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"Ungewöhnlich und extravagant"

Russland und die USA planen offenbar einen spektakulären Austausch von Agenten

Von Irina Wolkowa, Moskau *

In den nächsten Tagen, vielleicht schon heute, soll der wegen Spionage für die USA verurteilte russische Wissenschaftler Igor Sutjagin nach Österreich geflogen und dort zusammen mit weiteren zehn prominenten Häftlingen gegen jene US-Bürger ausgetauscht werden, die in den USA der Spionage für Russland verdächtigt werden.

Sutjagin und den anderen Russen soll Großbritannien politisches Asyl angeboten haben. Details sind nicht bekannt, Außen- und Justizministerium in Moskau wollten den Vorgang bisher weder bestätigen noch dementieren. Bekannt gegeben hatten den Deal Sutjagins Anwälte auf einer Pressekonferenz am Mittwoch in Moskau. Ihr Mandant, so Anna Stawizkaja, sei bereits am Dienstag aus einer Strafkolonie mit verschärftem Regime bei Archangelsk am Weißen Meer in das Moskauer Untersuchungsgefängnis Lefortowo überführt worden. Dort sei ihm von Offizieren der Auslandsaufklärung SWR eine Erklärung zur Unterschrift vorgelegt worden, die ihm Freiheit gegen Eingeständnis seiner Schuld in allen Anklagepunkten zusichert.

Der 45-Jährige, der bis zu seiner Verhaftung 2000 Mitarbeiter des USA-Kanada-Instituts der Russischen Akademie der Wissenshaften war, wurde 2004 wegen Hochverrats zu 15 Jahren Haft, zu verbüßen in einem Straflager mit verschärftem Regime, verurteilt. Der Grund: Weitergabe von Informationen zu Nuklearwaffen an eine als Consultingunternehmen getarnte CIA-Firma. Sutjagin will seine Erkenntnisse allein aus frei zugänglichen Quellen bezogen haben. Verteidigung und Menschenrechtler kritisierten nicht nur das Urteil, sondern auch, dass das Gericht mit Suggestivfragen gearbeitet und ein entlastendes Gutachten nicht berücksichtigt haben soll.

Amnesty International nannte Sutjagin den ersten politischen Gefangenen seit Ende der Sowjetunion 1991. Zumal seine Gesuche auf Erlass des letzten Drittels seiner Strafe, auf die er nach geltendem Gesetz bei guter Führung Anspruch hat, mehrfach abgeschmettert wurden. Seit 2004 befasst sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit seiner Causa.

Sutjagin, so dessen Bruder Dmitri, der ihn Mittwoch kurz treffen konnte, sei auf den Deal auch deshalb eingegangen, weil er anderen Häftlingen ersparen wollte, was er in den bisher zehn Jahren Haft erdulden musste. Anwältin Stawizkaja äußerte sich ähnlich: Die Wunschliste für den Austausch sei von den USA zusammengestellt worden, dort hätte man die Ausreise aller elf Russen zur Bedingung für die Einstellung des Verfahrens gegen jene gemacht, die angeblich für Moskau spionierten.

Der Skandal war gleich nach dem USA-Besuch von Präsident Dmitri Medwedjew Ende Juni publik geworden. Unter Verdacht stehen insgesamt elf Männer und Frauen. Einige davon sollen russische Wurzeln haben und bereits vor Jahrzehnten von Moskau eingeschleust worden sein. Mit dem Ziel, sich zunächst ein normales amerikanisches Leben aufzubauen, um dann Kontakte zu hochrangigen Beamten aus dem Weißen Haus und dem State Department zu knüpfen und diese abzuschöpfen. Zu strafrechtlich relevanten Vergehen, die unter den Tatbestand Spionage fallen und in den USA sehr streng geahndet werden, ist es nach Angaben beider Seiten bisher jedoch noch nicht gekommen. Offiziell wird ihnen bisher nur der Versuch von Geldwäsche vorgehalten. Aus Sicht hiesiger Experten wie Generalmajor a. D. Juri Kobaladse, der selbst lange dem Geheimdienst SWR diente, vor allem, weil Moskau wie Washington den nach dem Machtwechsel in Kreml und Weißem Haus mühevoll zu Stande gekommenen Neustart der Beziehungen nicht gefährden wollen.

Hiesige Medien nannten den geplanten Austausch einen »ungewöhnlichen und extravaganten Schritt«. In der Tat liegt der letzte Fall fast 25 Jahre zurück. 1986 tauschte Moskau den nach Israel ausgewiesenen Dissidenten Nathan (Anatoli) Scharanski gegen einen tschechoslowakischen Kundschafter aus, fünf Jahre zuvor Günter Guillaume, den das MfS im Bonner Kanzleramt installiert hatte, und 1962 den über dem Ural mit einem Spionageflugzeug abgeschossenen US-Piloten Francis Power gegen Moskaus Mann in Washington: William Fisher, besser bekannt als Rudolf Abel.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juli 2010


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