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Whistleblower sind wichtiger

Klaus Eichner enthüllt, was der ostdeutsche Geheimdienst bereits über die NSA wusste *


Zunächst war er in der Spionageabwehr, danach in der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS als Analytiker tätig. Die Aktivitäten der National Security Agency (NSA) verfolgte er seit Anfang der 1970er. Darüber informiert Klaus Eichner, Jg. 1939, in seinem neuen Buch. Mit dem Autor zahlreicher Publikationen zur Spionage, der westlichen wie östlichen, sprach Karlen Vesper.

In zehn Tagen erscheint Ihr Buch »Imperium ohne Rätsel« ...

Der Titel nimmt Anleihe an das 1982 in den USA erschienene, erste grundsätzliche Buch über die NSA von James Bamford: »The Puzzle Palace«, Palast der Rätsel. Drei Jahre später enthüllten Jeffrey T. Richelson und Desmond Ball die engen Beziehungen zwischen den US- und britischen Geheimdiensten auf dem Gebiet der elektronischen Aufklärung in »The Ties That Bind«. Wer wissen wollte, konnte also schon damals wissen.

Sie wollen nun enthüllen, was die HVA über die NSA wusste. Ab wann war der DDR-Auslandsnachrichtendienst über diese informiert?

Zehn Jahre, bevor Bamfords Buch erschien, das wir natürlich trotzdem aufmerksam lasen. Die ersten Informationen erhielten wir 1972/73 von unserer Quelle im BND, die in der Abteilung II, also in der technischen Aufklärung tätig war. Die elektronischen Spähaktionen liefen damals unter der Bezeichnung ELOKA, elektronische Kampfführung. Wir erhielten erste Hinweise darauf, was die amerikanische Seite diesbezüglich plante, über welche technischen Möglichkeiten sie verfügte und dass die NSA auf diesem Feld eng mit dem BND zusammenarbeitete.

Der heute angeblich gar nichts gewusst hat über die Dimensionen der Ausspähaktivitäten der NSA?

Seit dem Aufbau der Gehlen-Organisation, des Vorläufers des BND, gab es eine intensive Zusammenarbeit auf allen geheimdienstlichen Feldern. Wer glaubt, dass dazu nicht das Anzapfen und der Austausch von geheimen Daten gehört, ist naiv. BND-Leute würden das auch nicht bestreiten. Das tun nur Pressesprecher. Über Jahre waren auch spezielle Einheiten aller Teilstreitkräfte der Bundeswehr in die elektronische Partnerschaft eingebunden. Unsere Quelle im BND übermittelte u. a. Unterlagen über die sogenannten Regenbogenkonferenzen.

Das klingt ja niedlich.

Das waren Treffen von Vertretern der Luftwaffe der NATO-Mitglieder und einiger neutraler Staaten wie Schweden, auf denen man sich über die neusten fernmeldeelektronischen Entwicklungen austauschte, über die eigenen und die des Ostens.

Das alles war Ihnen schon bekannt, bevor die US-Öffentlichkeit selbst etwas von der NSA erfuhr?

Ja. Die NSA, 1952 durch Präsidentenerlass zunächst als Geheimdienst des Verteidigungsministeriums gebildet, war in den ersten Jahrzehnten so geheim, dass man in den USA das Kürzel mit »No Such Agency« transkribierte, eine eigentlich nicht existierende Behörde. Deren Mitarbeiter selbst interpretierten die drei Buchstaben NSA intern als »Never Say Anything«.

Sag nie irgendetwas. Das Credo durchbrach nicht nur Edward Snowden. Jüngst bestritten Sie in Berlin eine Veranstaltung mit dem Whistleblower William Binney. Wie lange kennen Sie ihn?

Erst seit der Veranstaltung, zu der die Reporter ohne Grenzen und die Zentrale für politische Bildung eingeladen haben und an der auch Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club teilnahm. Binney, ehemals Technischer Direktor der NSA, packte erst aus, als er nach 30 Jahren Dienst ausschied. Er ist also nicht der klassische Whistleblower, bestätigte aber im vergangenen Jahr Snowdens Enthüllungen – und übrigens auch meine Ausführungen auf der Veranstaltung in Berlin.

Hatte die HVA Quellen in der NSA?

Im Buch nenne ich zwei: »Paul« alias James W. Hall und »Kid« alias Jeffrey M. Carney. Hall diente als US-Unteroffizier auf dem Teufelsberg in Berlin-Grunewald, eine der bedeutendsten Stationen der fernmeldeelektronischen Spionage der US-Geheimdienste in Europa. Zusammen mit der Radaranlage in Berlin-Marienfelde konnten elektronische Abstrahlungen von Waffen und Waffenleitsystemen sowie der Funkverkehr bis zu 600 Kilometer erfasst werden. Man hatte also die ganze DDR, Teile Polens, der Tschechoslowakei und der westlichen Sowjetunion auf dem Schirm. Hall war ein ausgezeichneter Analytiker, genoss bei seinen Leuten einen guten Ruf und wollte – zu unserem Glück – seine Finanzen aufbessern. Von einem Überläufer verraten, wurde er 1988 verhaftet und zu 38 Jahren Gefängnis verurteilt; er kam 2011 raus.

Eine lange Haftstrafe würde auch Snowden in den USA drohen, wäre er für die US-Behörden greifbar.

Gewiss. Ich würde Spione aber nicht mit Whistleblowern gleichsetzen. Zum Schutz unserer Quellen konnten wir deren Informationen nur intern verwenden. Whistleblower hingegen gehen mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit, machen die Gesellschaft auf Missstände aufmerksam und können die Verantwortlichen zu Reaktionen zwingen, selbst wenn diese dann nur herumeiern oder lügen. Das ist politisch viel wirkungsvoller als die Arbeit von Geheimdienstquellen. Das ist eine neue Qualität der gesellschaftlichen Ausein-andersetzung.

Snowden soll in Deutschland aussagen. Was meinen Sie dazu?

Ich würde ihm dringend davon abraten, auch nur einen Zentimeter deutschen Bodens zu betreten. Das lehrt beispielsweise die Erfahrung, die unsere zweite Quelle bei der NSA, »Kid«, machte. Er arbeitete beim Electronic Security Command in Marienfelde und dann auch für uns, als ihm klar wurde, dass seine Tätigkeit nicht der Verteidigung Westeuropas vor dem Kommunismus diente, sondern einzig den Hegemonialinteressen der USA. Seine Informationen liefen über meinen Tisch. Als seine Verhaftung drohte, übersiedelte er 1985 in die DDR und wurde mit der deutschen Vereinigung Bundesbürger wie alle Ostdeutschen. Am 21. April 1991 wurde Carney von Männern des United States Air Force Office of Special Investigations in Berlin auf offener Straße gekidnappt und in die USA ausgeflogen. Obwohl er einen deutschen Pass besaß, wurde ihm jeglicher Kontakt zu deutschen Behörden und ein deutscher Anwalt verweigert. Soviel dazu, wie die USA die nationale Souveränität der Bundesrepublik respektiert und diese wiederum sich devot unterwirft. Deutschland rührte auch keinen Finger für Carney, nachdem er seine Haft in Fort Leavenworth verbüßt hatte und zurückkehren wollte.

Warum nicht?

Transatlantische Treue, könnte man euphemistisch sagen. Dazu passt auch, dass nach der Vereinigung alle unsere Unterlagen über die NSA im Auftrag des Bundesinnenministers und unter dem damaligen, willfährigen Chef der Bundesbehörde für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR, Joachim Gauck, aus dem Archiv herausgeholt und in die USA verbracht wurden.

Wäre dies nicht geschehen, wären wir schon vor Snowdens Enthüllungen schlauer gewesen und hätten spätere Auswüchse verhindern können?

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Zu den Topinformationen, die uns »Paul« lieferte, gehörte ein umfangreiches Dokument mit der Bezeichnung National SIGINT Requirements List, NSRL – eine Wunschliste aller US-Geheimdienste, des Weißen Hauses und einiger Regierungsbehörden, so des US-Außenministeriums, für die fernmeldeelektronische Aufklärung weltweit. Die Liste füllte bei uns mehr als zehn Aktenordner. Wir kannten die Informationsinteressen der USA zu jedem Land der Erde und wussten, wie stark bereits Anfang der 1980er Jahre deren Interessen auch an der Aufklärung und Bearbeitung ihrer westlichen Verbündeten waren. Die Informationswünsche zu Frankreich waren ca. 50 Blatt stark, zur Bundesrepublik etwa 35 Blatt.

Zurück zu Snowden: Er ist im Gegensatz zu Ihrem »Kid« und auch zu »Paul« weltweit bekannt. Würde man es wagen, ihn zu entführen?

Ja. Nach offiziellem Eingeständnis kostete Carneys, also »Kids« Geheimnisverrat die USA 13 Milliarden Dollar. Der von Snowden zugefügte »Schaden« ist unbezifferbar. Wer ihn nach Deutschland einlädt, tut ihm keinen Gefallen, im Gegenteil, lockt ihn in eine Falle. Uncle Sam verzeiht keinen Verrat.

Hat das MfS nicht das Gleiche getan, was man der NSA vorwirft?

Das MfS hatte nicht die technischen Möglichkeiten einer kompletten Überwachung der Kommunikationsverbindungen der eigenen Bürger, geschweige anderer Staaten. Die DDR war ein kleines Land mit begrenzten materiellen Ressourcen, deren Inlands- wie auch Auslandsdienste konnten nicht so agieren wie eine Großmacht. In- und Ausländer wurden »nur« gezielt überwacht und nicht in der heute möglichen Größenordnung von Terrabites. Ich stimme Angela Merkel zu, dass man NSA und MfS nicht vergleichen kann, wenn auch mit einer anderen Schlussfolgerung als die Kanzlerin.

Illegal und ebenso moralisch verwerflich war aber auch die Überwachung der DDR-Bürger durch das MfS.

Ich gehörte 1992 zu den Mitbegründern des Insiderkomitees zur kritischen Aufarbeitung der Geschichte des MfS. Unsere Beiträge etwa zum hypertrophierten Sicherheitsverständnis der SED interessierten im vereinigten Deutschland die Meinungsmacher nicht. Andererseits sahen wir uns auch mit Beschimpfungen aus den Reihen ehemaliger MfS-Mitarbeiter konfrontiert.

Da wir im 25. Jahr nach dem Mauerfall leben – haben Sie in Ihrem aktiven Dienst Hinweise auf das Ende der DDR erhalten, womöglich auch auf eine zielgerichtete Demontage oder Preisgabe dieser?

Vernont A. Walters, Vier-Sterne-General, einst stellvertretender CIA-Direktor und laut Egon Bahr »ein Schlachtross des Kalten Krieges«, war 1989 vom gerade gekürten US-Präsident George W. Bush senior als Botschafter nach Bonn entsandt worden, obwohl schon über 70. Im Interview mit der »FAZ« sagte Walters im April 1990: »Ich wurde nicht geschickt, um einen Patienten zu heilen, ich wurde geschickt, um ihm die letzte Ölung zu geben.« Damit meinte er nicht nur die DDR, sondern allen staatlichen Sozialismus. Das Ende der DDR war allerdings in der strategischen Planung des Nationalen Sicherheitsrates der USA als Abschluss des Prozesses gedacht, nicht umgekehrt. Nachdem auch vom Kreml die rote Fahne eingeholt wurde, nahm Walter seinen Ruhesitz in Florida: Mission accomplished. Mission erfüllt.

Über ihn schrieben Sie 2005 das Buch »Der Drahtzieher«. Ich wollte indes wissen, ob Sie aus Ihren Analysen selbst auf Hinweise stießen?

Wir haben wohl Hinweise nicht so ernst eingeschätzt, wie wir es hätten müssen. Es gab aber auch niemanden, der uns geglaubt hätte. Doch das alles ist Geschichte. Wichtiger ist mir ein weniger beachtetes Problem: Die Ausspähaffäre ist ein marginales Phänomen der neuen Qualität des Cyber Warfare, der Kriegsführung im virtuellen Raum. Mit dem Cyber Space ist neben der konventionellen Kriegsführung zu Land, Luft, See und im Weltraum eine fünfte strategische Dimension eröffnet. Es sind elektronische Angriffe auf Netzwerke und Server der Gegner oder auch potenzieller Feinde möglich. Die moderne Gesellschaft ist abhängig von computergestützten Systemen. Die Infrastruktur, Kommunikation, Wirtschaft und Verwaltung, das gesamte öffentliche Leben basieren auf digitaler Vernetzung. Ein Eingriff in oder Angriff auf diese kann Staaten unterminieren und kollabieren lassen. Diese Gefahr steht als neue Herausforderung für die Friedensbewegung.

Klaus Eichner: Imperium ohne Rätsel. Was bereits die DDR-Aufklärung über die NSA wusste. Edition Ost, Berlin 2014. 128 S., br., 9,99 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag 13. Juni 2014


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