschaftliche Entbehrungen, Verfolgung, Epidemien, militärische Niederlagen und andere Probleme können Frustrationen auf gesellschaftlicher Ebene hervorrufen. Doch harte Lebensumstände allein führen nicht direkt oder zwingend zu schwelender Enttäuschung und Wut. In vielen Ländern ertragen Menschen solche Bedingungen mit Gleichmut, und umgekehrt gewährleistet das Fehlen sichtbarer Entbehrungen kaum, dass Menschen keine Enttäuschung empfinden. Am stärksten sind Menschen entmutigt, wenn die Erfolge, die sie im Leben erreichen, hinter ihren Erwartungen zurückbleiben. Folglich tragen steigende oder unrealistisch hohe Erwartungen manchmal ebenso sehr zu Massenfrustration bei wie tatsächlicher Mangel.

So muss auch eine enttäuschte Gesellschaft nicht automatisch zu einer zornigen Gesellschaft werden. Nur wenn Menschen ihre Lebenssituation als inakzeptabel und als Folge von Ungerechtigkeit betrachten, wird Wut um sich greifen. Wenn viele Menschen in einer Gesellschaft beschließen, dass sie unerträglich leiden, weil sie unterdrückt oder schlecht behandelt werden, steigt die Gefahr des Massenhasses erheblich. Erfahrungen tatsächlichen Unrechts sind der tiefere Grund für manche destruktiven Impulse, doch ein Gefühl der Ungerechtigkeit muss weder aus tatsächlicher Verfolgung noch aus den Handlungen derer erwachsen, gegen die sich diese Impulse möglicherweise richten.“
[5]

Ein wichtiges Element des Entstehens eines Gewaltpotentials besteht tatsächlich im Auseinanderklaffen der Erwartungen und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Realitäten. Nicht die Armut der Bevölkerung oder der Mangel an Demokratie an sich führen direkt und automatisch zu politischer Gewalt – auch extrem arme Gesellschaften können bemerkenswert friedfertig sein. Aber wenn diktatorische Verhältnisse oder Armut von größeren Teilen der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden, weil die Menschen mehr Wohlstand und Freiheit für erstrebenswert und möglich halten und beides ihnen verweigert wird, dann entsteht ein Konfliktpotential mit möglicher Gewaltkomponente.

Wenn wir diese allgemeinen Anmerkungen auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens anwenden, lässt sich feststellen, dass korrupte und unfähige Regierungen der eigenen Bevölkerung grundlegende politische Rechte verweigern und zugleich nicht in der Lage sind, eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive zu bieten. Massive Jugendarbeitslosigkeit, eine schamlose Spaltung der Gesellschaften zwischen Arm und Reich (letztere oft demonstrativ pro-westlich) und ein starkes Auseinanderklaffen der öffentlichen Werte und Normen einer Gesellschaft und der sozialen Realität sind Warnsignale. Gerade Saudi Arabien liefert ein krasses Beispiel, wie die offiziellen – religiösen – Werte und die politischen und persönlichen Realitäten in Konflikt geraten. Umgekehrt wird deutlich, dass die nach innen deutlich friedfertigeren Verhältnisse in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg weniger aus »westlichen Werten« und anderen kulturellen oder religiösen Faktoren, als mit funktionierenden sozialen und politischen Systemen resultieren, die der Mehrheit der Menschen auch eine wirtschaftlich Lebensperspektive boten und dann entsprechenden Einstellungen und Werten erst eine Basis boten. Solche positiven gesellschaftlichen und politischen Bedingungen sind der Herausbildung friedfertiger Mentalitäten und Einstellungen sehr förderlich. In einer ganzen Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sind die Bedingungen dem aber genau entgegengesetzt: Es bestehen chronische Krisen der Gesellschaften und eine zunehmende Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und Wut.

Gesellschaftliche Träger von Gewalt

Als soziale Organisatoren eines resultierenden politischen Radikalismus (und später möglicherweise dessen gewaltsamer Praktiken) kommen häufig Sektoren der Mittelschichten in Betracht, etwa die Söhne ländlicher Familien, die in großen Städten oder sogar im Ausland neue Bildungselemente erwerben (vor allem an Universitäten) – und dann keine oder keine angemessenen Arbeitsplätze finden, zugleich aber nicht zurück in ihre Dörfer können oder wollen. Das politische Konfliktpotential speist sich aus sozialer Not und Verzweiflung, aber seine Organisation wird meist nicht von den Ärmsten, sondern von Vertretern der technischen Intelligenz, Ärzten oder Rechtsanwälten getragen. Die Ärmsten und Marginalisierten sind oft mit ihrem persönlichen Überlebenskampf ausgelastet, der Freiraum für kontinuierliche politische Organisationsarbeit – auch organisierten Terrorismus – ist ein »Luxus«, den sie sich selten leisten können. Zwar können die Ärmsten durchaus zu Trägern politischer Gewalt werden, etwa bei spontanen Aufständen oder als Kanonenfutter bei ethnischen oder ethno-religiösen Ausschreitungen. Als Planer oder Organisatoren kommen aber die wirklich Armen oder das Lumpenproletariat nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, schon weil bei ihnen die nötigen (oder zumindest sehr nützlichen) politischen Kulturtechniken und Bildungselemente oft fehlen. Analphabeten und Menschen ohne Computerkenntnisse taugen als politische Organisatoren heute nur bedingt. Umgekehrt ist politischer Aktivismus – unter bestimmten Umständen eben auch bis zur politischen und terroristischen Gewalt – für Sektoren der Mittelschichten sowohl realistischer als eine potentielle politische Aufstiegsstrategie. Größere und dauerhafte Gewaltformen setzen darum häufig einerseits einen starken Leidensdruck unter großen Teilen der Bevölkerung, zweitens aber zusätzlich spezifische Probleme von Sektoren der Mittelschichten voraus, um beide in einen wirksamen politischen Zusammenhang zu bringen, bei dem Teile der gebildeteren Mittelschichten ihren Kampf dann mit dem Leid der gesamten Gesellschaft rechtfertigen können. Wenn in einem solchen Kontext politische und gewaltlose Mechanismen der Opposition und des Wandels fehlen, kann Gewalt zu einer breiten und wirksamen Waffe werden.

Der komplizierte Zusammenhang der tiefer liegenden Konfliktursachen einerseits und der Rolle der Kader des politischen Radikalismus und potentieller Gewalt wird also erst dann verständlich, wenn man als dritten Faktor die aufgrund der soziopolitischen Krise primär betroffenen Bevölkerungsteile einbezieht. Die Kader und Organisatoren politischer Gewalt – wie auch die des zivilen Widerstandes – beziehen sich oft ideologisch auf die am meisten leidenden unteren Gesellschaftsschichten, auch wenn sie diesen nicht angehören, und erhalten aus deren Leiden einen wichtigen Teil ihrer Motivation und Legitimität. Zugleich benötigen sie diese als (zumindest Teil ihrer) sozialen Basis. Politische Gewalt zielt ja nicht allein auf ihre eigentlichen Opfer und auf Zerstörung, sondern stellt einen symbolischen, kommunikativen Akt dar, der auf politische Einflussnahme gerichtet ist. Manche Teile der Bevölkerung sollen beeindruckt, ihre Sympathie gewonnen, andere sollen eingeschüchtert werden. Die eigene potentielle Anhängerschaft gilt es zu motivieren und zu mobilisieren, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, die Hilflosigkeit der Regierung soll demonstriert oder diese zur Überreaktion verleitet werden, um sie in der Gesellschaft zu schwächen und ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. In diesem Sinne sind nicht die Organisatoren der politischen Gewalt das Hauptproblem, sondern die politische Wirkung der Gewaltakte auf benachteiligte, unterdrückte oder marginalisierte Bevölkerungssektoren, die Mittelschichten und allgemeine Öffentlichkeit. Dabei kann eine politische oder ideologische Verbindung bestimmter radikalisierter Elemente der Mittel- und z.T. sogar Oberschichten – mit ihren Bildungs- und Artikulationsmöglichkeiten wie auch finanziellen Ressourcen – mit den breiten Unterschichten entstehen, die oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind, es aber allein selten zu dauerhafter politischer Wirksamkeit bringen. Deren Beeinflussbarkeit und Mobilisierbarkeit kann durchaus durch kulturelle Faktoren beeinflusst werden, hängt aber sehr stark davon ab, ob ein bestehendes System ihnen eine positive Lebensperspektive und die Hoffnung auf eine Verbesserung der eigenen Lebenslage bietet. Wer also politische Gewalt – und deren widerliche Sonderform, den Terrorismus – bekämpfen möchte, darf natürlich die Gewalttäter nicht ignorieren, aber der langfristige Erfolg einer solchen Strategie hängt davon ab, die Organisatoren und Kader der Gewalt politisch und sozial von der Gesellschaft zu isolieren. Nur der Erfolg bei dieser Aufgabe hat es in Italien und Deutschland erlaubt, den eigenen Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre zu überwinden: die Täter wurden isoliert und resignierten oder wurden polizeilich gefasst. Und diese Aufgabe der politischen Isolation der Täter kann nicht durch Polizei, Geheimdienste oder das Militär gelöst werden, sondern durch Schaffung der begründeten Hoffnung auf positive Entwicklung, durch Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, den Respekt vor der eigenen Bevölkerung, Aufstiegschancen, erträgliche Lebenshaltungskosten und Partizipationsmöglichkeiten. Wer diese Probleme nicht löst, kann der Hydra des Terrorismus und der Gewalt viele Köpfe abschlagen, ohne auf Dauer einen Schritt weiter zukommen. Anmerkungen
  1. R. Brass, Ethnicity and Nationalism – Theory and Comparison, New Delhi 1991, S. 47
  2. Zum Stand politischer Freiheiten und Repression in arabischen Ländern siehe: United Nations Development Programme (UNDP), Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S. 81ff und 125ff
  3. Tobias Debiel: Politische Gewalt, gesellschaftliche Konflikte und der »Faktor Kultur«, Manuskript für den Workshop »Politische Gewalt im interkulturellen Vergleich: Der Westen und muslimisch geprägte Gesellschaften«, Institut für Auslandsbeziehungen , Malta, 19. – 20. November 2004, S. 6f.
  4. United Nations Development Programme (UNDP), Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S. 126
  5. Neil J. Kressel: Mass Hate -The Global Rise of Genocide and Terror, New York, 2nd ed., 2002, S. 214
* Dr. Jochen Hippler, Politikwissenschaftler und Privatdozent, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen. Freiberufliche Nebentätigkeit als Politikberater und Consultant.
Im Rahmen des Sonderprogramms Europäisch-Islamischer Kulturdialog des Auswärtigen Amtes hat Jochen Hippler eine Studie "Krieg – Repression – Terrorismus. Politische Gewalt und Zivilisation in westlichen und muslimischen Gesellschaften" mit Kommentaren von Nasr Hamid Abu Zaid und Amr Hamzawy verfasst. Der vorliegende Artikel ist ein überarbeiteter Auszug. Die Gesamtstudie ist zu beziehen über das Institut für Auslandsbeziehungen, Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart.



Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 1/2007

Die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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