Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der helle Wahnsinn: Die Europäische Union erhält den Preis aller Preise

Dokumentiert: Die Erklärung des Nobelpreiskomitees, Presseschau sowie ausgewählte Artikel


Am 12. Oktober 2012 gab das Norwegische Nobelpreiskommitee den Träger des Friedensnobelpreises 2012 bekannt: Es ist die Europäische Union. Die EU und ihre Vorgängerorganisationen hätten, so die Begründung, sechs Jahrzehnte "Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa" befördert. [Siehe die Begründung des Komitees im Kasten.] Brüssel und die Regierungen aller EU-Mitgliedstaaten bekamen ob dieses Lobs feuchte Augen - und bereiten flugs die nächsten Grausamkeiten gegenüber Griechenland und den anderen Südstaaten vor. Die Presse schwelgt ebenfalls in den höchsten Tönen, weil sie tatsächlich glaubt, dass das so sei.

Im Folgenden dokumentieren wir:

The Nobel Peace Prize for 2012

The Norwegian Nobel Committee has decided that the Nobel Peace Prize for 2012 is to be awarded to the European Union (EU). The union and its forerunners have for over six decades contributed to the advancement of peace and reconciliation, democracy and human rights in Europe.

In the inter-war years, the Norwegian Nobel Committee made several awards to persons who were seeking reconciliation between Germany and France. Since 1945, that reconciliation has become a reality. The dreadful suffering in World War II demonstrated the need for a new Europe. Over a seventy-year period, Germany and France had fought three wars. Today war between Germany and France is unthinkable. This shows how, through well-aimed efforts and by building up mutual confidence, historical enemies can become close partners.

In the 1980s, Greece, Spain and Portugal joined the EU. The introduction of democracy was a condition for their membership. The fall of the Berlin Wall made EU membership possible for several Central and Eastern European countries, thereby opening a new era in European history. The division between East and West has to a large extent been brought to an end; democracy has been strengthened; many ethnically-based national conflicts have been settled.

The admission of Croatia as a member next year, the opening of membership negotiations with Montenegro, and the granting of candidate status to Serbia all strengthen the process of reconciliation in the Balkans. In the past decade, the possibility of EU membership for Turkey has also advanced democracy and human rights in that country.

The EU is currently undergoing grave economic difficulties and considerable social unrest. The Norwegian Nobel Committee wishes to focus on what it sees as the EU's most important result: the successful struggle for peace and reconciliation and for democracy and human rights. The stabilizing part played by the EU has helped to transform most of Europe from a continent of war to a continent of peace.

The work of the EU represents "fraternity between nations", and amounts to a form of the "peace congresses" to which Alfred Nobel refers as criteria for the Peace Prize in his 1895 will.

Oslo, 12 October 2012



Pressespiegel *

Im Folgenden werden folgende Zeitungen aus dem Ausland zitiert: POLITIKEN (Dänemark), DE VOLKSKRANT (Niederlande), EL PAIS (Spanien), MAGYAR NEMZET (Ungarn), DE STANDAARD (Belgien), LIBERATION (Frankreich), TAGES-ANZEIGER (Schweiz), RZECZPOSPOLITA (Polen), SME (Slowakei), LIANHE WANBAO (Taiwan), DER STANDARD (Österreich), NEW YORK TIMES (USA), KATHIMERINI (Griechenland).


Die dänische Zeitung POLITIKEN befürwortet die Entscheidung:
"Das Nobelkomitee sendet das richtige Signal an die Europäer. Die Idee ist einleuchtend, und der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können. Der Friedensnobelpreis geht an die EU und damit an eine halbe Milliarde Europäer, die sich zur Zusammenarbeit verpflichtet haben. Zudem ist die Union auch eine starke Triebfeder für Demokratie, Frieden und Wohlstand über ihre Grenzen hinaus. Der Friedensnobelpreis ist aber auch eine Erinnerung daran, dass der Zusammenhalt in Europa keine Selbstverständlichkeit ist".


"An der Notwendigkeit der Europäischen Union gibt es keine Zweifel", unterstreicht die niederländische Zeitung DE VOLKSKRANT.
"Die Union dient dem Frieden und ist die einzige Chance, Europas Stimme inmitten der weltweiten Machtblöcke Gehör zu verschaffen. Eine gespaltene EU könnte das nicht. So muss dieser Nobelpreis muss vor allem angesehen werden als eine Ermutigung, die Eurokrise zu überwinden und die Gemeinsamkeiten hervorzuhebenen".


Ähnlich argumentiert die spanische Zeitung EL PAIS:
"Die EU hat es geschafft, Frieden und Freiheit über ihre Grenzen hinaus zu exportieren. Sie ist aber auch ein Experiment mit vielen Schwierigkeiten. Der Nobelpreis ist ein moralischer Trost und ein Ansporn, nationale Widerstände zu überwinden, die den Weg zu einer Vertiefung der Zusammenarbeit verstellen. Ein Scheitern der Währungsunion würde die Fortschritte zunichtemachen, die in den vergangenen Jahrzehnten mühsam erreicht wurden".


Die ungarische Zeitung MAGYAR NEMZET ist skeptisch:
"Gerade zu diesem Zeitpunkt wirkt die Auszeichnung eher wie ein Trostpreis fürs Dahinwursteln als eine Ermunterung. Die Europäische Union kann dann wieder stark werden, wenn sie Politiker hervorbringt, die über Visionen verfügen; die sich über die egoistischen Interessen hinwegsetzen können. Politiker, die nicht nur in der Lage sind, den inneren Zusammenhalt der Union zu festigen, sondern die auch den Mut haben, die Bündnisbeziehungen neu zu gestalten".


"Die Vergabe des Friedensnobelpreises mag mehr als verdient sein", urteilt die belgische Zeitung DE STANDAARD.
"Sie unterstreicht aber zugleich, wie existenziell die Krise ist, in der sich die Europäische Union befindet. Weil der Patient schwer krank ist, bekommt er aus Norwegen eine Infusion aus Sympathie und Ermutigung. Wenn Brüssel die Probleme jedoch nicht schnell unter Kontrolle bringt, wird die Unterstützung für die EU durch die Bevölkerung weiter sinken. Daran wird auch das gegenseitige Schulterklopfen über den Friedensnobelpreis nichts ändern".


Die französische Zeitung LIBERATION geht in ihrer Einschätzung noch weiter:
"Die Entscheidung des Nobel-Komitees könnte ironisch gemeint sein. Den Preis an die Europäische Union zu vergeben, die mitten in der Krise steckt und an der gezweifelt wird, ist aber auf alle Fälle dreist. Die Jury hat eine Schwerkranke gewürdigt, die depressiv ist und deren lebenserhaltenden Organe gelähmt sind. Und nicht wenige haben bemerkt, dass die Lobrede in Oslo wie eine Grabrede klang."


Für den TAGES-ANZEIGER aus der Schweiz kommt die Ehrung zum falschen Moment:
"Warum nicht 1952 nach Gründung der Montanunion? 2004 mit Beginn der Osterweiterung? Das Komitee hat die früheren Zeitpunkte verpasst und ehrt die EU nun in einem Moment, in dem der Streit zwischen einzelnen Mitgliedern zu eskalieren droht. Die Botschaft aus Oslo wirkt in dieser Situation eher als Mahnung denn als Festrede. Denn inzwischen bedroht das Hickhack um die gemeinsame Währung den Frieden auf neue Weise".


Die polnische Zeitung RZECZPOSPOLITA wundert sich ebenfalls über die Vergabe des Friedensnobelpreises:
"Als Grund für die Auszeichnung wird angeführt, der Europäischen Union sei es gelungen, einen großen Teil des alten Kontinents zu einen und die Gefahr eines Krieges dauerhaft zu verbannen. Diese Erklärung wäre vor fünf Jahren noch treffend gewesen. Doch heute ist die EU dabei, wieder auseinander zu streben - durch das missglückte Experiment, das sich 'Eurozone' nennt. Die europäische Solidarität ist inzwischen Fiktion. Wütende Griechen verbrennen eine Merkel-Figur in SS-Uniform, die Dänen untergraben den Schengenraum, die Katalanen wollen sich von Spanien trennen, neue Nationalismen entstehen - und die Briten schauen sich diesen Zirkus mitleidsvoll an".


Die slowakische Zeitung SME zieht folgenden Vergleich:
"Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union erinnert an die Auszeichnung von US-Präsident Barack Obama im Jahr 2009: Es ist ein weiterer Ausdruck einseitiger politischer und ideeller Sympathien seitens des Nobelpreiskomitees. Die EU macht gerade die schlimmste Krise in ihrer Geschichte durch. Und die Behauptung, dass die EU den Frieden in Europa bewahrt, ist ein Irrtum. Im Gegenteil. Heute sieht es eher so aus, dass die Lösungsvorschläge der EU eher zu einer Wiederbelebung gegenseitiger Ressentiments führen. Logischer wäre es gewesen, der EU den Preis erst dann zu verleihen, wenn sie die Krise erfolgreich überwunden hat".


Die Zeitung LIANHE WANBAO aus Taiwan sieht es so:
"Wenn man mit diesem Preis die Erfolge der EU in der Vergangenheit auszeichnen möchte, daran ist nicht viel auszusetzen. Knüpft man daran aber Erwartungen an die Zukunft der Union, wird das nur Spott nach sich ziehen - vergleichbar mit dem Preis für US-Präsident Obama. Die EU steckt aktuell in Problemen. Sie droht sogar auseinanderzufallen. Die Wirtschaft hat einst die europäischen Länder zusammengeführt. Heute bringt sie Europa in die Krise. Der Gedanke eines finanziell und politisch integrierten Europas kommt beim Volk nicht an. Und für die Griechen und Spanier bringt Europa nur eine Verschlechterung ihres Lebensniveaus".


Auch für den STANDARD aus Österreich ist die Auszeichnung umstritten:
"Die Wahl der EU ist diffus. Oder wollte man den Preis als nicht eingestandenen Trost verstanden wissen, dass die Europäer auf der Weltbühne eine zunehmend geringere Rolle spielen und als Problemverursacher, wie derzeit bei der Tagung des Internationalen Währungsfonds, am Pranger stehen?
Damit ist eine Chance vergeben worden, eine Person in ihrem Bemühen zu unterstützen wie etwa die Iranerin Shirin Ebadi oder die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf einen Konflikt in einem Land zu lenken".


Die NEW YORK TIMES hat damit ebenfalls Probleme:
"Es ist schwierig, zu akzeptieren, dass die EU für die Förderung des Friedens in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgezeichnet wurde. Für diesen Prozess waren letzlich die NATO und die Vereinigten Staaten mitverantwortlich. Aber davon mal abgesehen, kann man die positiven Leistungen der EU nicht bestreiten. Die Europäische Union ist eine bemerkenswerte Errungenschaft. Und es ist gut, wenn diese Auszeichnung hilft, die aktuelle Krise zu überwinden. Eine Möglichkeit wäre, das Preisgeld an Griechenland zu geben".


In der griechischen Zeitung KATHIMERINI ist zu lesen:
"Natürlich ist die EU ein bemerkenswertes Beispiel für politische Integration. Allerdings gibt es auch ein paar Ausnahmen. Das Eingreifen der EU in den Jugoslawien-Konflikt etwa hat eine blutige Spur hinterlassen, deren Beseitigung noch lange dauern wird. Außerdem befindet sich die EU in einem Prozess hin zu neuen nationalen Egoismen. Vielleicht kann der Nobelpreis dazu beitragen, die Entscheidungsträger aufzurütteln und daran zu erinnern, dass die Union ein zerbrechliches Gebilde ist. Die EU hat den Friedens-Nobelpreis verdient, muss aber schnell einen Weg zu ihrem inneren Frieden finden."

* Aus: Deutschlandfunk, 13. Oktober 2012; http://www.dradio.de/presseschau/


Artikel und Kommentare aus nd und jW

[Alle vom Samstag, den 13. Oktober 2012.]
Die deutschen Zeitungen waren weniger differenziert als die ausländischen Reaktionen. Waren wir, als ein deutscher Kardinal zum Papst in Rom gekürt wurde, "alle Papst", so sind die Europäer alle Friedensnobelpreisträger - die Deutschen an erster Stelle. Und die Alt-Politiker gaben die Stichworte: Hans-Dietrich Genscher: Die Ehrung würdige die "friedensstiftende Rolle der europäischen Einigung"; Alt-Kanzler Helmut Kohl sprach von „einer Bestätigung für das Friedensprojekt Europa“.
Kritische, teilweise ironische Stimmen (z.B. aus der taz) gab es auch. Sie kamen aber fast ausschließlich in den linken Zeitungen zu Wort. Daher im Folgenden die kleine Auswahl an Artikeln aus dem "neuen deutschland" und der "jungen Welt".



Unglaublich: Friedensnobelpreis an EU

Reaktionen auf Entscheidung des Osloer Komitees zwischen »wunderbar« und »seltsam«

Von Ingolf Bossenz

Ob es eine »wunderbare« Entscheidung war, wie Angela Merkel meint, ist gewiss Ansichtssache. Eine überraschende war es auf jeden Fall: Die Vergabe des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union.

Weder Panzer noch andere Militärfahrzeuge rollten am Freitag während der Militärparade zum spanischen Nationalfeiertag über den Madrider Prachtboulevard Paseo de la Castellana. Allerdings war diese militärische Beschränkung keine spontane Reaktion auf die Vergabe des Friedensnobelpreises an die EU, sondern eine Folge der spanischen Finanzkrise.

Angemessen wäre eine solche symbolische Geste durchaus gewesen. Schließlich hatte das norwegische Nobelkomitee in seiner Preisbegründung ausdrücklich auf »die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens« verwiesen. Da könnte man schon mal auf das Rasseln von Panzerketten verzichten. Ob in Madrid oder anderswo.

Die Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Katja Kipping, forderte denn auch konsequenterweise ein EU-weites Verbot von Waffenexporten. »Es hat schon etwas Absurdes, wenn eine der größten Waffenschmieden der Welt den Friedensnobelpreis bekommt«, sagte Kipping gegenüber »nd«. Die Politikerin sprach sich dafür aus, »dass wir in der EU die Auszeichnung zum Anlass nehmen, ein EU-weites Verbot von Waffenexporten einzuführen«. Das Europäische Parlament könne »mit dieser Initiative zeigen, in welche Richtung sich die EU bewegen soll, und wer am Lenkrad sitzt. Der Tod darf kein europäisches Exportgut sein.« Zur Begründung verwies Kipping darauf, dass sieben der zehn weltweiten Top-Waffenexportländer Staaten der Union seien. Mehr als ein Drittel aller Waffenexporte kämen aus der EU.

Die russische Bürgerrechtlerin Swetlana Gannuschkina (70), die selbst als Favoritin für den Preis galt, sagte, die Entscheidung für eine »große bürokratische Staatsstruktur« sei seltsam. »Die Europäische Union hat an mehreren Kriegen teilgenommen.«

Ob EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy von solchen Bedenken heimgesucht wird, ist eher nicht anzunehmen. Immerhin klangen in seiner ersten Reaktion Zweifel an. Er twitterte, die Preisverleihung sei eine »unglaubliche« Ehre.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erinnerte in seinem Glückwunsch die EU daran, dass sie ein »einzigartiger und entscheidender Partner« des Militärpaktes sei. Die von Kritikern des Osloer Beschlusses geäußerte Ironie, nächster Preisträger werde wohl die NATO, dürfte also in der Bündniszentrale nicht als abwegig gelten.

neues deutschland, 13. Oktober 2012


Auf dem Weg zur Militärunion

Brüssel arbeitet an der Herausbildung eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes

Von Olaf Standke


Die EU als Friedensunion? Nicht nur die Friedensbewegung hierzulande hat da ihre Zweifel. Mit seiner diesjährigen Wahl habe das Nobelpreiskomitee die Fehlentscheidung für USA-Präsident Barack Obama wohl noch getoppt, sagte Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, am Freitag gegenüber »nd«. »Die EU ist kein Friedensprojekt nach außen.«

Strutynski verweist auf die »mörderische Flüchtlings-Abwehrpolitik« der Europäischen Union, ihre konfliktfördernde Handelspolitik gegenüber den Entwicklungsländern, den »Wirtschaftskrieg« Brüssels gegen Iran und Syrien, der am Ende zu einem »heißen Krieg« führen könnte. Mit dem Lissabonner Vertrag »wird die EU in eine Militärunion umgewandelt«, betont der Friedensaktivist.

Spätestens seit der Jahrtausendwende entwickle sich die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit »Lichtgeschwindigkeit«, wie es der einstige NATO-Generalsekretär und spätere EU-Außenbeauftragte Javier Solana formulierte. Als offizielle Geburtsstunde für diesen Prozess gilt Kritikern der EU-Gipfel 1999 in Köln. Dort wurde beschlossen, eine EU-Eingreiftruppe für globale Kriegseinsätze aufzustellen.

Diese EU-Politik ist entscheidend durch mehr als zwei Dutzend Einsätze und Missionen geprägt. Über 70 000 Soldaten wurden dabei stationiert. Seit Sommer dieses Jahres ist die Union beispielsweise nahezu in jedem Land der afrikanischen Sahelzone präsent. Die Piratenbekämpfung in der Region wurde auf das Land ausgedehnt. Der Libyen-Krieg, maßgeblich initiiert durch eine enge militärische Kooperation zwischen den EU-Mitgliedern Frankreich und Großbritannien, gilt in Brüssel inzwischen als beispielgebend für künftiges Vorgehen. Wobei die Potenziale der NATO, der zahlreiche EU-Staaten gleichzeitig angehören, effektiver als bisher genutzt werden sollen. »Von Beginn an haben die NATO und die Europäische Union gemeinsame Werte geteilt und geholfen, das neue Europa zu formen«, wie es gestern NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen formulierte.

Vor vier Jahren beschloss der Europäische Rat, schnellstmöglich militärische Kapazitäten aufzubauen, die künftig sogar bis zu 19 gleichzeitige Einsätze ermöglichen sollen, darunter je zwei intensive Kampfoperationen und zwei sogenannte Stabilisierungsmissionen, worunter Besatzungseinsätze wie in Afghanistan zu verstehen sind.

Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene EU-Vertrag von Lissabon liefert dafür den Rechtsrahmen. Dort ist auch die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) primärrechtlich verankert, als einzige der diversen EU-Agenturen. 2004 installiert, soll sie die »Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie« unterstützen und »zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors« beitragen. Sie ist, was ihr ursprünglicher Name war: eine Rüstungsagentur. Ihr geht es vor allem um die Herausbildung eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes.

Trotz massiver Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Militärausgaben der EU nur unwesentlich gesunken, von 289 Milliarden Dollar 2008 auf 281 Milliarden Dollar im Vorjahr. Das sind noch immer zehn Prozent mehr als Anfang des Jahrtausends. Wobei auch in der Europäischen Union immer mehr Rüstungsposten hinter anderen Haushaltstiteln versteckt werden.

Zum Vergleich: In die Entwicklungshilfe flossen im Jahr 2010 lediglich 54 Milliarden Euro. Die meisten EU-Mitgliedstaaten sind meilenweit von der Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen entfernt. Dagegen haben sich europäische Waffenschmieden, allen voran deutsche Rüstungskonzerne, in den vergangenen Jahren auch an der Militarisierung der EU eine goldene Nase verdient. Allein zwischen 2003 und 2009 stiegen ihre Profite laut einer Studie aus dem Vorjahr um 49 Prozent auf insgesamt 93 Milliarden Euro.

neues deutschland, 13. Oktober 2012


Keine überzeugende Wahl

Von Tom Strohschneider

Ja, auch die EU hat nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Periode des Friedens in Europa beigetragen. Trotzdem vermag die Osloer Entscheidung nicht zu überzeugen: Für ihre aktuelle Politik hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis nicht verdient

Es ist vielleicht nicht die allergrößte Überraschung; eine Entscheidung, die berechtigte Diskussionen auslösen wird, ist es in jedem Fall: Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an die Europäische Union. In seiner Begründung verweist das Osloer Komitee auf den Beitrag der EU, die seit mehr als sechs Jahrzehnten zu Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten auf dem Kontinent beigetragen hätte.

Daran ist eines richtig: Auch der Prozess der europäischen Einigung hat dazu beigetragen, dass nach einer historischen Periode mörderischer Kriege lange Zeit die Waffen in Europa schwiegen. Selbst unter den konfliktreichen Bedingungen der Jahre der Systemkonkurrenz blieb der Kontinent von neuen militärischen Konflikten zwischen den beiden politischen Blöcken verschont. Das freilich wäre im Rückblick nicht nur als eine Leistung der EU zu würdigen. Und es kann auch nicht vergessen werden, dass es seit Ende der 1990er Jahre einen Krieg in Jugoslawien gab, der nicht zuletzt von EU-Mitgliedsstaaten geschürt wurde. Doch ausgerechnet die "Befriedung des Balkans" wird in der Begründung der Preisvergabe genannt.

Vor allem aber vermag die Osloer Entscheidung nicht zu überzeugen, wenn man das Augenmerk auf die gegenwärtige Europäische Union, ihre Politik und die ihrer Mitgliedsstaaten richtet. Weder hat sich die schon lange formulierte Kritik an der Militarisierung der EU-Außenpolitik erübrigt, noch ist die Rolle europäischer Staaten im weltweiten Rüstungswettlauf zu übersehen: Unter den zehn führenden Todesexporteuren sind mehrheitlich EU-Länder; wo immer weltweit Konflikte durch die Maschinerie der Waffenproduzenten genährt werden, ist Europa mit dabei.

Mehr noch: Die EU ist verantwortlich für die Durchsetzung eines Grenzregimes zur Abwehr von Flüchtlingen, das in den vergangenen Jahren an seinen Außengrenzen Hunderte, wenn nicht Tausende Opfer gefordert hat. Die Liste der Kritik an der Gemeinschaft ließe sich auf dem Feld der Handelspolitik fortsetzen. Was jetzt als friedensstiftender Beitrag der EU belobigt wird, stand in vielen Fällen unter dem Druck ökonomischer und hegemonialer Interessen.

Wer außerdem noch Fragen der sozialen Sicherheit, des solidarischen Ausgleichs und der ökologischen Wohlfahrt als Elemente, wenigstens als Voraussetzung für Frieden verstehen will, wird überdies mit Blick auf die von Deutschland dominierte Krisenpolitik der EU nicht von einem förderlichen Beitrag sprechen wollen. Die EU will in ihren Mitgliedsstaaten zudem die Vorratsdatenspeicherung verankern, sie verfolgt eine Politik, welche demokratische Rechte in den einzelnen Staaten aushöhlt und die Gefahr neuer sozialer Spaltungen befördert – mit allen denkbaren, ganz unfriedlichen Konsequenzen.

Offenbar hatte das Osloer Komitee nicht den Mut, sich statt für eine Institution des Oben für die Menschen da unten zu entscheiden – für die vielen Europäer, die in Athen, Madrid, Paris und anderswo für ein solidarisches Miteinander, für ein wirklich friedliches Europa demonstrieren. Das hätte dann vielleicht sogar jene Ermutigung sein können, von der nun so oft die Rede ist.

Nein, dieser Friedensnobelpreis ist keine gute Wahl. So hoch man die historischen Verdienste einschätzen mag - und eine mehr als 60 Jahre währende Periode des Friedens hatte es in Europa zuvor nur selten gegeben - so wenig darf aus dem Blick geraten, wofür die EU heute steht. Übrigens: Eine Verleihung, welche sich vorrangig auf die Vergangenheit bezieht, widerspricht dem Testament des Preisstifters genauso wie Vorratsvergaben wie im Falle des US-Präsidenten Barack Obama 2009. Alfred Nobel wollte, dass derjenige ausgezeichnet wird, der im jeweils vorherigen Jahr am meisten für den Frieden getan habe. Die EU war das mit Sicherheit nicht.

neues deutschland, 13. Oktober 2012 (Kommentar)


Nobelpreis für Oberst Klein

Teilnahme von EU-Mitgliedsstaaten an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, Militarisierung der Außenpolitik und Pflicht zur Aufrüstung laut EU-Vertrag – das norwegische Nobelpreiskomitee ist der Auffassung, das müsse mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden und sprach ihn am Freitag der Europäischen Union zu. Das vom damaligen deutschen Oberst und zukünftigen General Georg Klein 2009 im Afghanistan-Krieg befohlene Bombardement, bei dem etwa 140 Einheimische ums Leben kamen, hat damit endlich eine angemessene Würdigung gefunden. Denn in seiner Begründung formuliert das Osloer Komitee: »Die EU und ihre Vorgänger tragen seit mehr als sechs Jahrzehnten zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa bei.« Wer vor solchem Hintergrund Krieg in und gegen Staaten außerhalb Europas führt, muß geehrt werden.

Das sehen auch die Repräsentanten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten so. Sie feierten sich am Freitag ausgiebig selbst, und die Nachrichtenagentur dapd meldete: »Quer durch Europa wurde die Auszeichnung begrüßt.« Der Satz ignoriert kritische Stimmen ebenso souverän wie das Nobelpreiskomitee die eigenen Richtlinien, die im Testament von Alfred Nobel festgelegt sind. Danach soll der Preis an jenen gehen, »der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt« hat.

Allein nach dem EU-Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2007 ist aber jedes Mitgliedsland verpflichtet, »seine Verteidigungsfähigkeiten durch Ausbau seiner nationalen Beiträge und gegebenenfalls durch Beteiligung an multinationalen Streitkräften, an den wichtigsten europäischen Ausrüstungsprogrammen und an der Tätigkeit der Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) intensiver zu entwickeln.«

Auf diesen Zusammenhang wiesen mehrere Politiker der deutschen Linkspartei hin, die sich am Freitag zu der Preiszuerkennung äußerten. Der europapolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke, ­Diether Dehm erklärte, er habe mit großer Freude, Genugtuung und Zuversicht die Nachricht aufgenommen, daß die EU für die völkerrechtswidrigen Kriegseinsätze von Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien und Libyen und für den Militarismus, die Battlegroups und den Lissabon-Vertrag den Friedensnobelpreis bekommen hat.« Das Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses, die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, kommentierte: »Ganz nach dem Motto ›Krieg ist Frieden‹ des Romans ›1984‹ trägt die Preisverleihung Orwellsche Züge.« Sie fügte hinzu: »Statt Whistleblower wie Bradley Manning und Julian Assange stellvertretend für Tausende Menschen, die unerschrocken für den Frieden eintreten und dafür verfolgt werden, auszuzeichnen, setzt das Nobelpreiskomitee die Tendenz fort, seinen Friedenspreis an Protagonisten der vorherrschenden und mit Krieg durchsetzten Weltordnung zu verleihen.« Die abrüstungspolitische Sprecherin der linken Bundestagsfraktion Inge Höger formulierte: »Nach dem Friedensnobelpreis für Obama, der sein Land immer tiefer in den Krieg gegen Afghanistan und den Drohnenkrieg gegen Pakistan gezerrt hat, erscheint die Verleihung des Friedenspreises in einem Orwellschen Sinne beinahe konsequent.« Als nächste Steigerung bliebe nur noch der Nobelpreis für die NATO.

junge Welt, 13. Oktober 2012


Herrenwitze

Entscheidung über Nobelpreisverleihung

Von Werner Pirker


Daß der Europäischen Union in der größten Krise ihrer Geschichte der Friedensnobelpreis verliehen wurde, könnte man auch als einen Akt der Barmherzigkeit bezeichnen. Es muß tatsächlich sehr schlecht um sie bestellt sein, daß man ihr einen Trostpreis zukommen ließ. Wie schlecht muß es aber erst um den Frieden bestellt sein, wenn von der EU mitgeführte imperialistische Weltordnungskriege als Friedensengagement gewürdigt werden.

Das Nobelpreiskomitee in Oslo hatte sich offenbar bemüßigt gefühlt, den ramponierten Ruf des Staatenbundes wieder etwas aufzupolieren. Wenn schon der Euro als gemeinsame Währung für Länder mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft versagt, wenn schon Kerneuropa und EU-Peripherie immer weiter auseinanderdriften, wenn schon die Bevölkerungen in allen Mitgliedsländern Brüssel zunehmend als Steuerungszentrale des Sozial- und Demokratieabbaus wahrnehmen, wenn schon die deutsche Dominanz über Europa als immer drückender empfunden wird, dann soll wenigstens am Gründungsmythos festgehalten werden, daß die europäische Integration ein Friedensprojekt sei.

Entsprechend lautet auch die Erklärung des Osloer Komitees. Die EU, heißt es, habe über sechs Jahrzehnte entscheidend zur friedlichen Entwicklung in Europa beigetragen. Tatsächlich sind die europäischen Hauptmächte einander seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr an die Gurgel gegangen und werden das voraussichtlich auch nicht mehr tun. In der Zeit des Kalten Krieges hat Westeuropa unter US-amerikanischer Führung eine gemeinsame Front gegen das sozialistische Lager gebildet. Nach seinem Sieg in der Systemkonfrontation ging der Westen daran, seine Vorherrschaft über die in Unterentwicklung gehaltene Peripherie unumkehrbar zu machen. Das »Friedensprojekt« wurde also von Beginn an von aggressiven Absichten bestimmt.

Es waren Flugzeuge des westlichen Kriegsbündnisses, die 1999 die ersten Bomben über Europa seit 1945 abwarfen, um Jugoslawiens Widerstand gegen das neoliberale Globalisierungsdiktat zu brechen. Das Nobelpreiskomitee hat das keineswegs unberücksichtigt gelassen. In seiner Begründung wird die gewaltsame »Befriedung des Balkans« als besondere Friedensleistung hervorgehoben.

Im Vertrag von Lissabon sehen sich die Mitgliedsländer zur militärischen Aufrüstung verpflichtet. EU-weit werden die Wehrpflichtarmeen zu Berufsheeren transformiert und für »Out of area«-Einsätze fit gemacht. Der EU werden von den Preisverleihern aber nicht nur Verdienste um den Frieden, sondern auch um die Demokratie angedichtet, was angesichts des realen Demokratieverfalls im Zeichen der Brüsseler Austeritätspolitik eine fast schon satirisch anmutende Verzerrung der Wirklichkeit darstellt. Wenn dann in der Begründung auch noch die Troika-Herrschaft als »Förderung der demokratischen Entwicklungen in südeuropäischen Ländern« gewürdigt wird, meint man geradezu in eine Runde von Herrenwitzerzählern geraten zu sein.

junge Welt, 13. Oktober 2012 (Kommentar)

Lesen Sie auch:

Friedensnobelpreis 2012: Obama noch getoppt
Ein Essay von Peter Strutynski (19. Oktober 2012)





Zurück zur Seite "Friedenspreise und andere Auszeichnungen"

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage