Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Snowden drehte die Stimmung

Eine Mehrheit in den USA sieht ihn heute als Whistleblower, nicht als Verräter

Von Max Böhnel, New York *

Trotz aller Enthüllungen des vergangenen Jahres – die meisten Politiker in Washington stehen weiter zur NSA.

Nein, ein NSA-freier Ort in den USA falle ihm nicht ein, klagt der in Chicago beheimatete Journalist Kevin Gozstola. Zu sämtlichen Kommunikationswegen habe sich die NSA Zugang verschafft. Der schmächtige 30- Jährige weiß, wovon er spricht. Er gehört zu der ersten Generation unabhängiger Internet-Bürgerrechtler. Seine Plattform ist der Blog www.firedoglake. com mit täglich bis zu 100 000 Lesern, seine Themen heißen nationale Sicherheit und Internet. Er war während des Militärprozesses gegen Chelsea (Bradley) Manning vor eineinhalb Jahren zeitweise der einzige anwesende Reporter. Die Snowden-Enthüllungen waren für ihn »wie die Bestätigung dessen, was wir schon ahnten«, sagt Gosztola.

Wie man sich gegen den größten Bespitzelungs- und Abhörapparat aller Zeiten schützen könne? Politische Kontrolle sei »theoretisch denkbar«, meint Gosztola, aber unrealistisch, weil sich die übergroße Mehrzahl der gewählten Politiker im Kongress »mit dem nationalen Sicherheitsapparat identifiziert«. So bleibe nur der individuelle Schutz vor der Totalüberwachung – mit Verschlüsselungssystemen für Telefon, PC »und jegliche Kommunikationstechnologie, die wir benutzen«. Inklusive des GPS im Auto, wie er betont.

»Snowden sei dank« habe sich die Stimmung im Land gedreht. Vor eineinhalb Jahren waren sich Umfragen zufolge zwei Drittel der Befragten sicher, dass die USA-Regierung im Antiterror- Krieg für »mehr Überwachung « sorgen müsse. Heute ist eine knappe Mehrheit von 51 Prozent laut einer Umfrage der Quinnipiac-Universität der Meinung, die Freiheit des Bürgers sei »zu stark eingeschränkt«.

57 Prozent halten Snowden für einen »Whistleblower«, 34 Prozent für einen »Verräter«. Diese Zahlen stehen gegen die mehrheitliche Haltung der Eliten in Politik und Medien. Die hiesigen Massenmedien begegneten seinen Enthüllungen mit der herkömmlichen Masche des Psychologisierens und Verdrängens. Als Snowden vor einem Jahr in Hongkong seine Identität preisgab, wurde er als »chinesischer Spion« bezeichnet.

Als er in Moskau blieb, weil das USA-Außenministerium seinen Reisepass für ungültig erklärte, wurde er zum »Spion Putins« erklärt. Danach handelte es sich um eine »chinesischrussische Operation«. Immer wieder war die Rede von einem »ruhmsüchtigen Narziss«. Einigen US-amerikanischen Journalisten wie Glenn Greenwald und dem britischen »Guardian « ist es allerdings zu verdanken, dass sich diese haltlosen Anschuldigungen nicht verfestigen konnten. Die hiesigen Medien waren deshalb gezwungen, über die NSASpitzelei zu berichten. Die kluge Strategie von Edward Snowden, ihnen monatelang keine Interviews zu geben, trug dazu bei. Erst kürzlich ließ er nach komplizierten wochenlangen Verhandlungen den NBC-Interviewer Brian Williams zu sich nach Moskau.

In dem Gespräch, das Ende Mai ausgestrahlt wurde, konnte Snowden vor Millionen Zuschauern in der Heimat nicht nur seine Beweggründe, sondern auch das Ausmaß und die Gefahren der NSA-Totalüberwachung darlegen. Er sei ein »amerikanischer Pariot«, der als hochrangiger Spion ausgebildet worden sei, und verstehe sich als Beschützer der Verfassung. Der USA-Sicherheitsapparat sei außer Rand und Band geraten und eine Bedrohung für die Amerikaner, erläuterte er. Besonders anschaulich war Snowdens Schilderung der technischen Möglichkeiten, über die die NSA verfügt. Als Williams ihm sein angeblich abhörsicheres Handy reichte, lächelte er nur: Natürlich könne es die NSA anzapfen und in ein Mikrofon verwandeln, ohne dass man es bemerkt.

Die NSA, die über ein Jahresbudget von fast elf Milliarden Dollar verfügen soll, schickte ihren neuen Chef dieser Tage auf eine öffentliche Veranstaltung. Snowden sei »wahrscheinlich kein« ausländischer Spion, sagte Admiral Michael Rogers jovial, er glaube an das, was er tut. »Doch ich bin total gegen das, was er tut. Ich glaube, es war falsch und illegal.« Und ja, die NSA überwache mithilfe eines Gesichtserkennungssystems in sozialen Netzwerken ausländische »Ziele« – eine Bestätigung der jüngsten Snowden- Enthüllung.

Dass all diese Enthüllungen in Washington ans Eingemachte gehen, zeigt sich an den Äußerungen des Präsidenten. Barack Obama forderte den Kongress wiederholt auf, für rechtliche »Anpassungen« zwischen bürgerlicher Freiheit und nationaler Sicherheit zu sorgen. Im Januar hatte er mit einer Direktive das Staubsauberprinzip, nachdem die NSA Telefongespräche speichert, mit Auflagen versehen. Im Mai verabschiedete das Repräsentantenhaus den USA Freedom Act, der die Macht der NSA im Lande allerdings nur symbolisch beschränkt. Aber vielleicht versteht die Regierung ja die Sprache des Geldes.

In einem Artikel auf der CNN-Webseite hieß es am Mittwoch warnend, dass große US-amerikanische Internetunternehmen wie Cisco und IBM wegen des Geheimdienstskandals massive Einbußen im Ausland hinnehmen müssten. Die NSA-Aktivitäten seien weder bei der Terrorismusbekämpfung erfolgreich, noch trügen sie zum Schutz der Amerikaner bei. Vielmehr würden sie den Wirtschaftsinteressen der USA und ihren internationalen Beziehungen Schaden zufügen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014


Keine Karriere in Moskau als neuer Kim Philby

Noch vier Asylverlängerungen bis zur Einbürgerung in Russland

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Das russische Asyl für Edward Snowden wurde vom Kreml als humanistischer Akt zelebriert. Doch der bedürfte einer Verlängerung.

Mit höchst widersprüchlichen Signalen über sein künftiges Asyl meldete sich der vor knapp einem Jahr in Russland gestrandete NSAWhistleblower Edward Snowden im Rampenlicht zurück. Erst hieß es Brasilien, dann wollte er in Russland um Asylverlängerung nachsuchen. Schon seine Flucht im Jahre 2013 bis in den den Transitbereich des internationalen Moskauer Flughafens Scheremetjewo war verwirrend genug.

Anfang Juli griff hier Präsident Wladimir Putin ein: Russland sei kein Land, das »Kämpfer für Menschenrechte « ausliefere. Politisches Asyl setze jedoch Verzicht auf Handlungen voraus, mit denen Snowden, »so paradox das aus meinen Munde auch klingen mag, unseren Partnern von russischem Gebiet aus weiteren Schaden zufügt«. So der Kremlchef wörtlich mit Blick auf die schon damals schwer getrübten Beziehungen zu den USA. Kurz danach überbrachten russische Bürgerrechtler Snowden das Angebot offiziell.

Es war nicht nur unter außenpolitischen Aspekten ein genialer Schachzug, sondern auch der erste Aufzug im letzten Akt eines innenpolitischen Dramas: Die Kollegen hätten sich von Putin als Statisten für dessen Inszenierung als sicherer Hafen für Bedrängte aus Gewissensgründen missbrauchen lassen, schäumte der radikale Flügel der Protestbewegung. Snowden, der mit russischen Interna bis heute so wenig vertraut ist wie mit der Sprache seines Gastlandes, schlug ein. Am 1. August entschied die Föderale Migrationsbehörde sein Asylgesuch positiv. Es war zunächst auf ein Jahr befristet, Snowdens Anwalt erwartet eine Verlängerung. Erst nach der vierten ließe sich Einbürgerung beantragen. Damit würde Snowden in gewisser Weise sein Leben und einige Freizügigkeit der Bewegung zurückgewinnen. Derzeit kann er Russland nicht verlassen. Und dann? Eine Karriere als neuer Kim Philby strebt er offenbar nicht an.

Anders als der zu Sowjetzeiten übergelaufene britische Meisterspion pflege er keine Beziehungen zu russischen Diensten, bekomme von diesen kein Geld. Auch den Präsidenten habe er nie getroffen. Das behauptete Snowden in Interviews, die er westlichen Medien gewährte. Russland, so auch Putin, habe nicht versucht, von ihm Einzelheiten zur Arbeit der USGeheimdienste zu erfahren, nie »operativ « mit ihm zusammengearbeitet und das auch nicht vor.

Beobachter treiben andere Sorgen um. Steht in dem Archiv, das Snowden noch vor seiner Flucht Journalisten übergab, auch etwas zu Lauschangriffen auf Russland und dessen politische Eliten? »Wir haben die bessere Abwehr«, glaubt ein ehemaliger Mitarbeiter der »Organe«, der anonym bleiben will.

Wachsamkeit habe sich schon zu Sowjetzeiten bewährt, betont der Experte, heute sei Russland wieder von Feinden umzingelt. Daher seien auch Spekulationen müßig, wonach Snowden mit russischen »Kollegen« zusammenarbeiten werde. Das sei viel zu heiß. Der Amerikaner könnte ein Doppelagent sein. Vor allem aber: Ein Überläufer, der sein Wissen bereits mit den Medien geteilt habe, sei für Geheimdienste ohnehin wertlos.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014


Traumziel Rio?

Edward Snowden würde ab August gern in Brasilien wohnen, doch die dortige Regierung stellt sich unerwartet stumm.

Von Nils Brock, Rio de Janeiro ***


»Ich würde liebend gern in Brasilien wohnen und wäre mehr als froh, wenn man meinem Asylgesuch dort nachkommen würde.« Edward Snowden macht keinen Hehl daraus, wohin die Reise gegen soll, wenn im August seine befristete Aufenthaltsgenehmigung in Russland abläuft. Doch ausgerechnet die beiden prominentesten »Abhöropfer« der NSA, Bundeskanzlerin Angela Merkel und die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff, scheuen davor zurück, ihre schützende Hand über den Mann zu halten, der die Enthüllungslawine ins Rollen brachte. Dabei hatte gerade Rousseffs engagierter Auftritt vor der UNO-Generalversammlung bei Snowden die Hoffnung geweckt, Brasilien würde den USA die Stirn bieten. Dort hatte sie appelliert, dass jeder das Recht habe zu kommunizieren, ohne bespitzelt zu werden. Zuvor war bekannt geworden, dass die NSA in Brasilien nicht nur Telefonate der Präsidentin abgehört, sondern auch intensiv im staatlichen Erdölunternehmen Petrobras und im Bergbau- und Energieministerium spioniert hat. Die nationalen Gemüter kochten. Laut Snowden hatte er zu diesem Zeitpunkt längst formal um Asyl gebeten; doch wie damals bestritt der brasilianische Außenminister Luís Figueiredo am vergangenen Dienstag erneut den Eingang eines solchen Antrags. Und erst wenn dieser vorliege, könne man ihn prüfen und sich konkret zum Fall äußern.

Der ehemalige Botschafter Marco Azambuja wurde in einer Gesprächsrunde im brasilianischen Fernsehen dagegen sehr deutlich und meinte, dass ein positiver Asylbescheid die Beziehungen zu den USA nachhaltig belasten würde, da bei diesem »Schlamassel ja noch nicht mal ein Ende in Sicht ist«. Damit spielt er auf die neuerliche Aussage von Snowdens Partner Glenn Greenwald an, »dass es noch viele Dokumente gibt, die den Brasilianern vor Augen führen werden, was die USA in ihrem Land anstellten«. Derweil wird auch darüber spekuliert, ob die Asylfrage an einen vorherigen Austausch vertraulicher Informationen geknüpft wird. Snowden hatte gegenüber dem TVSender Globo ungefragt geäußert, er sei zu einem solchen Deal nicht bereit und beantrage ein bedingungsloses »Asyl aus humanitären Gründen«. Dieser Schritt müsse gegangen werden, fordert auch der brasilianische Jurist Ronaldo Lemos, der sich für den Schutz der Menschenrechte im Internet einsetzt. Die USA seien nicht länger die Fahnenträger eines freien Internets. Brasilien müsse gemeinsam mit anderen Ländern diese Debatte an sich reißen.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014


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