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Lob für Bündnistreue

Hintergrund. Nur dem Namen nach steht der heute in Oslo verliehene Nobelpreis für den Frieden. Schon seit längerem dient er zur ideologischen Absicherung der westlichen Vorherrschaft

Von Mario Tal *

Seien Sie beruhigt, wir haben unseren Mann im Nobelkomitee, der Nobelpreis wird an Pasternak verliehen.« Das soll ein Kontaktmann der CIA laut einem entschlüsselten Interview einem Offizier des niederländischen Geheimdienstes anvertraut haben. Der Quellenlage nach war der Preisverleihung von 1958 ein spektakulärer Coup vorausgegangen: 1956 muß ein Flugzeug auf dem Weg von Mailand nach Rom in Malta zwischenlanden, der britische Geheimdienst MI6 entwendet im Auftrag der CIA einen Koffer mit einem handschriftlichen Manuskript Pasternaks. So kann »Doktor Schiwago« in einem Exilverlag in der russischen Originalsprache erscheinen – eine Voraussetzung für die Verleihung des Literaturnobelpreises. Das recherchierte der russische Journalist Iwan Tolstoi, nachdem die Archive 50 Jahre später geöffnet worden waren. Tolstoi in einem Spiegel-Interview vom 9. Februar 2013: »US-Agenten haben ausländischen Kollegen erzählt, daß ›ihr Mann‹ in Schweden zur Verleihung beigetragen habe.« Gemeint ist Dag Hammarskjöld, dessen »Wort als Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, die den Preis vergibt, hatte großes Gewicht. Die Amerikaner haben Hammars­kjöld 1957 bei seiner Wiederwahl zum UN-Generalsekretär sehr geholfen. Hammarskjöld war befreundet mit US-Außenminister John Foster Dulles, dessen Bruder Allen Chef der CIA war. Hammarskjöld dürfte gewußt haben, was die Amerikaner im Fall Pasternak vorhatten.«

Eines solchen Husarenstreichs bedarf es heute nicht mehr. Denn »sie« haben heute wie selbstverständlich »ihre« Leute im Nobelkomitee. Ohne Umschweife verleiht dieses den Friedensnobelpreis an »ihre« Posten und Institutionen, wie an US-Präsident Obama (2009) oder die EU (2012). Nur vordergründig hebt sich davon die diesjährige Preisverleihung an die »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« (OPCW) ab. Denn wenn heute deren Generaldirektor, der frühere türkische Botschafter in Israel (1999–2002) und ständige Vertreter der Türkei bei der NATO (2002–2004), Ahmet Üzümcü, den Preis feierlich entgegennimmt, sollte kein Zweifel bestehen: Der Mann ist einer von ihnen.

Wem der diesjährige Nobelpreis nutzt, dazu findet sich die Antwort schon in der grundsätzlichen Ausrichtung des Nobelkomitees. Die Hintergründe offenbaren: Der weltweit wohl renommierteste Preis dient bereits seit längerem dazu, die westliche Vorherrschaft ideologisch abzusichern.

Europäische Interessenpolitik

Zur Veranschaulichung eine Anekdote: 1936 wurden Adolf Hitler und Benito Mussolini für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, und zwar von der Stiftung Fedrelandslaget, einer bürgerlichen Organisation, die 1925 zur Abwehr sozialistischer Einflüsse gegründet worden war. Zu den Stiftern gehörten der frühere norwegische Premierminister Christian Michelsen sowie der Polarforscher, Diplomat und Friedensnobelpreisträger von 1922, Fridtjof Nansen. Zu verantworten hatte den profaschistischen Vorschlag ein gewisser Anders Lange als damaliger Fedrelandslaget-Sekretär. Der wiederum gründete 1973 die »Anders-Lange-Partei«, die nach seinem Tod im Jahr darauf in »Fremskrittspartiet« (FrP) umbenannt wurde. Hierzulande bekannt als Fortschrittspartei erhielt diese 2013 bei den norwegischen Parlamentswahlen für stramm rechte, rassistische und offen neoliberalen Positionen 16,3 Prozent der Wählerstimmen (2009: 22,9 Prozent). Anfang Oktober wurde von der Süddeutschen Zeitung gemeldet: »Rechtspopulisten im Boot. Konservative in Norwegen bilden eine Regierung mit der Fortschrittspartei.« Der Clou des kleinen Schwenks: Die Fortschrittspartei stellt seit dem Jahr 2000 mit Inger-Marie Ytterhorn eines von fünf Mitgliedern des norwegischen Nobelkomitees, das über die Vergabe des Friedensnobelpreises entscheidet.

Die Personalie mag bezeichnend sein. Strategisch entscheidender aber ist die des Komiteevorsitzenden Thorbjørn Jagland. Zuvor bekleidete dieser während seiner Zeit als Vorsitzender der sozialdemokratischen »Arbeiderpartiet« das Amt des norwegischen Ministerpräsidenten (1996/97) und das des Außenministers (2000/01). In der jeweils kurzen Dauer wurde ihm mangelnde Fortune nachgesagt, mitunter auch rassistische Tölpelei. Im Februar 2001 nannte er Omar Bongo, den damaligen Präsidenten von Gabun, anläßlich dessen Staatsbesuches »Bongo aus Kongo«. Die UN-Konferenz gegen Rassismus von 2001 im südafrikanischen Durban – die USA und Israel hatten sich von dieser zurückgezogen – bezeichnete er als »ein Festival der Kritik an westlichen Werten«. Als späterer Parlamentspräsident (2005–2009) machte sich Jagland für die Aufstockung der norwegischen Soldatenkontingente für Afghanistan stark. »Wenn die NATO sie anfordert, sollte Norwegen seinen Beitrag leisten«, erklärte er der Aftenposten. Das qualifiziert für höhere Aufgaben: Seit 2009 ist er zugleich Generalsekretär des Europarates und Vorsitzender des Nobelkomitees. Letzteres dominiert er offenbar regelrecht. Das zeigte sich schon bei Jaglands Einstand. Infolge einer Indiskretion wurde bekannt, daß die Entscheidung für Obama erst nach heftigem Streit zustande gekommen war. Der norwegischen Tageszeitung Verdens Gang zufolge hatten sich Jagland und dessen Parteikollegin Sissel Ronnebeck erst nach längerer Diskussion gegen die anderen drei Juroren durchgesetzt. Und zum Entscheid von 2012 wurde laut Schweizer Tagesanzeiger vom 13. Oktober 2012 bekannt: »Die gestrige Bekanntgabe wurde (…) von unschönen Vorkommnissen begleitet, die die Debatte und Proteste in Norwegen weiter anheizten: So soll die einzige klare EU-Gegnerin im Nobelkomitee an der entscheidenden Sitzung gefehlt haben.«

Dem Komitee gehören neben Jagland und Ytterhorn an: Ågot Valle von der Sozialistischen Linkspartei (SV), die derzeit von dem lutherischen Theologen Gunnar Stålsett vertreten wird; Berit Reiss-Andersen, unter der Regierung Jagland Staatssekretärin im Justizministerium und Kaci Kullmann Five, ehemals Vorsitzende der Konservativen Partei (1991–1994) und Vorstandsmitglied der größten norwegischen Ölgesellschaft Statoil (2002–2007). Als Beraterin für Öffentlichkeitsarbeit und Public Affairs sitzt die Lobbyistin an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft. Womit sich unterstellen läßt: Der Friedensnobelpreis hat mit der Sorge um den Weltfrieden nicht viel mehr zu tun als jene »friedenssichernden Maßnahmen«, für die militärische Interventionen ausgegeben werden. In Fives Amtszeit im Nobelkomitee (seit 2003) fällt jedenfalls auch die Preisverleihung an Martti Ahtisaari (2008). Der finnische Diplomat hatte 2007 bereits die Man­fred-Wörner-Medaille des deutschen Verteidigungsministeriums erhalten, mit der sich eine Reihe von Bundeswehr-Generälen und Vertretern der NATO schmückt. Den Krieg gegen Jugoslawien hatte Ahtisaari als UN-Sondergesandter diplomatisch flankiert und anschließend den Plan zur völkerrechtswidrigen Abtrennung des Kosovo entworfen. Als Mitbegründer des Thinktanks »European Council on Foreign Relations« (ECFR) tritt er für eine entschlossenere europäische Außen- und Sicherheitspolitik ein. Wie »robust« diese ist, zeigen mindestens zwölf Kriege mit europäischer Truppenbeteiligung seit 1990.[1] Nicht ohne Grund heißt es im 2009 in Kraft getretenen EU-Vertrag von Lissabon: »Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.« Zum Nobelpreis an die EU erklärte Lea Heuser, Pressesprecherin des Vereins Aachener Friedenspreis: »Die Militarisierung der EU und ihre Abschottung gegenüber Flüchtlingen mit kriegerischen Mitteln ist alles andere als friedlich.«

Doch auch Demut vor der kolonialen Geschichte ist dem Nobelkomitee fremd. Vielmehr übt man sich selbst in neokolonialen Tugenden. Angesprochen auf den Fall Julia Timoschenko mahnte Jagland in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 21.Oktober 2012: »Wir erwarten (…), daß die Ukraine sich um Reformen bemüht und unsere Expertise in Anspruch nimmt. Wir haben bereits ein Reformprogramm ausgearbeitet, besonders für die Justiz.« Die westliche Expansionspolitik beschönigte er mit den Worten: »Nach dem Fall der Mauer wurden die osteuropäischen Staaten an Bord geholt, und jetzt geht der Versöhnungsprozeß auf dem Balkan weiter. Der Preis wurde für diesen historischen Prozeß in Europa verliehen.«

Ausnahmen von der Regel

Unbekannt ist, in welchem Ausmaß Thinktanks oder einschlägige Dienste unmittelbar Einfluß auf das Nobelkomitee nehmen. So wüßte man gerne, welche Rolle die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) spielt, die die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen berät. Als deren Mitarbeiter schlug Eckhard Lübkemeier die EU schon am 24. März 2007 in der Süddeutschen Zeitung mit dem Beitrag »Reif für den Friedensnobelpreis« für die Auszeichnung vor. Zu der Zeit hatte der heutige deutsche Botschafter in Irland als stellvertretender Leiter der Abteilung Europa im Bundeskanzleramt (2003–2006) bereits dort gewirkt, wo die Fäden zwischen Politik und Nachrichtendiensten zusammenlaufen. Auch für seine vorherige Tätigkeit als Referatsleiter im Auswärtigen Amt für Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (2000–2003) war er bestens geschult worden: Von 1991 bis 2000 hatte er die Abteilung Außenpolitikforschung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung geleitet. Beim politischen Hintergrund und beim Wirkungsbereich auf europäischer Ebene springen Parallelen zu Jagland ins Auge. Wann sich ihre Wege kreuzten, bliebe zu ermitteln. »Seien Sie beruhigt, wir haben unseren Mann im Nobelkomitee« – solch ein Satz hallt allemal nach. Jedenfalls unterstrich Lübkemeier in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2012 noch einmal: »Wer, wenn nicht die Europäische Union, hat diesen Friedensnobelpreis verdient?«

Und wer hatte sich diesen nicht schon alles »verdient«?! Mit dem Preis sandten »ihre« Leute aus dem Nobelkomitee während des Kalten Krieges immer mal wieder Giftpfeile in Richtung Osten: Unter den Ausgezeichneten sind die ehemaligen US-Außenminister George C. Marshall (1953) und Henry Kissinger (1973), der sowjetische Dissident Andrej Sacharow (1975), Solidarnosz-Führer Lech Walesa (1983), der Dalai Lama (1989) und Michael Gorbatschow (1990). Doch als die internationalen Kräfteverhältnisse noch andere waren, gab es mitunter bemerkenswerte Entscheidungen wie die für Carl von Ossietzky (1936), Martin Luther King (1964), den argentinischen Menschenrechtler Adolfo Pérez Esquivel (1980), der 2012 für den »mutigen Informanten« Bradley Manning eintrat, oder für die guatemaltekische Menschenrechtsaktivistin Rigoberta Menchú. Indes spielt der Preis seit den Nuller Jahren zunehmend der Politik des Westens in die Hände. Neben den genannten finden sich Preisträger wie die Exiliranerin Schirin Ebadi (2003), der ehemalige US-Vizepräsident Albert Gore (2007), der ehemalige Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde Mohammed ElBaradei (2005) oder der chinesische »Dissident« Liu Xiaobo (2010).

Nicht viel anders verhält es sich mit dem Literaturnobelpreis, der mit solch schillernden Namen wie Pablo Neruda, Gabriel García Márquez, José Saramago oder Harold Pinter verbunden ist. Doch auch bei dieser Ehrung hat sich der Kurs geändert. Dafür spricht die Vergabe an den neoliberal gewendeten Mario Vargas Llosa (2010), mehr noch aber die Personalie Peter Englund: Seit 2009 Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, obliegt es ihm, den Namen des Literaturnobelpreisträgers zu verkünden. Als Englund 2008 in dieses Amt berufen wurde, schlug er Glückwünsche aus: Das sei »nichts, zu dem man mir gratulieren sollte. (…) Das ist eher wie die Wehrpflicht, wie ein Mobilisierungsbefehl.« Der Mann hat Stallgeruch: Irgendwann nach einer trotzkistischen Phase diente der einstige Soldat der Artillerie beim militärischen Geheimdienst. Und die Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2012 weiß zu berichten: »Immer wieder arbeitete er für schwedische Zeitungen als Kriegsberichterstatter, im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und zuletzt, im Jahr 2005, im Irak. Zu dieser Zeit war er längst Mitglied der Schwedischen Akademie.« Es ist davon auszugehen: Als Kriegsberichterstatter ist jemand wie Englund ebenso eingebettet wie als Mitglied der Schwedischen Akademie.

So wie der Nobelpreis einem ideologischen Flankenschutz aktueller westlicher Interessen dient, liegt man auch in finanzieller Hinsicht auf der Höhe der Zeit. Die Welt meldete am 6. Dezember 2012: »Die Nobelpreis-Stiftung (…) plant mehr Investments in Hedgefonds. Auf diese Weise sollen die Renditen (…) gesteigert werden.«

Bereit für Kriegseinsatz

Zurück zu Ahmet Üzümcü, der heute in Oslo für die OPCW den Friedensnobelpreis entgegennimmt. Bei der NATO war er nicht nur Ständiger Vertreter der Türkei. Für die Zeit von 1986 bis 1996 – zuvor war er zwei Jahre türkischer Generalkonsul im syrischen Aleppo – listet das Militärbündnis weitere Funktionen auf: Berater der türkischen Delegation (1986–1989), Internationaler Mitarbeiter (1989–1994) und Abteilungsleiter bei der NATO (1994–1996).

Weniger bündnistreu war der erste Vorsitzende der 1997 gegründeten OPCW, der brasilianische Diplomat José Maurício Bustani. Dieser wurde 2002 auf einem Sondertreffen in Den Haag abgesetzt – ein bis dahin einmaliger Vorgang in der Geschichte internationaler Organisationen. Orchestriert wurde die Amtsenthebung von dem Falken und späteren UN-Botschafter der USA, John Bolton. Der Hintergrund: Bustani wollte im Vorfeld des Krieges gegen den Irak mit dessen Führung verhandeln, um die OPCW die angeblichen Massenvernichtungswaffen kontrollieren zu lassen. Damit aber wäre die, wie man längst weiß, Kriegslüge der USA schon vor dem militärischen Angriff von 2003 in sich zusammengebrochen.

Heute steht die OPCW westlichen Kriegsplänen nur scheinbar entgegen. Zwar war das unerwartete Abkommen zur Vernichtung der Chemiewaffen in Syrien von September dieses Jahres angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Militärschlags ein Punktsieg vor allem für Rußland und Syrien selbst. Doch zu bedenken ist, was der Verleger und Publizist Hannes Hofbauer im Neuen Deutschland vom 18. September 2013 schreibt, »daß der – vorläufige – Verzicht der USA auf einen entscheidenden Militärschlag gegen Assad für (deren) Pläne nutzbringend sein kann. Radikale Islamisten an der Macht in Syrien sind zwar nicht die erste Wahl; wenn ihnen zuvor allerdings der Zugriff auf sämtliche Chemiewaffen entzogen wird und die USA selbst es sind, die über ihre Verbündeten die Qualität und Quantität ihrer zukünftigen Bewaffnung kontrollieren, dann sieht die Sache schon deutlich ungefährlicher aus. Ein Vorwand, um Assads Syrien nach seiner chemischen Entwaffnung zu bombardieren, wird sich allemal finden.«

Anfang September wurde bekannt, daß die OPCW ein Bundeswehr-Labor des Wehrwissenschaftlichen Instituts für Schutztechnologien im niedersächsischen Munster mit der Untersuchung von Giftgasproben beauftragt hatte. Dazu die Wochenzeitung Der Freitag vom 5. September 2013: »Ein Labor der Armee eines Staates, dessen Regierung sich in Syrien mit einmischt, dürfte tatsächlich nur schwer als unabhängig zu bezeichnen sein. Selbst die Bundeswehr ist in dem Konflikt aktiv. Aber wen interessiert das noch angesichts der Stimmungsmache mit Hilfe nicht bewiesener Behauptungen, die syrische Armee habe am 21. August Chemiewaffen eingesetzt.« Seit Mitte Oktober steht zudem ein Kurzvideo mit dem Titel »Chemiewaffentraining im Nebel. Bundeswehr bereitet OPCW-Inspekteure auf Einsatz vor« online.[2] Darin berichtet Franz Ontal, Leiter des OPCW-Inspektorentrainings, vom Lehrgang im fränkischen Wildflecken: »Dieses Training ist überaus wertvoll für uns. Wir lernen hier von den Erfahrungen, die in Konfliktgebieten im Kosovo, Irak oder Afghanistan gesammelt wurden.« Ende Oktober erwog die NATO eine Beteiligung an der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen.

Womöglich wollte das Nobelkomitee auch daran erinnern, daß vor rund 100 Jahren im Ersten Weltkrieg erstmals in großem Ausmaß Giftgas eingesetzt wurde – zirka 112000 Tonnen. Es gab mehr als 500000 Verletzte und 20000 Tote. Hinzuweisen wäre dann aber auch auf Chemiewaffeneinsätze in Kolonialkriegen. Angesichts arabischer Aufstände bekannte Winston Churchill 1920: »Ich verstehe die Zimperlichkeit bezüglich des Einsatzes von Gas nicht. Ich bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen.« Zuvor hatte er als Kriegsminister bekundet: Das verwendete Gas müsse ja nicht tödlich sein, sondern nur »große Schmerzen hervorrufen und einen umfassenden Terror verbreiten«. In diesem Sinne sind auch folgende Chemiewaffeneinsätze zu bewerten: 1924 von Spanien im Rifkrieg gegen den nordmarokkanischen Berberstamm der Rifkabylen; des faschistischen Italien im Krieg gegen Libyen (1924–30) und Äthiopien (1935/36); von Japan gegen chinesische Truppen und Zivilisten im Zweiten Weltkrieg; der USA ab 1961 gegen Vietnam (»Agent Orange«).

Nur scheinbar paradox: Im Falle von Syrien spricht viel dafür, daß sowohl der Anschlag vom 21. August 2013 als auch das Abkommen über die Vernichtung der Chemiewaffen in kolonialer Tradition stehen: Zum einen erscheint es als wahrscheinlich, daß vom Westen bzw. von Saudi-Arabien unterstützte Fußtruppen für den Anschlag verantwortlich waren – die unbewiesene Schuldzuschreibung an die syrische Armee wirkt auch durch ihre ständige Wiederholung nicht glaubwürdiger. Zum anderen spielt die einseitige Abrüstung jenen in die Hände, die sich das Land gefügig machen wollen. Aus der Geschichte des Kolonialismus wären indes andere Schlüsse zu ziehen, so die Forderung nach einer massenvernichtungsfreien Zone mindestens für den gesamten Nahen Osten. Doch während 190 Staaten einschließlich Syrien der OPCW angehören, hat Israel die internationale Chemiewaffenkonvention bislang nicht ratifiziert.

Nicht mehr »ihr« Mann

Zurück zu Dag Hammarskjöld, dem ehemaligen Nobelkomiteevorsitzenden, der einst »ihr« Mann war. Doch das blieb er nicht. In einem WDR-Bericht vom 18. September 2011 hieß es: »Als der mit den Sowjets sympathisierende (kongolesische) Ministerpräsident Patrice Lumumba im Januar 1961 ermordet wird, gerät der UN-Generalsekretär als resoluter Kritiker der westlichen Staaten und Industrieinteressen von allen Seiten unter Druck.« Meyers Taschenlexikon hält fest: »Hammarskjöld (…) versuchte, (…) die UN zu einer treibenden Kraft im Prozeß der Entkolonialisation zu machen. Friedensnobelpreis 1961 (postum).« Umgekommen war er im selben Jahr unter bis heute ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz. Der britische Guardian titelte am 17. August 2011, 50 Jahre später: »Indizien legen nahe: Das Flugzeug des UN-Chefs wurde abgeschossen.« Dafür sprechen, nach Informanten der BBC vom 19. August 1998, nicht nur Augenzeugenberichte: 1998 veröffentlichte die südafrikanische Wahrheitskommission bis dahin geheime Dokumente, die nahelegen, daß Hammarskjöld bei seinen Vermittlungstätigkeiten im rohstoffreichen Kongo Opfer eines Komplotts von britischen, südafrikanischen und US-Geheimdiensten wurde.

Nicht abzusehen ist, ob künftig jemand vom Rang eines Hammarskjöld den Mut aufbringen wird, nicht mehr »ihr Mann« zu sein, den Mut, auszuscheren mit einer antikolonialen Haltung in neokolonialen Zeiten. Doch mehr noch als persönliche Courage verlangt das eine grundlegende Änderung der internationalen Kräfteverhältnisse. Erst dann besteht die reale Chance, daß der Friedensnobelpreis nicht länger von jenen Kräften gekapert bleibt, deren Sache es auch ist, Krieg zu führen.

Anmerkungen
  1. Zweiter Golfkrieg (1990/91), Dschibutischer Bürgerkrieg (1991–94), Bürgerkrieg in Sierra Leone (1991–2002), Algerischer Bürgerkrieg (1991–2002), sogenannte Bosnien-Krieg (1992–95), Lotterieaufstand in Albanien (1997), Kosovo-Krieg (1998/99), Afghanistan-Krieg (seit 2001), Irak-Krieg (2003), Somalia-Krieg (2006–2009), Bürger-Krieg in der Elfenbeinküste (2010/11) und der Libyen-Krieg (2011).
  2. Vergleich online: kurzlink.de/Chemiewaffentraining
* Mario Tal ist in der Erwachsenenbildung tätig. Von ihm wurde zuletzt herausgegeben: Mario Tal (Hg.): Umgangssprachlich: Krieg. Testfall Afghanistan und deutsche Politik. PapyRossa Verlag, Köln 2010, 200 Seiten, 14,90 Euro.

Aus: junge Welt, Dienstag, 10. Dezember 2013



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