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Weltethos und Weltpolitik

Zum neuen Paradigma internationaler Beziehungen. Von Hans Küng

Am 9. März 2002 wurde dem bekannten Theologen Hans Küng der Göttinger Friedenspreis überreicht. Im Folgenden dokumentieren wir seine Dankesrede.

Daß Sie mich gerade mit einem Friedenspreis auszeichnen, ich gestehe es Ihnen ganz offen, meine Damen und Herren, bereitet mir eine ganz besondere Freude und Genugtuung. Wenn mich ungefähr mein ganzes Theologenleben nicht etwa das Attribut "friedlich", sondern "streitbar" verfolgt hat und ich dies immer nur als bestenfalls halbwahr angesehen habe, freut es mich, wenn ich nun als Mann des Friedens gepriesen werde.

Und so habe ich denn Grund, von ganzem Herzen für die Auszeichnung und die guten Worte zu danken, die ich erhalten habe und die mir auf dem weiteren Weg Mut geben:
  • Frau Carmen Barann von der Stiftung Dr. Roland Röhl,
  • der Vizepräsidentin der Universität Göttingen, Frau Prof. Dr. Hannelore Ehrenreich,
  • dem Oberbürgermeister der Stadt Göttingen Jürgen Danielowski,
  • dem Niedersächsischen Staatssekretär für Wissenschaft und Kultur Dr. Uwe Reinhardt,
  • und natürlich vor allem der Frau Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann für ihre Laudatio, von der ich mich voll verstanden fühle, sowohl in meiner Offenheit für die anderen Religionen wie in meinem Verwurzeltbleiben im Christentum. Sehr präzis und sympathisch hat sie umschrieben, um was es im Projekt Weltethos geht. Ganz herzlichen Dank!
Gegen das Wort "streitbar" habe ich übrigens nichts einzuwenden, solange es nicht gleichgesetzt wird mit "streitlustig" oder gar "streitsüchtig". Solange es positiv bedeutet, daß man den Willen und die Kraft besitzt, für etwas oder für jemanden zu streiten, sich einzusetzen, zu kämpfen. Ich habe es immer gehalten mit einem Wort eines amerikanischen Präsidenten, den ich persönlich kennenlernte und der anders als der jetzige sagte: "Konflikte nicht suchen, aber wenn sie einem aufgezwungen werden, sie gründlich besorgen": John F. Kennedy, der aus dem von anderen eingebrockten Fehler der Schweinebuchtinvasion lernte und dann in der Auseinandersetzung um die sowjetischen Raketenstationen in Kuba nicht zu einem Krieg gegen Terrorismus aufrief und eine Invasion Kubas anordnete; der sich freilich auch nicht einfach mit der Bedrohung abfand, sondern durch eine ebenso energische wie maßvolle Politik den Abzug der sowjetischen Raketen erzwang und sich in der Sowjetunion Respekt verschaffte. Heute aber sind wir wieder in der Gefahr, eine abenteuerliche Weltpolitik zu betreiben, die in erster Linie auf Gewalt und Militär setzt und die über Europa und die Welt so unendlich viel Elend gebracht hat. Das alles ist nach der Überzeugung vieler keine Weltpolitik mit Zukunft, sondern eine Weltpolitik mit Vergangenheit. Sie entstammt einem überholten Paradigma internationaler Beziehungen, dem ich hier einen ersten Gedankengang widmen möchte.

I. Das überholte Paradigma internationaler Beziehungen

Drei realsymbolische Daten, die - bei aller Fragwürdigkeit der Kalenderchronologie - das langsame und mühselig das Ende des alten und zugleich das sich durchsetzende neue Paradigma internationaler Beziehungen signalisieren: in Ankündigung (1918), Realisierung (1945) und schließlich Durchbruch (1989).

1918: Ende des Ersten Weltkriegs mit einer Bilanz von gegen 10 Millionen Toten. Kollaps des Deutschen Kaiserreiches, des Habsburgerreiches, des Zaren-reiches, des Osmanischen, zuvor schon des chinesischen Kaiserreiches. Jetzt die amerikanischen Truppen auf europäischem Boden und die Heraufkunft des Sowjetimperiums. Das ist der Anfang vom Ende des eurozentrisch-imperialistischen Paradigmas der Moderne und der Beginn eines noch nicht definierten, aber doch von den Weitsichtigen anvisierten neuen Paradigmas. Es wurde von den USA vorgeschlagen: Mit seinen "14 Punkten" skizzierte Präsident Woodrow Wilson (am 8.1.1918) sein Friedensprogramm: einen "Gerechtigkeitsfrieden" ohne Besiegte und die "Selbstbestimmung der Völker" ohne Annexionen und Reparationsforderungen. Aber das "Versailles" der Realpolitiker Clémenceau und Lloyd Georges hat die Realisierung des neuen Paradigmas verhindert: statt Gerechtigkeitsfrieden ein Diktatfrieden ohne die Beteiligung der Besiegten. Die Folgen (vom britischen Verhandlungsführer John Maynard Keynes, der demissionierte und später der führende Ökonom des Jahrhunderts wurde, hellsichtig prophezeit) sind bekannt: Faschismus und Nazismus (sekundiert in Fernost vom japanischen Militarismus) sind die katastrophalen reaktionären Fehlentwicklungen, die zwei Jahrzehnte später zum Zweiten Weltkrieg führen, der schlimmer ist als alles bisher in der Weltgeschichte Dagewesene.

1945: Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer Bilanz von gegen 50 Millionen Toten und weiterer Millionen Vertriebener. Nazismus und Faschismus erledigt, der Sowjetkommunismus nach außen stärker denn je, aber innerlich aufgrund der stalinistischen Politik politisch-wirtschaftlich-sozial bereits in der Krise. Wieder geht die Initiative für ein neues Paradigma von den USA aus: 1945 Gründung der Vereinten Nationen in San Francisco und das Bretton-Woods Abkommen zur Neuordnung der Weltwirtschaft, dann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, weiter die amerikanische Wirtschaftshilfe für den Aufbau Europas und dessen Einbezug in ein Freihandelssystem. Aber der Stalinismus hat dieses neue Paradigma für seinen Einflußbereich blockiert und zur Teilung der Welt in Ost und West geführt.

1989: Fall der Berliner Mauer - Symbol der Unmenschlichkeit, des Totalitarismus und Staatsterrorismus. Die erfolgreiche friedliche Revolution in Osteuropa und der Kollaps des Sowjetkommunismus. Nach dem Golfkrieg wieder ein amerikanischer Präsident, der ein neues Paradigma, "a New World Order", ankündigt und mit dieser Parole enthusiastische Aufnahme in der Welt findet. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wilson hatte Präsident George Bush sen. keine Ahnung, wie dieses "vision thing" aussehen sollte. Und insofern stellt sich nun die Frage: Haben wir im vergangenen Jahrzehnt die Chance eines neuen Paradigmas erneut verpaßt?

Nein, das ist meine Überzeugung nicht. Darf man doch im 20. Jahrhundert trotz der Kriege, Massaker und Flüchtlingsströme, trotz des Archipel Gulag, des Holocausts und der Atombombe manche Veränderungen zum Besseren nicht übersehen. Über die zahllosen grandiosen wissenschaftlich-technologischen Errungenschaften hinaus können sich die schon nach 1918 zu einer neuen nachmodernen Gesamtkonstellation drängenden Bewegungen nach 1945 durchsetzen: Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung, Ökumenebewegung: eine neue Einstellung zu Krieg und Abrüstung, zur Partnerschaft von Mann und Frau, zum Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, zu den christlichen Konfessionen und den Weltreligionen. Und nach 1989, nach dem Zusammenbruch der gewaltsamen Zweiteilung der Welt in West und Ost und der definitiven Entzauberung wie der evolutionären so jetzt auch der revolutionären Fortschrittsideologie zeichnen sich nun global konkrete Möglichkeiten einer befriedeten und kooperierenden Welt ab: anders als die europäische Moderne nicht mehr eurozentrisch, sondern polyzentrisch, bei allen ungeheuren Defiziten und Konflikten im Prinzip doch postimperialistisch und postkolonialistisch, mit den Idealen einer öko-sozialen Marktwirtschaft und wahrhaft vereinter Nationen.

Die in den letzten hundert Jahren herrschenden politischen Orientierungen des Imperialismus, Rassismus und Nationalismus haben abgewirtschaftet:
Während die afrikanische, asiatische und islamische Welt weiterhin von traditioneller nationaler Machtpolitik bestimmt ist, läßt sich in den westeuropäischen Ursprungsländern von Imperialismus, Nationalismus und Rassismus, welche die Großzahl der Kriege, besonders die beiden Weltkriege, verursacht haben, ein Paradigmenwechsel feststellen: weg von der mit den beiden Weltkriegen klar gescheiterten konfrontativen nationalen Macht- und Prestigepolitik, die unter Umständen mit militärischen Mitteln ausgetragen wird, hin zu einem neuartigen gemeinsamen Politikmodell regionaler Kooperation und Integration, welche jahrhundertelange Gegensätze friedlich zu überwinden vermochte. Das Resultat nicht nur in der EU, sondern im ganzen Bereich der OECD (Organization for Economic Cooperation and Development, 1948 bzw. 1960 gegründet), also der westlichen Industriestaaten (neben den Europäern vor allem die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan) ist ein halbes Jahrhundert des Demokratiefriedens. Wahrhaftig: ein gelungener Paradigmenwechsel!

So lassen Sie mich denn nach dieser notwendig sehr knappen historischen Tour d'horizon zu einer grundsätzlichen Bestimmung des neuen Paradigmas der internationalen Beziehungen kommen, die ich in Büchern wie "Projekt Weltethos" und "Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft" begründet habe. Viele Ideen, die ich da vertreten habe, sind eingegangen in das Manifest für die Vereinten Nationen "Brücken in die Zukunft" (Fischer Verlag, Frank-furt 2001). Mit Altbundespräsident Richard von Weizsäcker gehörte ich einer zwanzigköpfigen "Group of Eminent Persons" an, von Generalsekretär Kofi Annan berufen, um einen Bericht zum Dialog der Kulturen über ein neues Paradigma internationaler Beziehungen auszuarbeiten. Unser Manifest haben wir am 9. November 2001 dem General-sekretär und der UN-Vollversammlung vorgestellt unter dem Titel "Crossing the Divide", deutsch eben "Brücken in die Zukunft". Mit diesem persönlichen und sachlichen Hintergrund lassen Sie mich nun, meine Damen und Herren, im zweiten Teil das neue Paradigma internationaler Beziehungen knapp skizzieren.

II. Das neue Paradigma internationaler Beziehungen und seine ethischen Voraussetzungen

Aufgrund der Erfahrungen in EU und OECD läßt sich die neue politische Gesamtkonstellation wie folgt in knappen Zügen skizzieren, wobei ethische Kategorien kaum vermeidbar sind. Das neue Paradigma besagt grundsätzlich: statt der neuzeitlichen nationalen Interessen-, Macht- und Prestigepolitik (wie noch in Versailles) eine Politik regionaler Verständigung, Annäherung und Versöhnung. Von Frankreich und Deutschland ist dies exemplarisch vorgemacht worden. Dies erfordert im konkreten politischen Handeln - auch in Nahost, Afghanistan und Kaschmir - statt der früheren Konfrontation, Aggression und Revanche wechselseitige Kooperation, Kompromiß und Integra-tion.

Diese neue politische Gesamtkonstellation setzt offenkundig eine Mentalitätsveränderung voraus, die weit über die Tagespolitik hinausgeht:
  • Neue Organisationen reichen dafür nicht aus, es braucht eine neue Denkart ("mind-set").
  • Nationale, ethnische, religiöse Verschiedenheit darf nicht mehr grundsätzlich als Bedrohung verstanden werden, sondern als zumindest mögliche Bereicherung.
  • Während das alte Paradigma immer einen Feind, gar Erbfeind voraussetzte, braucht das neue Paradigma keinen Feind mehr, wohl aber Partner, Konkurrenten und oft auch Opponenten. Statt militärischer Konfrontation gilt auf allen Ebenen wirtschaftlicher Wettbewerb.
  • Denn es hat sich gezeigt, daß die nationale Wohlfahrt auf die Dauer nicht durch Krieg, sondern nur durch Frieden befördert wird, nicht im Gegen- oder Nebeneinander, sondern im Miteinander.
  • Und weil die nun einmal bestehenden verschiedenen Interessen im Miteinander befriedigt werden, ist eine Politik möglich, die nicht mehr ein Null-Summen-Spiel ist, bei welcher der eine auf Kosten des anderen gewinnt, sondern ein Positiv-Summen-Spiel, bei dem alle gewinnen.
Natürlich ist Politik im neuen Paradigma nicht einfach leichter geworden, sondern bleibt - die jetzt freilich gewaltfreie - "Kunst des Möglichen". Wenn sie funktionieren soll, kann sie sich nicht gründen auf einen "postmodernistischen" Beliebigkeitspluralismus. Vielmehr setzt sie einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich bestimmter Grundwerte, Grundrechte und Grundpflichten voraus. Dieser gesellschaftliche Grundkonsens muß von allen gesellschaftlichen Gruppen mitgetragen werden, von Glaubenden wie Nichtglaubenden, von den Angehörigen der verschiedenen Religionen wie Philosophien oder Ideologien.

Mit anderen Worten: Dieser gesellschaftliche Konsens, den ein demokratisches System nicht erzwingen darf, sondern voraussetzen muß, meint kein gemeinsames ethisches System ("Ethik", "ethics"), wohl einen gemeinsamen Grundbestand an Werten und Maßstäben, Rechten und Pflichten, ein gemeinsames Ethos ("ethic"): ein Menschheitsethos also. Ein Weltethos ("global ethic"), das nicht eine neue Ideologie oder "Superstruktur" ist, sondern die gemeinsamen religiös-philosophischen Ressourcen der Menschheit bündelt, die nicht gesetzlich auferlegt, sondern bewußt gemacht werden sollen. Weltethos ist gleichzeitig "personenorientiert, institutionenorientiert und resultatorientiert" (A. Riklin).

Insofern zielt das Weltethos nicht nur auf eine das Individuum möglicherweise entlastende Kollektivverantwortung (als ob an bestimmten Mißständen nur "die Verhältnisse", die "Geschichte", "das System" Schuld seien). Es zielt in besonderer Weise auf die individuelle Ver-antwortung eines jeden einzelnen an seinem Platz in der Gesellschaft und ganz besonders auf die individuelle Verantwortung der politischen Führer. Die freie Verpflichtung auf ein gemeinsames Ethos schließt selbstverständlich nicht aus, sondern ein, daß sie vom Recht unterstützt wird und unter Umständen juristisch eingeklagt werden kann, im Fall von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und völkerrechtlicher Aggression allerneuestens sogar vor einem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wenn nämlich ein Vertragsstaat unfähig oder nicht Willens ist, die auf seinem Boden verübten Verbrechen juristisch zu ahnden.

Aber nun ist ja notorisch, daß ja gerade die USA den Internationalen Strafgerichtshof - zusammen mit Israel - sabotieren, ebenso auch andere wichtige internationale Abkommen wie das Klima-Abkommen von Kyoto. Die gegenwärtige Administration der einzig übrig gebliebenen Supermacht scheint eine Politik im neuen Paradigma mehr als andere Großmächte in der asiatischen, islamischen oder afrikanischen Welt zu stören. Und so komme ich denn nicht darum, das neue Paradigma mit der politischen Wirklichkeit nach dem 11. September 2001 zu konfrontieren angesichts der Tatsache, daß der Kampf gegen den Terrorismus zweifellos aufgenommen werden mußte und die ungeheuren Verbrechen nicht ungesühnt bleiben dürfen. Zunächst hatte ich die Absicht, diesem dritten und letzten Teil den Titel "Kritische Fragen nach dem 11. September" zu geben, habe mich aber zu einer Umkehr der Perspektive entschlossen mit dem hoffnungsvolleren (und diesem Festanlaß mehr angepaßten) Titel:

III. Chancen nach dem 11. September.

Nicht aufhalten möchte ich mich mit der Frage, ob es nach dem 11. September eine Alternative zum erlebten Afghanistan-Szenario gegeben hätte. Auf die Frage des "Göttinger Tageblatts" habe ich die Frage bejaht und konkretisiert: Krieg als "ultima ratio" und nicht wie jetzt als "proxima ratio". Ein deshalb höchst fragwürdiger Krieg übrigens - und Fragen werden wir uns von niemandem verbieten lassen dürfen:
  • ein Krieg, der seine primären Ziele nach einem halben Jahr noch immer nicht erreicht hat, der nun länger und verlustreicher wird als zunächst angenommen und der sehr wohl enden kann mit einem militärischen Sieg der Amerikaner und einem nicht gewonnenen Frieden, neuen Stammeskonflikten, Herrschaft der Warlords und Banditentum wie in der Zeit vor der Talibanherrschaft;
  • ein Krieg, in dessen aktive Führung auch deutsche Soldaten aufgrund einer "uneingeschränkten Solidarität" immer mehr verwickelt werden und möglicherweise zu jahrelanger Präsenz und Auseinandersetzungen im Hindukusch und in der Hauptstadt Kabul verdammt sind;
  • ein Krieg, der manche keineswegs pazifistische Zeitgenossen fragen läßt, was deutsche Soldaten eigentlich in Afghanistan und im Jemen zu suchen haben und was deutsche Fregatten in Djibutti und am Horn von Afrika und ob deutsche Soldaten uneingeschränkt auch Kriege gegen Somalia und Syrien, den Irak und Iran mitmachen sollen. Deutschland könnte "marginalisiert" werden, meinen die Verteidiger dieser neuen militärischen Außenpolitik. Aber nein, meine Damen und Herren, Deutschland ist zu groß und zu mächtig, als daß es "marginalisiert" werden könnte.
Die entscheidende Frage ist nach den neuesten Erfahrungen mehr denn je: Wie sollen wir uns international engagieren? Und soll es im Kampf mit dem Terrorimus einfach in diesem Stil weitergehen? Nicht um die Alternativen der Vergangenheit geht es mir, sondern um die Alternativen der Zukunft. Haben wir überhaupt solche, solange Außenpolitik vor allem Militärpolitik ist und Abermilliarden für sündhaft teure neue Waffensysteme und Transportflugzeuge statt für Kindergärten und Schulen im eigenen Land und für die Bekämpfung von Armut, Hunger und Elend in der Welt ausgegeben werden? Gibt es überhaupt noch Chancen für das neue Paradigma auch außerhalb der OECD-Welt? Ich meine ja und möchte das vorsichtig andeuten: nicht mit scheinbar sicheren Voraussagen, sondern im Modus des "Es könnte ja sein, daß …" Also im vollen Bewußtsein all der realen Ungewißheiten der Zukunft, die heute oft rascher grundlegende Wendungen herbeiführen als früher und dies nicht immer zum Schlimmeren. Also sozusagen nach dem realistischen Anti-Murphy-Principle: "Was schief gehen kann, muß nicht immer schief gehen …" Und ich beschränke dabei meine Bemerkungen auf Afghanistan und den Nahen Osten.

Was den Afghanistan-Krieg angeht: Ich bin ein Freund der Vereinigten Staaten, war dort oft vielgeehrter Gastprofessor und ein Bewunderer der großen amerikanischen Tradition der Demokratie und der Einforderung der Menschenrechte. Und, gerade deshalb plädiere ich für Frieden - auch angesichts der Kampagne gegen den Terrorismus:

Es könnte ja sein, daß auch die neue amerikanische Administration einsieht, daß wer den Kampf gegen das Böse in der ganzen Welt meint gewinnen zu können, sich selbstgerecht zum ewigen Krieg verdammt und daß auch eine Supermacht erfolgreiche Politik nur dann betreiben kann, wenn sie nicht selbstherrlich unilateral handelt, sondern echte Partner und Freunde, nicht Satelliten, hat.

Es könnte ja sein, daß die USA, klüger als frühere Imperien, ihre Macht doch nicht überdehnen und am Größenwahn scheitern werden, sondern daß sie ihre Vormachtstellung bewahren, indem sie nicht nur ihre Eigeninteressen, sondern auch die ihrer Partner berücksichtigen.

Es könnte ja sein, daß der amerikanische Präsident, dessen Haushaltsüberschuß im vergangenen Jahr um vier Trillionen Dollar abgenommen hat und der in Zukunft wieder mit Defiziten rechnen muß, seine Budget-Politik doch noch umorientiert und sich statt primär um Militärpolitik um eine erfolgreichere Wirtschaftspolitik kümmert, die auch weitere Enron-Pleiten, Börsendisaster und eine noch immer mögliche Rezession ins Auge faßt.

Es könnte ja sein, daß auch die gegenwärtige amerikanische Administration, weil sie sich nicht die ganze islamische Welt entfremden will, doch etwas mehr nach den Ursachen der Ressentiments der Araber und Muslime gegenüber dem Westen und den Vereinigten Staaten im besonderen fragt; daß sie sich statt nur um Symptombekämpfung mehr um die Therapie an den sozialen, ökonomischen und politischen Wurzeln des Terrors kümmert; daß sie statt noch mehr Milliarden für militärische und polizeiliche Zwecke mehr Mittel für die Verbesserung der sozialen Lage der Massen im eigenen Land und der Globalisierungsverlierer in aller Welt aufwendet.

Es könnte ja sein, daß die Supermacht USA auch aus Eigeninteresse daran interessiert wäre, daß das internationale Rechtsbewußtsein nicht erschüttert wird dadurch, daß die einzige Supermacht andere Standards setzt als sie allgemein völkerrechtlich gelten, weil sie so denjenigen Kräften hilft, die sich überhaupt nicht an die Standards des internationalen Rechts halten wollen, und gerade so den Terror fördert.

Und was nun die Tragödie im Nahen Osten betrifft: Ich war ein Freund des Staates Israel von Anfang an, habe mich im Zweiten Vatikanischen Konzil nachdrücklich für die Judenerklärung eingesetzt und nach dem Konzil für die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan. Gerade deshalb plädiere ich für Frieden - auch angesichts einer scheinbar ausweglosen Situation:

Es könnte ja sein, daß gerade angesichts der ständig steigenden Spirale der Gewalt und mehr als 1100 Toten (davon 3/4 Palästinenser - darunter 200 Kinder) seit dem September 2000 (als Scharon zur puren Provokation schwerbewaffnet und -beschützt den Tempelberg hinaufstieg und die zweite Intifada auslöste) immer mehr Israelis realisieren, daß sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Sharons rein militärische Strategie "Frieden durch Repression" ist gescheitert.

Es könnte ja sein, daß eine zunehmende Zahl von Israelis einsieht, daß dieser Scharon, der bereits für das Verhängnis des Libanonkrieges 1982 und die Kriegsverbrechen in den dortigen Flüchtlingslagern verantwortlich war und deshalb zum Rücktritt als Verteidigungsminister gezwungen wurde, sie ein zweites Mal durch seine konzeptionslose Demagogie irregeführt hat, als er ihnen Frieden durch eine Politik der starken Hand versprach. Niemand täusche sich: Die zweite Intifada wird siegen, weil die Leidensfähigkeit der Unterdrückten größer und anhaltender ist als die der Unterdrücker.

Es könnte deshalb sein, daß jene mehr als 500 tapfere israelischen Offiziere und Soldaten von Armee und Bevölkerung immer mehr Unterstützung erhalten, die einen Militärdienst in einem unmoralischen Krieg verweigern mit der Begründung: "Wir werden nicht länger kämpfen jenseits der ›Grünen Linie‹, um dort zu besetzen, zu deportieren, zu zerstören, zu blockieren, zu morden, auszuhungern und ein ganzes Volk zu demütigen."

Es könnte auch sein, daß die Judenschaft in Amerika und Europa, schon längst herausgefordert durch die skandalöse Unterdrückung eines Volkes, mithelfen, damit die wiedererwachte Friedensbewegung in Israel Unterstützung erhält und die Friedenswilligen in Israel gewinnen, damit in dieser chaotischen Pattsituation möglichst rasch eine andere Politik dieser Regierung sich durchsetzt oder dann eben eine andere Regierung, die wirklich den Frieden will.

Es könnte dann sein, daß eine israelische Regierung wie schon im Jahr 2000 im Libanon nach zwei Jahrzehnten Besatzung (Israels "Vietnam") die Truppen zurückzieht und den Friedensvorschlag des saudiarabischen Kronprinzen Abdullah aufgreift: Rückzug aus allen besetzten Gebieten und Anerkennung des Staates Israel durch alle arabischen Staaten mit normalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, um so einen autonomen und lebensfähigen (nicht zerstückelten) Palästinenserstaat zu ermöglichen, womöglich in einer Wirtschaftsunion mit Israel und Jordanien, die ein Segen für die gesamte Region und besonders für Israel sein könnte.

Es könnte ja sein, daß dann auch die radikalen Palästinenser, die mit der gleichen Gewaltslogik reagierten, ihre terroristischen Aktivitäten einstellen und daß die Palästinenser ihr "Recht auf Rückkehr" realistisch auf die symbolische Rückkehr für einige besonders harte Fälle beschränken - zu Gunsten von neuen Ansiedlungen oder von finanziellen Vergütungen, wie sie vielen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg zukamen.

Es könnte ja sein, daß auch die Jerusalem-Frage eine Lösung finden könnte, wie die ebenfalls viele Jahrzehnte verschleppte "römische Frage", als der Vatikan und der italienische Staat um Souveränität über die heilige Stadt Rom stritten, bis man in den Lateranverträgen die relativ einfache Lösung fand: eine einzige Stadt mit einer Stadtverwaltung aber zwei Souveränitäten, Italien auf dem linken Tiberufer und Cittŕ e Stato del Vaticano auf dem rechten. Was für Jerusalem hieße: In der einen Altstadt (nur sie zählt hier) zwei Fahnen und zwei Souveränitäten, aber eine einzige Stadtverwaltung - und womöglich mit einem Bürgermeister und einem Premierminister vom Format eines Teddy Kollek.

Hier wären die Religionen besonders gefordert:
  • "Vergeltet niemandem Böses mit Bösem!" (Röm 12,17): Dieses Wort des Neuen Testaments ist jenen christlichen Kreuzrittern in Amerika und Europa gesagt, die das Böse nur bei den anderen suchen und die meinen, ein Kreuzzug heilige jedes militärische Mittel und rechtfertige alle humanitären "Kollateralschäden".
  • "Aug um Aug, Zahn um Zahn" (Ex 21,24); Dieses Wort der Hebräischen Bibel zur Schadensbeschränkung ist jenen israelischen Fanatikern gesagt, die dem Gegner immer lieber gleich zwei Augen als nur eines nehmen und mehrere Zähne einschlagen möchten und die vergessen, daß ein fortgesetztes "Aug um Aug die Welt erblinden läßt" (Gandhi).
  • "Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu" (Sure 8, 61): Dieses Wort des Koran ist jenen palästinensischen Gotteskriegern gesagt, die noch heute den Staat Israel am liebsten von der Landkarte tilgen möchten.
Doch kommen wir rasch zum Schluß, meine Damen und Herren. Sie haben sicher verstanden, daß streitbar und friedvoll sich nicht ausschließen. Ich habe versucht, durch Wahrhaftigkeit nach allen Seiten für den Frieden zu plädieren, und ich danke Ihnen nochmals von Herzen für die Auszeichnung und Ermutigung, die Sie mir zukommen ließen.

Literatur zur Vertiefung:

Küng, Hans, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft (Piper, München 1997; Lizenzausgabe: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997; Taschenbuchausgabe: Serie Piper 3080, München 2000).

G. Picco, H. Küng, R. v. Weizsäcker (u.a.), Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations (Seton Hall University, South Orange/NJ 2001). Deutsche Ausgabe: Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan (S. Fischer, Frankfurt 2001).

Küng, Hans, Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit (Piper, München 1991; Taschenbuchausgabe: Serie Piper 2827, München 1999).


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