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Kofi Annan vom britischen Geheimdienst bespitzelt?

Ex-Ministerin Clare Short klagt an - Verfahren gegen Geheimdienstmitarbeiterin Katharine Gun eingestellt

Clare Short

UN-Generalsekretär Kofi Annan ist vor dem Irak-Krieg vom britischen Geheimdienst ausspioniert worden, wie die frühere Entwicklungsministerin Clare Short am Donnerstag erklärte. Short sagte in einem Interview mit dem Sender BBC, sie habe damals selbst Mitschriften von Gesprächen Annans gelesen. Die Vereinten Nation reagierten zunächst zurückhaltend. «Wir wären sehr enttäuscht, wenn das wahr wäre», sagte UN-Sprecher Fred Eckhard.

Short hatte das Kabinett im Streit um das weitere Vorgehen gegen Irak vor dem Krieg verlassen und gilt als eine der schärfsten Kritikerinnen von Premierminister Tony Blair im Regierungslager. Blair nannte die Äußerungen Shorts «zutiefst unverantwortlich». Zugleich lehnte er jede Stellungnahme zu Geheimdienstaktionen ab. Daraus dürfe jedoch nicht auf den Wahrheitsgehalt bestimmter Anschuldigungen geschlossen werden, betonte Blair. Seine Regierung handele in Übereinstimmung mit nationalen und internationalen Gesetzen und im besten Interesse des Landes.

Eckhard sagte, wenn die UN je das Ziel von Spionage gewesen seien, dann müsse das aufhören. "Solche Aktivitäten untergraben die Integrität und die Vertraulichkeit des diplomatischen Austauschs. Diejenigen, die mit dem Generalsekretär sprechen, müssen annehmen dürfen, dass der Austausch vertraulich bleibt."

Short sagte in dem Interview: "Ich habe Gespräche mit Kofi vor dem Krieg geführt und gedacht 'oh je, davon wird es eine Mitschrift geben, und die Leute werden sehen, was er und ich sagen'." Auf die Nachfrage, ob britische Spione angewiesen worden seien, innerhalb der Vereinten Nationen Personen wie Annan ins Visier zu nehmen, sagte die Exministerin: "Ja, absolut." Annans Büro sei über einen längeren Zeitraum hinweg ausspioniert worden.

Hintergrund des Interviews war die Entscheidung der Staatsanwaltschaft vom Mittwoch, die Klage gegen eine Dolmetscherin der Regierung fallen zu lassen, die ein Memo des US-Geheimdienstes NSA an eine Zeitung weitergegeben haben soll. In dem Memo hatte der NSA vor dem Irakkrieg die britischen Geheimdienste um Hilfe beim Ausspionieren von UN-Delegierten gebeten.

Oppositionspolitiker haben die Frage aufgeworfen, ob die Einstellung des Verfahrens politisch motiviert war. Sie halten es für möglich, dass die Regierung intervenierte, um die Veröffentlichung für sie peinlicher Einzelheiten zu verhindern. Die Anwälte der Dolmetscherin vermuteten, die Klage sei fallen gelassen worden, weil sie von der Regierung die Offenlegung eines Gutachtens von Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith über die Rechtmäßigkeit eines Kriegs gegen Irak forderten. Minister der Regierung haben es wiederholt abgelehnt, das Gutachten zu veröffentlichen.

Goldsmith sagte im Oberhaus, er habe die Genehmigung für eine Fortsetzung des Falls gegeben. Die Staatsanwaltschaft habe aber später entschieden, dass es keine realistische Chance auf eine Verurteilung gebe.

Nach: AP, Meldung vom 26.02.2004

Skandal weitet sich aus

Neben UN-Generalsekretär Kofi Annan sind offenbar weitere Spitzenfunktionäre der Vereinten Nationen von westlichen Geheimdiensten systematisch ausspioniert worden. Der australische Rundfunksender ABC berichtete am 27. Februar, die Telefongespräche der früheren Waffeninspekteure in Irak, Richard Butler und Hans Blix, seien abgehört worden. Unter Berufung auf Geheimdienstquellen hieß es, die Abhörprotokolle seien den Regierungen der USA, Australiens, Kanadas, Großbritanniens und Neuseelands zugänglich gemacht worden.

"Jedes Mal, wenn Blix nach Irak kam, wurde sein Telefon abgehört. Die Gespräche wurden aufgezeichnet", sagte ABC-Journalist Andrew Fowler. Ein Informant des australischen Geheimdienstes habe ihm dies berichtet. Wer das Telefon von Blix angezapft haben soll, sagte er nicht. Das australische Justizministerium lehnte eine Stellungnahme ab.

Butler sagte dem Sender ABC, er sei sich bewusst gewesen, dass sein Büro in New York verwanzt gewesen sei. Er selbst habe auch Abhörprotokolle von Gesprächen anderer Personen erhalten, "um meinen Job, die Entwaffnung Iraks, erledigen zu können". Um vertrauliche Gespräche zu führen habe er den nahe gelegenen Central Park aufgesucht.

Erst am 26. Februar hatte die frühere britische Entwicklungsministerin Clare Short der BBC gesagt, Annan sei vor dem Irak-Krieg systematisch ausspioniert worden. Sie habe seinerzeit selbst Mitschriften von Gesprächen Annans gelesen. Die Vereinten Nation reagierten besorgt. "Wir wären sehr enttäuscht, wenn das wahr wäre", erklärte UN-Sprecher Fred Eckhard. Annan wolle, dass die Spionage sofort beendet werde, da die Arbeit des Generalsekretärs dadurch unterwandert werde.

AP, Meldung vom 27.02.2004


Katharine Gun

Die Frau, die die Lawine ins Rollen brachte, heißt Katharine Gun. Keine lautstarke Rebellin, mehr eine Kriegsgegnerin der stillen Art, die im General Communications Headquarter (GCHQ), der Abhörzentrale Ihrer Majestät in der Kleinstadt Cheltenham, saß und übersetzte, was die Agenten in chinesischer Sprache so alles mitschnitten.

Im Winter 2003 - der UN-Sicherheitsrat war Schauplatz heftiger Irak-Debatten - hatte sie aufzuschreiben, wie die Vertreter Chinas bei den Vereinten Nationen über den drohenden Konflikt dachten. Eine geheime E-Mail flimmerte über ihren Bildschirm: Die National Security Agency, der amerikanische Partner des GCHQ, bat, so wörtlich, um einen "Schub" an Informationen. Man müsse wissen, wie Mitglieder des Sicherheitsrates in Sachen Irak abstimmen wollten. Vor allem ging es um die Schwankenden, Länder wie Angola, Chile, Guinea, Kamerun, Mexiko und Pakistan, die damals als Zünglein an der Waage galten.

"Das musste einfach raus. Die Öffentlichkeit hatte ein Recht zu erfahren, was vor sich ging", sagt Katharine Gun heute. Sie empfand das Ansinnen der Amerikaner als derart gravierenden Verstoß gegen die Regeln der UN, dass sie die vertrauliche E-Mail einem britischen Wochenmagazin zuspielte, dem Observer. Wegen Geheimnisverrats sollte die 29-Jährige vor Gericht gestellt werden. Doch das Verfahren hatte noch gar nicht richtig begonnen, da brach es der Staatsanwalt am Mittwoch (25. Februar 2004) ab.

Am Donnerstag (26. Februar) legte Clare Short nach, lange Zeit Entwicklungshilfeministerin, die nach dem Irakkrieg zurücktrat und heute zu den Erzfeinden Blairs zählt. Der BBC erzählte sie, wie sie in den Wochen vor dem Feldzug mit UN-Generalsekretär Annan sprach und dabei dachte: "Ach du meine Güte, davon wird es eine Abschrift geben, und dann werden die Leute sehen, was er und ich hier sagen". Annan, suggerierte Short, seien routinemäßig Wanzen ins Büro gesetzt worden. Blair erklärte am Donnerstag, er gebe keinen Kommentar zu Operationen seiner Geheimdienste ab.

Annan forderte ein sofortiges Ende des Abhörens seiner Gespräche durch den britischen Geheimdienst, "wenn es das denn tatsächlich gibt". Falls Berichte, wonach er seit langem Ziel von Lauschangriffen sei, zutreffen sollten, wäre Annan "sehr enttäuscht", sagte sein Sprecher Fred Eckhard am Donnerstag.

Aus: DER STANDARD, 27.02.2004


Blairs Schweigen

Aus einem Kommentar von PETER NONNENMACHER in der Frankfurter Rundschau:

(...) Von einem Tribunal zum andern, von einer Anschuldigung zur nächsten müht sich der britische Premier, die Schatten abzustreifen, die ihm seit der Invasion Iraks folgen. Besonders unangenehm ist dabei der jüngste Vorwurf, den Ex-Ministerin Clare Short gegen ihn erhoben hat: London habe im Vorfeld des Kriegs vertrauliche Gespräche des UN-Generalsekretärs belauscht, um die eigenen (Kriegs-)Interessen leichter verfolgen zu können.
Man braucht, um den Ernst dieser Vorwürfe zu begreifen, keinen sonderlichen Respekt vor Clare Short zu haben, die immerhin schon als Ministerin von den "britischen Lauschangriffen" wusste. (...) Für einen Regierungschef aber, der sich beharrlich auf die Legalität seiner Aktionen beruft, wäre eine Geheimdienst-Operation gegen den höchsten UN-Diplomaten eine riskante Angelegenheit - zumal man in New York eine solche Operation als rechtswidrig betrachten würde.
In England selbst ist von "unmoralischen" Methoden die Rede. Blair aber schweigt zum Inhalt der Anschuldigungen - angeblich aus Rücksichtnahme auf seine Spione. Sein Schweigen trägt dem Premier immer neue Schwierigkeiten ein. Mit diesem Schweigen setzt er seinen Problemen kein Ende.

Aus: Frankfurter Rundschau, 27.02.2004


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