Weltethos und Weltpolitik
Zum neuen Paradigma internationaler Beziehungen. Von Hans Küng
Am 9. März 2002 wurde dem bekannten Theologen Hans Küng der Göttinger Friedenspreis überreicht. Im Folgenden dokumentieren wir seine Dankesrede.
Daß Sie mich gerade mit einem Friedenspreis auszeichnen, ich gestehe es
Ihnen ganz offen, meine Damen und Herren, bereitet mir eine ganz
besondere Freude und Genugtuung. Wenn mich ungefähr mein ganzes
Theologenleben nicht etwa das Attribut "friedlich", sondern "streitbar"
verfolgt hat und ich dies immer nur als bestenfalls halbwahr angesehen
habe, freut es mich, wenn ich nun als Mann des Friedens gepriesen werde.
Und so habe ich denn Grund, von ganzem Herzen für die Auszeichnung und
die guten Worte zu danken, die ich erhalten habe und die mir auf dem
weiteren Weg Mut geben:
-
Frau Carmen Barann von der Stiftung Dr. Roland Röhl,
- der Vizepräsidentin der Universität Göttingen, Frau Prof. Dr.
Hannelore Ehrenreich,
- dem Oberbürgermeister der Stadt Göttingen Jürgen Danielowski,
- dem Niedersächsischen Staatssekretär für Wissenschaft und Kultur Dr.
Uwe Reinhardt,
- und natürlich vor allem der Frau Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann
für ihre Laudatio, von der ich mich voll verstanden fühle, sowohl in
meiner Offenheit für die anderen Religionen wie in meinem
Verwurzeltbleiben im Christentum. Sehr präzis und sympathisch hat sie
umschrieben, um was es im Projekt Weltethos geht. Ganz herzlichen Dank!
Gegen das Wort "streitbar" habe ich übrigens nichts einzuwenden, solange
es nicht gleichgesetzt wird mit "streitlustig" oder gar "streitsüchtig".
Solange es positiv bedeutet, daß man den Willen und die Kraft besitzt,
für etwas oder für jemanden zu streiten, sich einzusetzen, zu kämpfen.
Ich habe es immer gehalten mit einem Wort eines amerikanischen
Präsidenten, den ich persönlich kennenlernte und der anders als der
jetzige sagte: "Konflikte nicht suchen, aber wenn sie einem aufgezwungen
werden, sie gründlich besorgen": John F. Kennedy, der aus dem von
anderen eingebrockten Fehler der Schweinebuchtinvasion lernte und dann
in der Auseinandersetzung um die sowjetischen Raketenstationen in Kuba
nicht zu einem Krieg gegen Terrorismus aufrief und eine Invasion Kubas
anordnete; der sich freilich auch nicht einfach mit der Bedrohung
abfand, sondern durch eine ebenso energische wie maßvolle Politik den
Abzug der sowjetischen Raketen erzwang und sich in der Sowjetunion
Respekt verschaffte. Heute aber sind wir wieder in der Gefahr, eine
abenteuerliche Weltpolitik zu betreiben, die in erster Linie auf Gewalt
und Militär setzt und die über Europa und die Welt so unendlich viel
Elend gebracht hat. Das alles ist nach der Überzeugung vieler keine
Weltpolitik mit Zukunft, sondern eine Weltpolitik mit Vergangenheit.
Sie entstammt einem überholten Paradigma internationaler Beziehungen,
dem ich hier einen ersten Gedankengang widmen möchte.
I. Das überholte Paradigma internationaler Beziehungen
Drei realsymbolische Daten, die - bei aller Fragwürdigkeit der
Kalenderchronologie - das langsame und mühselig das Ende des alten und
zugleich das sich durchsetzende neue Paradigma internationaler
Beziehungen signalisieren: in Ankündigung (1918), Realisierung (1945)
und schließlich Durchbruch (1989).
1918: Ende des Ersten Weltkriegs mit einer Bilanz von gegen 10 Millionen
Toten. Kollaps des Deutschen Kaiserreiches, des Habsburgerreiches, des
Zaren-reiches, des Osmanischen, zuvor schon des chinesischen
Kaiserreiches. Jetzt die amerikanischen Truppen auf europäischem Boden
und die Heraufkunft des Sowjetimperiums. Das ist der Anfang vom Ende
des eurozentrisch-imperialistischen Paradigmas der Moderne und der
Beginn eines noch nicht definierten, aber doch von den Weitsichtigen
anvisierten neuen Paradigmas. Es wurde von den USA vorgeschlagen: Mit
seinen "14 Punkten" skizzierte Präsident Woodrow Wilson (am 8.1.1918)
sein Friedensprogramm: einen "Gerechtigkeitsfrieden" ohne Besiegte und
die "Selbstbestimmung der Völker" ohne Annexionen und
Reparationsforderungen. Aber das "Versailles" der Realpolitiker
Clémenceau und Lloyd Georges hat die Realisierung des neuen Paradigmas
verhindert: statt Gerechtigkeitsfrieden ein Diktatfrieden ohne die
Beteiligung der Besiegten. Die Folgen (vom britischen
Verhandlungsführer John Maynard Keynes, der demissionierte und später
der führende Ökonom des Jahrhunderts wurde, hellsichtig prophezeit)
sind bekannt: Faschismus und Nazismus (sekundiert in Fernost vom
japanischen Militarismus) sind die katastrophalen reaktionären
Fehlentwicklungen, die zwei Jahrzehnte später zum Zweiten Weltkrieg
führen, der schlimmer ist als alles bisher in der Weltgeschichte
Dagewesene.
1945: Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer Bilanz von gegen 50
Millionen Toten und weiterer Millionen Vertriebener. Nazismus und
Faschismus erledigt, der Sowjetkommunismus nach außen stärker denn je,
aber innerlich aufgrund der stalinistischen Politik
politisch-wirtschaftlich-sozial bereits in der Krise. Wieder geht die
Initiative für ein neues Paradigma von den USA aus: 1945 Gründung der
Vereinten Nationen in San Francisco und das Bretton-Woods Abkommen zur
Neuordnung der Weltwirtschaft, dann die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte 1948, weiter die amerikanische Wirtschaftshilfe für den
Aufbau Europas und dessen Einbezug in ein Freihandelssystem. Aber der
Stalinismus hat dieses neue Paradigma für seinen Einflußbereich
blockiert und zur Teilung der Welt in Ost und West geführt.
1989: Fall der Berliner Mauer - Symbol der Unmenschlichkeit, des
Totalitarismus und Staatsterrorismus. Die erfolgreiche friedliche
Revolution in Osteuropa und der Kollaps des Sowjetkommunismus. Nach dem
Golfkrieg wieder ein amerikanischer Präsident, der ein neues Paradigma,
"a New World Order", ankündigt und mit dieser Parole enthusiastische
Aufnahme in der Welt findet. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger
Wilson hatte Präsident George Bush sen. keine Ahnung, wie dieses "vision
thing" aussehen sollte. Und insofern stellt sich nun die Frage: Haben
wir im vergangenen Jahrzehnt die Chance eines neuen Paradigmas erneut
verpaßt?
Nein, das ist meine Überzeugung nicht. Darf man doch im 20. Jahrhundert
trotz der Kriege, Massaker und Flüchtlingsströme, trotz des Archipel
Gulag, des Holocausts und der Atombombe manche Veränderungen zum
Besseren nicht übersehen. Über die zahllosen grandiosen
wissenschaftlich-technologischen Errungenschaften hinaus können sich
die schon nach 1918 zu einer neuen nachmodernen Gesamtkonstellation
drängenden Bewegungen nach 1945 durchsetzen: Friedensbewegung,
Frauenbewegung, Umweltbewegung, Ökumenebewegung: eine neue Einstellung
zu Krieg und Abrüstung, zur Partnerschaft von Mann und Frau, zum
Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, zu den christlichen Konfessionen
und den Weltreligionen. Und nach 1989, nach dem Zusammenbruch der
gewaltsamen Zweiteilung der Welt in West und Ost und der definitiven
Entzauberung wie der evolutionären so jetzt auch der revolutionären
Fortschrittsideologie zeichnen sich nun global konkrete Möglichkeiten
einer befriedeten und kooperierenden Welt ab: anders als die europäische
Moderne nicht mehr eurozentrisch, sondern polyzentrisch, bei allen
ungeheuren Defiziten und Konflikten im Prinzip doch
postimperialistisch und postkolonialistisch, mit den Idealen einer
öko-sozialen Marktwirtschaft und wahrhaft vereinter Nationen.
Die in den letzten hundert Jahren herrschenden politischen
Orientierungen des Imperialismus, Rassismus und Nationalismus haben
abgewirtschaftet:
Während die afrikanische, asiatische und islamische Welt weiterhin von
traditioneller nationaler Machtpolitik bestimmt ist, läßt sich in den
westeuropäischen Ursprungsländern von Imperialismus, Nationalismus und
Rassismus, welche die Großzahl der Kriege, besonders die beiden
Weltkriege, verursacht haben, ein Paradigmenwechsel feststellen: weg von
der mit den beiden Weltkriegen klar gescheiterten konfrontativen
nationalen Macht- und Prestigepolitik, die unter Umständen mit
militärischen Mitteln ausgetragen wird, hin zu einem neuartigen
gemeinsamen Politikmodell regionaler Kooperation und Integration,
welche jahrhundertelange Gegensätze friedlich zu überwinden vermochte.
Das Resultat nicht nur in der EU, sondern im ganzen Bereich der OECD
(Organization for Economic Cooperation and Development, 1948 bzw. 1960
gegründet), also der westlichen Industriestaaten (neben den Europäern
vor allem die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan) ist ein
halbes Jahrhundert des Demokratiefriedens. Wahrhaftig: ein gelungener
Paradigmenwechsel!
So lassen Sie mich denn nach dieser notwendig sehr knappen historischen
Tour d'horizon zu einer grundsätzlichen Bestimmung des neuen Paradigmas
der internationalen Beziehungen kommen, die ich in Büchern wie "Projekt
Weltethos" und "Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft" begründet
habe. Viele Ideen, die ich da vertreten habe, sind eingegangen in das
Manifest für die Vereinten Nationen "Brücken in die Zukunft" (Fischer
Verlag, Frank-furt 2001). Mit Altbundespräsident Richard von
Weizsäcker gehörte ich einer zwanzigköpfigen "Group of Eminent
Persons" an, von Generalsekretär Kofi Annan berufen, um einen Bericht
zum Dialog der Kulturen über ein neues Paradigma internationaler
Beziehungen auszuarbeiten. Unser Manifest haben wir am 9. November 2001
dem General-sekretär und der UN-Vollversammlung vorgestellt unter dem
Titel "Crossing the Divide", deutsch eben "Brücken in die Zukunft". Mit
diesem persönlichen und sachlichen Hintergrund lassen Sie mich nun,
meine Damen und Herren, im zweiten Teil das neue Paradigma
internationaler Beziehungen knapp skizzieren.
II. Das neue Paradigma internationaler Beziehungen und seine ethischen
Voraussetzungen
Aufgrund der Erfahrungen in EU und OECD läßt sich die neue politische
Gesamtkonstellation wie folgt in knappen Zügen skizzieren, wobei
ethische Kategorien kaum vermeidbar sind. Das neue Paradigma besagt
grundsätzlich: statt der neuzeitlichen nationalen Interessen-, Macht-
und Prestigepolitik (wie noch in Versailles) eine Politik regionaler
Verständigung, Annäherung und Versöhnung. Von Frankreich und Deutschland
ist dies exemplarisch vorgemacht worden. Dies erfordert im konkreten
politischen Handeln - auch in Nahost, Afghanistan und Kaschmir - statt
der früheren Konfrontation, Aggression und Revanche wechselseitige
Kooperation, Kompromiß und Integra-tion.
Diese neue politische Gesamtkonstellation setzt offenkundig eine
Mentalitätsveränderung voraus, die weit über die Tagespolitik
hinausgeht:
-
Neue Organisationen reichen dafür nicht aus, es braucht eine neue
Denkart ("mind-set").
- Nationale, ethnische, religiöse Verschiedenheit darf nicht mehr
grundsätzlich als Bedrohung verstanden werden, sondern als zumindest
mögliche Bereicherung.
- Während das alte Paradigma immer einen Feind, gar Erbfeind
voraussetzte, braucht das neue Paradigma keinen Feind mehr, wohl aber
Partner, Konkurrenten und oft auch Opponenten. Statt militärischer
Konfrontation gilt auf allen Ebenen wirtschaftlicher Wettbewerb.
- Denn es hat sich gezeigt, daß die nationale Wohlfahrt auf die Dauer
nicht durch Krieg, sondern nur durch Frieden befördert wird, nicht im
Gegen- oder Nebeneinander, sondern im Miteinander.
- Und weil die nun einmal bestehenden verschiedenen Interessen im
Miteinander befriedigt werden, ist eine Politik möglich, die nicht mehr
ein Null-Summen-Spiel ist, bei welcher der eine auf Kosten des anderen
gewinnt, sondern ein Positiv-Summen-Spiel, bei dem alle gewinnen.
Natürlich ist Politik im neuen Paradigma nicht einfach leichter
geworden, sondern bleibt - die jetzt freilich gewaltfreie - "Kunst des
Möglichen". Wenn sie funktionieren soll, kann sie sich nicht gründen auf
einen "postmodernistischen" Beliebigkeitspluralismus. Vielmehr setzt sie
einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich bestimmter Grundwerte,
Grundrechte und Grundpflichten voraus. Dieser gesellschaftliche
Grundkonsens muß von allen gesellschaftlichen Gruppen mitgetragen
werden, von Glaubenden wie Nichtglaubenden, von den Angehörigen der
verschiedenen Religionen wie Philosophien oder Ideologien.
Mit anderen Worten: Dieser gesellschaftliche Konsens, den ein
demokratisches System nicht erzwingen darf, sondern voraussetzen muß,
meint kein gemeinsames ethisches System ("Ethik", "ethics"), wohl einen
gemeinsamen Grundbestand an Werten und Maßstäben, Rechten und
Pflichten, ein gemeinsames Ethos ("ethic"): ein Menschheitsethos also.
Ein Weltethos ("global ethic"), das nicht eine neue Ideologie oder
"Superstruktur" ist, sondern die gemeinsamen religiös-philosophischen
Ressourcen der Menschheit bündelt, die nicht gesetzlich auferlegt,
sondern bewußt gemacht werden sollen. Weltethos ist gleichzeitig
"personenorientiert, institutionenorientiert und resultatorientiert"
(A. Riklin).
Insofern zielt das Weltethos nicht nur auf eine das Individuum
möglicherweise entlastende Kollektivverantwortung (als ob an bestimmten
Mißständen nur "die Verhältnisse", die "Geschichte", "das System" Schuld
seien). Es zielt in besonderer Weise auf die individuelle Ver-antwortung
eines jeden einzelnen an seinem Platz in der Gesellschaft und ganz
besonders auf die individuelle Verantwortung der politischen Führer. Die
freie Verpflichtung auf ein gemeinsames Ethos schließt
selbstverständlich nicht aus, sondern ein, daß sie vom Recht unterstützt
wird und unter Umständen juristisch eingeklagt werden kann, im Fall von
Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und
völkerrechtlicher Aggression allerneuestens sogar vor einem
Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wenn nämlich ein
Vertragsstaat unfähig oder nicht Willens ist, die auf seinem Boden
verübten Verbrechen juristisch zu ahnden.
Aber nun ist ja notorisch, daß ja gerade die USA den Internationalen
Strafgerichtshof - zusammen mit Israel - sabotieren, ebenso auch
andere wichtige internationale Abkommen wie das Klima-Abkommen von Kyoto. Die gegenwärtige Administration der einzig übrig gebliebenen
Supermacht scheint eine Politik im neuen Paradigma mehr als andere
Großmächte in der asiatischen, islamischen oder afrikanischen Welt zu
stören. Und so komme ich denn nicht darum, das neue Paradigma mit der
politischen Wirklichkeit nach dem 11. September 2001 zu konfrontieren
angesichts der Tatsache, daß der Kampf gegen den Terrorismus zweifellos
aufgenommen werden mußte und die ungeheuren Verbrechen nicht ungesühnt
bleiben dürfen. Zunächst hatte ich die Absicht, diesem dritten und
letzten Teil den Titel "Kritische Fragen nach dem 11. September" zu
geben, habe mich aber zu einer Umkehr der Perspektive entschlossen mit
dem hoffnungsvolleren (und diesem Festanlaß mehr angepaßten) Titel:
III. Chancen nach dem 11. September.
Nicht aufhalten möchte ich mich mit der Frage, ob es nach dem 11.
September eine Alternative zum erlebten Afghanistan-Szenario gegeben
hätte. Auf die Frage des "Göttinger Tageblatts" habe ich die Frage
bejaht und konkretisiert: Krieg als "ultima ratio" und nicht wie jetzt
als "proxima ratio". Ein deshalb höchst fragwürdiger Krieg übrigens -
und Fragen werden wir uns von niemandem verbieten lassen dürfen:
-
ein Krieg, der seine primären Ziele nach einem halben Jahr noch immer
nicht erreicht hat, der nun länger und verlustreicher wird als zunächst
angenommen und der sehr wohl enden kann mit einem militärischen Sieg der
Amerikaner und einem nicht gewonnenen Frieden, neuen Stammeskonflikten,
Herrschaft der Warlords und Banditentum wie in der Zeit vor der
Talibanherrschaft;
- ein Krieg, in dessen aktive Führung auch deutsche Soldaten aufgrund
einer "uneingeschränkten Solidarität" immer mehr verwickelt werden und
möglicherweise zu jahrelanger Präsenz und Auseinandersetzungen im
Hindukusch und in der Hauptstadt Kabul verdammt sind;
- ein Krieg, der manche keineswegs pazifistische Zeitgenossen fragen
läßt, was deutsche Soldaten eigentlich in Afghanistan und im Jemen zu
suchen haben und was deutsche Fregatten in Djibutti und am Horn von
Afrika und ob deutsche Soldaten uneingeschränkt auch Kriege gegen
Somalia und Syrien, den Irak und Iran mitmachen sollen. Deutschland
könnte "marginalisiert" werden, meinen die Verteidiger dieser neuen
militärischen Außenpolitik. Aber nein, meine Damen und Herren,
Deutschland ist zu groß und zu mächtig, als daß es "marginalisiert"
werden könnte.
Die entscheidende Frage ist nach den neuesten Erfahrungen mehr denn je:
Wie sollen wir uns international engagieren? Und soll es im Kampf mit
dem Terrorimus einfach in diesem Stil weitergehen? Nicht um die
Alternativen der Vergangenheit geht es mir, sondern um die
Alternativen der Zukunft. Haben wir überhaupt solche, solange
Außenpolitik vor allem Militärpolitik ist und Abermilliarden für
sündhaft teure neue Waffensysteme und Transportflugzeuge statt für
Kindergärten und Schulen im eigenen Land und für die Bekämpfung von
Armut, Hunger und Elend in der Welt ausgegeben werden? Gibt es überhaupt
noch Chancen für das neue Paradigma auch außerhalb der OECD-Welt? Ich
meine ja und möchte das vorsichtig andeuten: nicht mit scheinbar
sicheren Voraussagen, sondern im Modus des "Es könnte ja sein, daß …"
Also im vollen Bewußtsein all der realen Ungewißheiten der Zukunft, die
heute oft rascher grundlegende Wendungen herbeiführen als früher und
dies nicht immer zum Schlimmeren. Also sozusagen nach dem realistischen
Anti-Murphy-Principle: "Was schief gehen kann, muß nicht immer schief
gehen …" Und ich beschränke dabei meine Bemerkungen auf Afghanistan und
den Nahen Osten.
Was den Afghanistan-Krieg angeht: Ich bin ein Freund der Vereinigten
Staaten, war dort oft vielgeehrter Gastprofessor und ein Bewunderer
der großen amerikanischen Tradition der Demokratie und der
Einforderung der Menschenrechte. Und, gerade deshalb plädiere ich
für Frieden - auch angesichts der Kampagne gegen den Terrorismus:
Es könnte ja sein, daß auch die neue amerikanische Administration
einsieht, daß wer den Kampf gegen das Böse in der ganzen Welt meint
gewinnen zu können, sich selbstgerecht zum ewigen Krieg verdammt und daß
auch eine Supermacht erfolgreiche Politik nur dann betreiben kann, wenn
sie nicht selbstherrlich unilateral handelt, sondern echte Partner und
Freunde, nicht Satelliten, hat.
Es könnte ja sein, daß die USA, klüger als frühere Imperien, ihre Macht
doch nicht überdehnen und am Größenwahn scheitern werden, sondern daß
sie ihre Vormachtstellung bewahren, indem sie nicht nur ihre
Eigeninteressen, sondern auch die ihrer Partner berücksichtigen.
Es könnte ja sein, daß der amerikanische Präsident, dessen
Haushaltsüberschuß im vergangenen Jahr um vier Trillionen Dollar
abgenommen hat und der in Zukunft wieder mit Defiziten rechnen muß,
seine Budget-Politik doch noch umorientiert und sich statt primär um
Militärpolitik um eine erfolgreichere Wirtschaftspolitik kümmert, die
auch weitere Enron-Pleiten, Börsendisaster und eine noch immer mögliche
Rezession ins Auge faßt.
Es könnte ja sein, daß auch die gegenwärtige amerikanische
Administration, weil sie sich nicht die ganze islamische Welt entfremden
will, doch etwas mehr nach den Ursachen der Ressentiments der Araber und
Muslime gegenüber dem Westen und den Vereinigten Staaten im besonderen
fragt; daß sie sich statt nur um Symptombekämpfung mehr um die Therapie
an den sozialen, ökonomischen und politischen Wurzeln des Terrors
kümmert; daß sie statt noch mehr Milliarden für militärische und
polizeiliche Zwecke mehr Mittel für die Verbesserung der sozialen Lage
der Massen im eigenen Land und der Globalisierungsverlierer in aller
Welt aufwendet.
Es könnte ja sein, daß die Supermacht USA auch aus Eigeninteresse daran
interessiert wäre, daß das internationale Rechtsbewußtsein nicht
erschüttert wird dadurch, daß die einzige Supermacht andere Standards
setzt als sie allgemein völkerrechtlich gelten, weil sie so denjenigen
Kräften hilft, die sich überhaupt nicht an die Standards des
internationalen Rechts halten wollen, und gerade so den Terror fördert.
Und was nun die Tragödie im Nahen Osten betrifft: Ich war ein Freund des
Staates Israel von Anfang an, habe mich im Zweiten Vatikanischen Konzil
nachdrücklich für die Judenerklärung eingesetzt und nach dem Konzil für
die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan. Gerade deshalb
plädiere ich für Frieden - auch angesichts einer scheinbar ausweglosen
Situation:
Es könnte ja sein, daß gerade angesichts der ständig steigenden Spirale
der Gewalt und mehr als 1100 Toten (davon 3/4 Palästinenser - darunter
200 Kinder) seit dem September 2000 (als Scharon zur puren Provokation
schwerbewaffnet und -beschützt den Tempelberg hinaufstieg und die zweite
Intifada auslöste) immer mehr Israelis realisieren, daß sie diesen Krieg
nicht gewinnen können. Sharons rein militärische Strategie "Frieden
durch Repression" ist gescheitert.
Es könnte ja sein, daß eine zunehmende Zahl von Israelis einsieht, daß
dieser Scharon, der bereits für das Verhängnis des Libanonkrieges 1982
und die Kriegsverbrechen in den dortigen Flüchtlingslagern
verantwortlich war und deshalb zum Rücktritt als Verteidigungsminister
gezwungen wurde, sie ein zweites Mal durch seine konzeptionslose
Demagogie irregeführt hat, als er ihnen Frieden durch eine Politik der
starken Hand versprach. Niemand täusche sich: Die zweite Intifada wird
siegen, weil die Leidensfähigkeit der Unterdrückten größer und
anhaltender ist als die der Unterdrücker.
Es könnte deshalb sein, daß jene mehr als 500 tapfere israelischen
Offiziere und Soldaten von Armee und Bevölkerung immer mehr
Unterstützung erhalten, die einen Militärdienst in einem unmoralischen
Krieg verweigern mit der Begründung: "Wir werden nicht länger kämpfen
jenseits der ›Grünen Linie‹, um dort zu besetzen, zu deportieren, zu
zerstören, zu blockieren, zu morden, auszuhungern und ein ganzes Volk zu
demütigen."
Es könnte auch sein, daß die Judenschaft in Amerika und Europa, schon
längst herausgefordert durch die skandalöse Unterdrückung eines Volkes,
mithelfen, damit die wiedererwachte Friedensbewegung in Israel
Unterstützung erhält und die Friedenswilligen in Israel gewinnen, damit
in dieser chaotischen Pattsituation möglichst rasch eine andere Politik
dieser Regierung sich durchsetzt oder dann eben eine andere Regierung,
die wirklich den Frieden will.
Es könnte dann sein, daß eine israelische Regierung wie schon im Jahr
2000 im Libanon nach zwei Jahrzehnten Besatzung (Israels "Vietnam") die
Truppen zurückzieht und den Friedensvorschlag des saudiarabischen
Kronprinzen Abdullah aufgreift: Rückzug aus allen besetzten Gebieten und
Anerkennung des Staates Israel durch alle arabischen Staaten mit
normalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, um so einen
autonomen und lebensfähigen (nicht zerstückelten) Palästinenserstaat zu
ermöglichen, womöglich in einer Wirtschaftsunion mit Israel und
Jordanien, die ein Segen für die gesamte Region und besonders für Israel
sein könnte.
Es könnte ja sein, daß dann auch die radikalen Palästinenser, die mit
der gleichen Gewaltslogik reagierten, ihre terroristischen Aktivitäten
einstellen und daß die Palästinenser ihr "Recht auf Rückkehr"
realistisch auf die symbolische Rückkehr für einige besonders harte
Fälle beschränken - zu Gunsten von neuen Ansiedlungen oder von
finanziellen Vergütungen, wie sie vielen Juden nach dem Zweiten
Weltkrieg zukamen.
Es könnte ja sein, daß auch die Jerusalem-Frage eine Lösung finden
könnte, wie die ebenfalls viele Jahrzehnte verschleppte "römische
Frage", als der Vatikan und der italienische Staat um Souveränität über
die heilige Stadt Rom stritten, bis man in den Lateranverträgen die
relativ einfache Lösung fand: eine einzige Stadt mit einer
Stadtverwaltung aber zwei Souveränitäten, Italien auf dem linken
Tiberufer und Cittŕ e Stato del Vaticano auf dem rechten. Was für
Jerusalem hieße: In der einen Altstadt (nur sie zählt hier) zwei Fahnen
und zwei Souveränitäten, aber eine einzige Stadtverwaltung - und
womöglich mit einem Bürgermeister und einem Premierminister vom Format
eines Teddy Kollek.
Hier wären die Religionen besonders gefordert:
-
"Vergeltet niemandem Böses mit Bösem!" (Röm 12,17): Dieses Wort des
Neuen Testaments ist jenen christlichen Kreuzrittern in Amerika und
Europa gesagt, die das Böse nur bei den anderen suchen und die meinen,
ein Kreuzzug heilige jedes militärische Mittel und rechtfertige alle
humanitären "Kollateralschäden".
- "Aug um Aug, Zahn um Zahn" (Ex 21,24); Dieses Wort der Hebräischen
Bibel zur Schadensbeschränkung ist jenen israelischen Fanatikern gesagt,
die dem Gegner immer lieber gleich zwei Augen als nur eines nehmen und
mehrere Zähne einschlagen möchten und die vergessen, daß ein
fortgesetztes "Aug um Aug die Welt erblinden läßt" (Gandhi).
- "Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm
zu" (Sure 8, 61): Dieses Wort des Koran ist jenen palästinensischen
Gotteskriegern gesagt, die noch heute den Staat Israel am liebsten von
der Landkarte tilgen möchten.
Doch kommen wir rasch zum Schluß, meine Damen und Herren. Sie haben
sicher verstanden, daß streitbar und friedvoll sich nicht ausschließen.
Ich habe versucht, durch Wahrhaftigkeit nach allen Seiten für den
Frieden zu plädieren, und ich danke Ihnen nochmals von Herzen für die
Auszeichnung und Ermutigung, die Sie mir zukommen ließen.
Literatur zur Vertiefung:
Küng, Hans, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft (Piper, München
1997; Lizenzausgabe: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997;
Taschenbuchausgabe: Serie Piper 3080, München 2000).
G. Picco, H. Küng, R. v. Weizsäcker (u.a.), Crossing the Divide.
Dialogue among Civilizations (Seton Hall University, South Orange/NJ
2001). Deutsche Ausgabe: Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog
der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan (S. Fischer, Frankfurt
2001).
Küng, Hans, Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit (Piper,
München 1991; Taschenbuchausgabe: Serie Piper 2827, München 1999).
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