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Zu kurz gegriffen

Friedenspreis: Jaron Laniers Kritik an der Macht der Internetkonzerne ist nicht so demokratisch, wie uns Lobredner Glauben machen wollen

Von Thomas Wagner *

Was für ein Wirbel! Die Entscheidung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, seinen Friedenspreis in diesem Jahr an den Internetpionier Jaron Lanier zu verleihen, ist am Freitag im hiesigen Feuilleton begeistert aufgenommen worden. Springers Welt bezeichnete sie als »eine wirkliche Sensation« und die Süddeutsche Zeitung meint, der Informatiker habe »ein Menschheitsproblem benannt und umrissen, dessen sich viele noch gar nicht bewußt sind«. In der FAZ wiederum ließ es sich Herausgeber Frank Schirrmacher nicht nehmen, die Entscheidung für Lanier als ein wichtiges »politisches Signal« zu würdigen.

Ist die ganze Aufregung gerechtfertigt? Die Antwort lautet: ja und nein. Tatsächlich muß dem 1960 in New York geborenen Autor zugute gehalten werden, schon früh und mit einiger Sachkenntnis auf gemeingefährliche Entwicklungen im Silicon Valley hingewiesen zu haben. So zog er infolge kritischer Bemerkungen im Jahr 2000 den Zorn derjenigen seiner Kollegen auf sich, die sich vorgenommen hatten, superintelligente Roboter zu entwickeln, welche künftig den Menschen als herrschende Spezies auf der Erde ablösen sollen. In seinem 2014 veröffentlichten Buch »Wem gehört das Internet?« (jW-Rezension am 17.4.2014) weist er, wie Schirrmacher zu Recht hervorhebt, außerdem darauf hin, »daß man nicht von den Geheimdiensten reden und von der Überwachungsökonomie der Industriegiganten schweigen könne«.

Was Laniers Ausführungen trotzdem auf weiter Strecke schwer erträglich macht, ist seine Fixierung auf die Interessen des »Mittelstands«. Niedriglöhner, Arbeitslose und Organisationen, die deren Klasseninteressen vertreten könnten, läßt er links liegen. Sein Vorschlag, der asymmetrischen Machtverteilung im Netz durch ein Mikropayment-System zu begegnen, richtet sich konsequenterweise an individuelle Nutzer, die für die Freigabe ihrer Daten bezahlt werden sollen. Im Kern geht es darum, die Internetkraken mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, ohne an den sich im Rahmen der kapitalistischen Produktion stets erneuernden Herrschaftsverhältnissen etwas zu ändern. Für den Börsenverein, der ständig nach neuen Geschäftsmodellen Ausschau hält, um seine von Existenzängsten geplagten Mitglieder für die Herausforderungen des digitalen Handels zu wappnen, mag das ein verlockender Gedanke sein.

Doch würde der Vorschlag realisiert, gäbe es einen Verlierer: das Gemeinwesen. Denn die Entscheidung eines einzelnen, »persönliche Informationen preiszugeben, und sei es nur gegenüber meiner Krankenversicherung, hat unweigerlich Folgen für andere Leute«, schreibt Evgeny Morozov in der aktuellen Ausgabe der Technology Review (6/2014). Leute, die sich der Datenfreigabe verweigerten, erschienen sehr bald als »Abweichler, die etwas zu verbergen haben«. Nun stellten sich Fragen wie diese: »Will ich wirklich meine Daten freigeben (…) wenn dafür jemand anderes, der bereits drei verschiedene Jobs hat, mehr für seine Krankenversicherung bezahlen muß?«

* Aus: junge Welt, Dienstag 10. Juni 2014


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