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Intellektuelle Krieger

Herbert Marcuse & Co. und die US-Geheimdienste

Von Herbert Hörz *

Was suchten Gelehrte wie Herbert Marcuse, Franz Neumann oder Otto Kirchheimer im Geheimdienst und im Regierungsapparat der USA? Verletzten sie derart nicht das wissenschaftliche Rationalitätskriterium der Objektivität? Sind Wahrheitssuche und Politikberatung vereinbar? Diesen Fragen geht Tim B. Müller nach. Seine Studie beginnt mit der Geburt des Office of Strategic Services (OSS) 1941 durch eine Verfügung von Präsident Roosevelt. »Im OSS verschmolzen, so heißt es, die dunklen Seiten eines Geheimdienstes und der liberale Geist des ›New Deal‹.«

Die sozialdemokratische Tendenz der Politik des »New Deal« und der Kampf gegen den Faschismus bewog antifaschistische Denker wie Marcuse zur Mitarbeit. Er gehörte der Research and Analysis Branch (R & A) an. Dort verbanden sich »akademische Gelehrsamkeit und die militärischen Anforderungen des Krieges«. Nach dem Krieg wurde R & A zum Nachrichtendienst des Außenministeriums als Office of Intelligence Research des State Department (OIR) umgebaut. Die Geheimdienstarbeit ging weiter. »Marcuse war ein Jahrzehnt lang im amerikanischen Geheimdienst. Nachdem er den Staatsdienst verlassen hatte, löste er keineswegs die Verbindungen zu den liberalen Eliten Amerikas, die er im Geheimdienst geknüpft hatte. Bis zum Anfang der sechziger Jahre bewegte er sich gewandt im amerikanischen Establishment. Vom Geheimdienst ging er in die Welt der philanthropischen Stiftungen, der Rockefeller Foundation in seinem Fall, wie der Geheimdienst ein Inbegriff des amerikanischen Establishments.« Marcuse war wie seine Freunde ein »intellektueller Krieger«. Auch nach 1945.

Die Gelehrten stießen zu Feinheiten des sowjetischen Systems vor, »die dem Blick einfältiger Kalter Krieger verborgen blieben«. Das Buch zeigt, wie die psychologische Kriegführung im Kalten Krieg an die Methoden der Gegner-Forschung im heißen Krieg anknüpfte. »Der Antikommunismus nahm in Gestalt des Antitotalitarismus in dem Maße an Bedeutung zu, in dem der Antifaschismus an Rückhalt verlor.« Das war den Wissenschaftlern bewusst. Allerdings hatten die Linksintellektuellen im Dienst der USA, unabhängig davon, ob sie im Regierungsapparat, in Beraterfunktionen oder im akademischen Leben wirkten, Probleme mit der Theorie des Totalitarismus, mit der die Sowjetunion und ihr Machtbereich als monolither Block erschienen, was ihren Analysen widersprach. Außerdem wurden die fundamentalen Unterschiede zwischen Faschismus und Kommunismus nicht berücksichtigt, die sich aus der sozialen Zielstellung unterschiedlicher Systeme ergaben.

Im Inneren der Rockefeller-Stiftung bezeichnete man den McCarthyismus als totalitär. Man wusste: »Der Kommunist, der nicht selbstständig denken konnte, war ein Bild aus der politischen Mythologie, wie geschaffen, um professionelle Antikommunisten zufriedenzustellen.« Ideologiekritisch ist anzumerken, dass die mit der Totalitarismus-Theorie nicht zu vereinbarenden inneren Widersprüche des »realen Sozialismus«, verbunden mit den gegen das System gerichteten Außeneinwirkungen, zur Implosion führten. Die intellektuellen Kalten Krieger hatten mit ihrem Einsatz für die Entspannungspolitik und ihrer Prognose vom inneren Wandel der Sowjetunion durch Liberalisierung, wie sie dem Marxismus und den sozialistischen Idealen entsprach, letzten Endes recht. Das Nazi-Regime dagegen musste militärisch besiegt werden.

In den USA umfasste der Krieg der Ideen die Auseinandersetzungen zwischen den Verschwörungstheoretikern, nach denen jeder Kommunist von Moskau gesteuert werde und der Weltkommunismus die Weltherrschaft anstrebe, und den auf Entspannung setzenden Kräften im Kalten Krieg mit ihren gelehrten Unterstützern. Das Wirken fanatischer Antikommunisten erreichte im McCarthyismus seinen ersten Höhepunkt. »Der McCarthyismus traf viele Mitarbeiter an Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen hart. Nicht wenige verloren dauerhaft oder vorübergehend ihre Reputation, Stellung oder wirtschaftliche Existenz. Nicht selten haben akademische Institutionen aus Angst, Opportunismus oder antikommunistischer Überzeugung Opfern des McCarthyismus den Schutz verweigert.«

Marcuse leistete eine umfangreiche intellektuelle Arbeit. Mit »Soviet Marxism« hatte er die Differenzen zwischen Marx und einem dogmatisierten Marxismus, zwischen sozialistischen Idealen und gesellschaftlicher Wirklichkeit herausgearbeitet. Diesen Ansatz wandte er auch auf die westliche Welt und die Kritik ihrer Wertvorstellungen im Buch »Der eindimensionale Mensch« an.

Kirchheimer wiederum studierte die ihm vom Geheimdienst der USA zur Verfügung gestellten Gerichtsprotokolle stalinistischer politischer Prozesse in Osteuropa, die Verurteilung von Nazi-Kollaborateuren in Frankreich, doch auch die Literatur zu den Rosenbergs, ebenso zu Sacco und Vanzetti in den USA. Ihm ging es generell um die gesellschaftlichen und politischen Folgen politischer Justiz. Dabei kam er zu einem Systemvergleich, unabhängig von der Firmierung als Demokratie oder Diffamierung als totalitaristisch. Im Ergebnis forderte er (1.) einen Vergleich der juristischen Techniken, (2.) eine Antwort auf die Frage nach der Haltung der Richter und (3.) der Angeklagten, (4.) sei die Rolle der Anwälte zu untersuchen, (5.) ging es ihm um die Grundlagen von Straferlass und Strafumwandlung und (6.) um die Beziehung politischer Justiz und allgemeinen Wahrheitsbegriffen. Folgt eine Analyse der politischen Justiz in der Gegenwart solchen Forderungen?

Der Kalte Krieg ist zu Ende. Weder Ost noch West hätten gesiegt, so Tim B. Müller. Der Traum vom amerikanischen Liberalismus sei ausgeträumt. Die Nationale Sicherheit in einem Sicherheitsstaat überwuchere Objektivität und Humanität. An einer Erneuerung des Liberalismus nach Obamas Regierungsantritt meldet der Autor Zweifel an, denn »das sozialdemokratisch-liberale Programm, die stärkste, integrative und noch über ihren Niedergang hinauswirkende Kraft des Kalten Krieges, scheint für immer zerstört«.

Der Krieg der Ideen geht weiter. Das methodische Instrumentarium zur Analyse von Situationen, von kreativen Denkern entwickelt, hat auch heute Gültigkeit. Die Potenzen einer marxistischen Theorie sind bei Weitem nicht erschöpft und seine humane Vision einer Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten, angestrebt von den Humanisten unter den Gelehrten im Kalten Krieg, bleibt ein Ideal aktiven Handelns.

Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburger Edition. 736 S., geb., 35 €.

* Neues Deutschland, 17. Februar 2011


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