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Pablo Neruda bleibt

Chemnitzer Grundschule behält den Namen des chilenischen Nobelpreisträgers

Von Susan Bonath *

Der breite Widerstand gegen eine Umbenennung der Pablo-Neruda-Grundschule in Chemnitz hat offenbar im Rathaus der sächsischen Metropole für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Namenspatron der Bildungseinrichtung gesorgt. Der Antrag fiel am Mittwoch mit deutlicher Mehrheit durch. 37 Stadträte sowie Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) stimmten dagegen, sechs enthielten sich der Stimme. Lediglich neun Stadträte votierten für die Umbenennung. Zuvor war das Begehren bereits im zuständigen Ausschuß durchgefallen. Damit ist nach 2002 und 2003 der dritte Versuch einer Namensänderung gescheitert.

Schulleiterin Martina Schwermer hatte auf Beschluß der zwölfköpfigen Schulkonferenz beantragt, die Schule in »Grundschule Kaßberg« umzubenennen. Ihrer Ansicht nach hätten die Erst- bis Viertklässler keinen altersgemäßen Bezug zu dem chilenischen Dichter (1904 – 1973), da seine Texte hauptsächlich für erwachsene Leser bestimmt seien. Der Name »Kaßberg« beziehe sich hingegen auf das Wohngebiet und könne besser in Lerninhalte eingebunden werden. Damit war sie auf breites Unverständnis gestoßen. Die SPD fand die Argumente »an den Haaren herbeigezogen«. Die Linksfraktion vermutete, man wolle damit »weitere Spuren einer unliebsamen Geschichtsepoche tilgen«. Ablehnend hatten auch die Grünen reagiert.

Für große Aufmerksamkeit hatte das Ansinnen auch außerhalb von Sachsens Landesgrenzen gesorgt. So hatten sich Chemnitzer Künstler mit einem offenen Brief an den Stadtrat gewandt. Darin hieß es, die Benennung einer Schule »nach einem der bedeutendsten Dichter dieser Erde« würdige nicht nur den Künstler. Sie sende »auch einen Reiz aus an die, welche täglich in die Schule hinein oder an ihr vorbeigehen«. Ihrem Protest hatten sich 532 Unterstützer aus Deutschland, Chile, Uruguay, Peru, Italien, Spanien, Frankreich, Dänemark, Schweden, Österreich, Großbritannien, den USA, der Niederlande und aus der Schweiz angeschlossen, wie aus der Unterschriftenliste hervorgeht. Der Chemnitzer Verein für spanische Sprache und Kultur »amistad« hatte vor allem kritisiert, daß man mit einer Umbenennung »einen Teil des deutsch-chilenischen Erbes« zu Grabe trüge. Denn nach dem Militärputsch im Jahr 1973 fanden viele Chilenen im damaligen Karl-Marx-Stadt eine neue Heimat. Am Dienstag hatte auch das uruguayische Kultur­institut »Casa Bertold Brecht« den Chemnitzer Stadträten geschrieben und an sie appelliert, die »sichtbaren Zeichen der Verbundenheit zwischen unseren Völkern und Nationen« zu erhalten. Neruda sei nicht nur Lyriker gewesen, sondern auch »ein Pädagoge und unerschrockener Parlamentarier im Einsatz für die Befreiung Südamerikas«.

Die ehemalige Mittelschule und heutige Grundschule wurde 1973 nach Neruda benannt. Als feststand, daß dies vorerst auch so bleibt, ging die Chemnitzer Linksfraktion in die Offensive. Stadtrat Hans-Joachim Siegel forderte die Direktorin und das Lehrerkollegium auf, das langjährige pädagogische Leitmotiv der Schule »Einander begegnen – einander verstehen« »endlich wieder umzusetzen«. In der jüngsten Vergangenheit habe sie mehrfach entsprechende Angebote von Eltern ausgeschlagen. Die Lehrer hätten sich selbst »kaum mit dem Dichter bekanntgemacht«, bemängelte Siegel. Der Grundschule übergab er ein Kinderbuch aus Nerudas Feder sowie ein kindgerechtes Spiel mit dessen »100 Fragen an das Leben«. Auch der Verein »amistad« bot seine Unterstützung für künftige Schulprojekte an. Selbst die Regionalredaktion der Bild ließ am Donnerstag Sympathie für diesen Ansatz erkennen und fragte provokant: »Sind unsere Schüler zu doof für Pablo Neruda?«

* Aus: junge Welt, Freitag, 27. April 2012

Unvergessener Neruda

Am Mittwoch abend hat der Stadtrat von Chemnitz über die Umbenennung der Pablo-Neruda-Grundschule entschieden. Zuvor hatte sich auch das Bertolt-Brecht-Haus in Montevideo (Uruguay) in einem Brief an die Chemnitzer Oberbürgermeisterin und die Stadträte für die Beibehaltung des Namens ausgesprochen. Es folgt der Brief im Wortlaut:

Wir bitten Sie eindringlich, dafür zu sorgen, daß die Pablo-Neruda-Grundschule in Ihrer Stadt weiterhin den Namen des chilenischen Dichters trägt.

Seit fast 50 Jahren widmen wir uns als eine Einrichtung uruguayischer Bürger dem Kulturaustausch mit Deutschland. So wissen wir um die große Bedeutung, die kulturelle »Wegzeichen« im Alltag der Menschen spielen können; wir sind sicher, daß der Name der Chemnitzer Schule vielen Bürgern Anlaß gab und gibt, sich mit diesem Dichter von Weltruhm und seinem Werk zu befassen. Warum wollen Sie das ändern?

In unserer Stadt Montevideo gibt es (wie fast überall in Südamerika) Straßen und Plätze sowie Einrichtungen (Kulturzentren, eine Musikschule und einen Kindergarten), die nach verdienstvollen Deutschen benannt sind. Niemand in diesem Land käme auf die Idee, derlei Errungenschaften abschaffen wollen, im Gegenteil: Wir erleben sie als sichtbare Zeichen der Verbundenheit zwischen unseren Völkern und Nationen.

Pablo Neruda war nicht nur ein Lyriker und Literaturnobelpreisträger. Er war Pädagoge und ein unerschrockener Parlamentarier im Einsatz für die Befreiung Südamerikas. Auch fast 40 Jahre nach seinem Tod ist er mit seinem Werk eine wichtige Stimme des Subkontinents und seiner Bewohner.

Offen gesagt: Es fehlen uns die Worte und die Argumente, um den Bürgern unseres lateinamerikanischen Landes plausibel zu machen, warum im Jahre 2012 in einer deutschen Großstadt, die sich »Stadt der Moderne« nennt, eine Namensgebung rückgängig gemacht werden soll, die so beispielgebend die kulturellen und humanitären Verbindungen zwischen Europa und Lateinamerika kennzeichnet: Bis heute unvergessen ist Nerudas persönlicher Einsatz in Chile und den benachbarten Ländern um die Würdigung der deutschen Schriftsteller, deren Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt worden sind, darunter Heine, Thomas Mann, Arnold Zweig, Brecht und andere.

Bitte setzen Sie bei den Menschen in Lateinamerika keine falschen Zeichen! Es wäre fatal, den Eindruck entstehen zu lassen, eine der wichtigsten Stimmen Lateinamerikas würde in Ihrer Stadt ohne jede Not zur Persona non grata erklärt.

Wir wünschen Ihnen für Ihre Entscheidung am kommenden Mittwoch eine glückliche Hand mit Blick auf die Werte des kulturellen Miteinanders: Bitte überzeugen Sie auch die Mitglieder der Schulkonferenz vom Auftrag des Bildungswesens in einer globalisierten Welt, zur Kenntnis fremder Kulturen, zum friedlichen und demokratischen Zusammenwirken der Menschen und zur Verständigung zwischen den Völkern beizutragen.

Des weiteren wünschen wir Ihnen, daß (sobald der Konflikt um die Rücknahme der Namensgebung glimpflich ausgestanden ist) nur noch erfreuliche Nachrichten der Anlaß sind, wenn die Welt nach Chemnitz blickt.

Walter Cortazzo (Presidente de la Comisión Directiva)
Elsa García (Secretaría)

Quelle: junge Welt, Donnerstag, 26. April 2012




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