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"Hier liegt die Entscheidung, die wir treffen müssen: Frieden oder Nationalismus"

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk erhielt den Friedenspreis 2005 des Deutschen Buchhandels

Am 23. Oktober erhielt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk den Friedenspreis 2005 des Deutschen Buchhandels. Die Verleihung fand traditionell in der Frankfurter Paulskirche statt. Die Laudatio hielt der Lyriker und Übersetzer Joachim Sartorius, Intendant der Berliner Festspiele.
In der Begründung des Stiftungsrats für die Wahl Orhan Pamuks zum Friedenspreisträger heißt es: "Mit Orhan Pamuk wird ein Schriftsteller geehrt, der wie kein anderer Dichter unserer Zeit den historischen Spuren des Westens im Osten und des Ostens im Westen nachgeht, einem Begriff von Kultur verpflichtet, der ganz auf Wissen und Respekt vor dem anderen gründet. Orhan Pamuk hat ein Werk geschaffen, in dem Europa und die muslimische Türkei zusammenfinden. In seinen Romanen 'Die weiße Festung', 'Rot ist mein Name' oder 'Schnee' verbindet er orientalische Erzähltraditionen mit den Stilelementen der westlichen Moderne und entwickelt Bilder und Begriffe, die unsere Gesellschaft in einem nicht eng verstandenen Europa gebrauchen wird. So eigenwillig das einzigartige Gedächtnis des Autors in die große osmanische Vergangenheit zurückreicht, so unerschrocken greift er die brennende Gegenwart auf, tritt für Menschen- und Minderheitenrechte ein und bezieht immer wieder Stellung zu den politischen Problemen seines Landes."
Im Folgenden dokumentieren wir

  • die Pressemeldung des Börsenvereins über die Vergabe des Friedesnpreises, und
  • einen Auszug aus der Rede des Preisträgers, worin er vor allem auf politische Fragen einging: das Verhältnis der Türkei zu Europa und das Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei.



Pressemitteilung, 23. Oktober 2005

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat heute den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Verleihung fand vor rund 1000 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche statt. Die Laudatio hielt der Lyriker und Übersetzer Joachim Sartorius, Intendant der Berliner Festspiele.

In seiner Dankesrede betonte Orhan Pamuk: „Religionsgemeinschaften, Stämme oder Völker gelangen heute über Romane zu den tiefsten Einsichten über sich selbst, diskutieren mit Hilfe von Romanen ihre Identität, und selbst wenn die meisten von uns nur zum Roman greifen, um sich zu amüsieren oder einfach nur die Flucht aus der Alltagswelt zu ergreifen, werden sie beim Lesen unbewusst über die Gemeinschaft, das Volk oder die Gesellschaft, der sie angehören, zu reflektieren beginnen.“ Die einem Schriftsteller angemessene Art von Politik sei nicht das Engagement für eine bestimmte politische Sache oder die Mitarbeit in einer Partei oder einer irgend gearteten Gruppierung. Sie entspringe vielmehr seinem Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen. „Wir würden es heute als Manko empfinden, wenn ein deutscher Schriftsteller, der mit dem Anspruch aufträte, die deutsche Gegenwart abzubilden, die Türken in Deutschland und die ihnen entgegengebrachten Ressentiments in seinem Werk ganz einfach ausblendete. Und ich persönlich empfinde es als Manko, wenn ein türkischer Schriftsteller heute nicht auf die Kurden, auf die Minderheiten in der Türkei und auf die unausgesprochenen dunklen Punkte unserer Geschichte eingeht“, so Pamuk.

Pamuk betonte, nur durch die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union sei nach seiner Ansicht ein stabiles und friedliches Europa möglich. „Europa verdient Anerkennung dafür, dass es auch außerhalb des Westens die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefördert hat. Wenn Europa aber vom Geist der Aufklärung, der Gleichheit und der Demokratie beseelt ist, dann muss die Türkei in diesem friedliebenden Europa ihren Platz haben. Genau wie ein Europa, das sich nur auf das Christentum stützte, wäre eine Türkei, die ihre Kraft nur aus der Religion bezöge, eine die Realitäten verkennende, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandte Festung“, so der Friedenspreisträger.

Joachim Sartorius lobte in seiner Laudatio den Mut und die Courage des türkischen Literaten: „Indem Orhan Pamuk unerschrocken seine Stimme erhebt und Aufrichtigkeit einklagt, versucht er, in seinem Land ein Nachdenken zu erzwingen und die Regierenden umzustimmen.“ Jeder Roman von Pamuk beschenke den Leser mit einer akribischen, fast haushälterisch genauen Beschreibung seines Landes. „Lesen wir heute Pamuk, genau und geduldig, verstehen und respektieren wir dieses komplizierte Land, die Türkei mit ihrer großen Geschichte und ihrer großen Kultur“, so Sartorius.

„Orhan Pamuk geht es in seiner Literatur und in seinen öffentlichen Äußerungen um Demokratie, um eine offene Gesellschaft und um die Freiheit der Rede“, so Dieter Schormann, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Sein Werk und Wirken machten die unersetzliche Aufgabe der Schriftsteller deutlich: „Sie vermitteln zwischen scheinbar gegensätzlichen Kulturen und entfalten Dialoge, die zu politischen Veränderungen führen können.“ Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels während der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger waren unter anderem Albert Schweitzer, Theodor Heuss, Václav Havel, Siegfried Lenz, Susan Sontag und im vergangenen Jahr Péter Esterházy. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.


Auszüge aus der Rede des Preisträgers

Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem viele Romane gelesen wurden. Mein Vater hatte eine umfangreiche Bibliothek und erzählte von den großen Schriftstellern wie Thomas Mann, Kafka, Dostojewski oder Tolstoi so, wie andere Väter zu Hause vielleicht von Generälen oder von Heiligen sprachen. Schon als Kind waren für mich all diese Romane und Autoren eins mit dem Begriff Europa. Und das nicht nur, weil ich einer Istanbuler Familie entstamme, die aus tiefstem Herzen an die Europäisierung der Türkei glaubte und deshalb sich selbst und ihr Land auf allzu naive Weise schon als europäisch ansah oder zumindest ansehen wollte, sondern auch, weil der Roman eine der bedeutendsten Kunstformen ist, die Europa je hervorgebracht hat.

Zusammen mit der Orchestermusik und der Renaissancekunst gehört der Roman meiner Auffassung nach zum Fundament europäischer Wesensart und Identität. Ein Europa ohne den Roman kann ich mir nicht vorstellen, und zwar schon deshalb nicht, weil der Roman eine Schule des Denkens, Verstehens und Sich-Vorstellens ist und das Einfühlungsvermögen entwickelt. Zudem aber ist der Roman Zeuge von Kultur und Geschichte.

In vielen Teilen der Welt kommen junge Menschen erstmals über Romane näher mit Europa in Berührung, so wie das eben auch bei mir der Fall war. Denken wir doch daran, wie über Europas Grenzen hinaus neue Kontinente, neue Kulturen und Zivilisationen mit der Romankunst zusammengetroffen sind, sie sich begierig und mit neuer Inspiration angeeignet und daraus ein Mittel zur Selbstdarstellung geschaffen haben, so dass auch sie Europas teilhaftig wurden. Denken wir an die Entstehung der großen russischen Romankunst und an den Roman Lateinamerikas, der Teil der europäischen Kultur geworden ist. Allein die Romanlektüre zeigt uns schon, dass die Grenzen, die Geschichte und das Wesen Europas in fortwährendem Wandel begriffen sind. Das alte Europa, das in den französischen, russischen und deutschen Romanen aus der Bibliothek meines Vaters geschildert wurde, das Nachkriegseuropa meiner Kinderzeit und das heutige Europa sind allesamt geografisch und inhaltlich unterschiedliche Begriffe. Und dennoch lebt in mir ein beständiger Europagedanke fort, auf den ich nun zu sprechen kommen möchte.

Nun ist aber Europa für einen Türken ein sehr heikles, zweischneidiges Thema. Das hoffnungsfrohe Warten des Mannes, der an eine Tür klopft und um Einlass bittet, die Neugier und zugleich die Angst, abgewiesen zu werden und die Wut darüber: All das geht mir wie den meisten Türken nie aus dem Sinn, und von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Scham. Jetzt, wo der seit dem ersten Aufnahmeantrag andauernde Prozess des Wartens und Hoffens und der uneingelösten Versprechen so weit gediehen ist, dass ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union tatsächlich einmal wahr werden könnte, wird leider in Europa von gewissen gesellschaftlichen und politischen Kreisen immer mehr gegen die Türkei Stimmung gemacht.

Die Art und Weise, in der bei der letzten Bundestagswahl von manchen Politikern auf Kosten der Türkei und der Türken Wahlkampf betrieben wurde, finde ich nicht weniger gefährlich als das Gebaren mancher türkischen Politiker, die gegenüber dem Westen und Europa gerne auf Konfrontationskurs gehen. Es ist das eine, den türkischen Staat wegen seiner Demokratiedefizite oder seiner wirtschaftlichen Lage zu kritisieren, und es ist etwas anderes, die ganze türkische Kultur oder die türkischstämmigen Menschen herabzuwürdigen, die in Deutschland unter weit schwierigeren Bedingungen leben als die Deutschen selbst. Die Türken wiederum reagieren auf diese Verunglimpfungen mit der Empfindlichkeit des Abgewiesenen. In Europa eine Türkenfeindlichkeit zu schüren, führt leider dazu, dass sich in der Türkei ein europafeindlicher, dumpfer Nationalismus entwickelt.

Wer an die Europäische Union glaubt, sollte einsehen, dass es hier um die Alternative zwischen Frieden und Nationalismus geht. Hier liegt die Entscheidung, die wir treffen müssen. Frieden oder Nationalismus. Ich für mein Teil bin überzeugt, dass der Friedensgedanke das Herzstück der Europäischen Union ist und dass das Friedensangebot, das die heutige Türkei Europa macht, nicht ausgeschlagen werden darf. Zur Wahl stehen auf der einen Seite schriftstellerische Phantasie und auf der anderen Seite bücherverbrennender Nationalismus.

Da ich mich in den vergangenen Jahren immer wieder für eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ausgesprochen habe, sind mir zahlreiche von Skepsis und Ablehnung geprägte Fragen gestellt worden, auf die ich hier eine Antwort geben möchte. Was die Türkei und die Türken Europa zu bieten haben, das ist in erster Linie Frieden, das ist der Wunsch eines muslimischen Landes, an Europa teilzuhaben, und das sind die Sicherheit und das Stärkepotenzial, die Europa und Deutschland gewinnen würden, sollte diesem friedlichen Anliegen der Türkei entsprochen werden.

In all den Romanen, die ich in meiner Jugend las, wurde Europa nicht über das Christentum definiert, sondern vielmehr über den Individualismus. Europa wurde mir auf attraktive Weise durch Romanhelden vermittelt, die um ihre Freiheit kämpfen und sich verwirklichen wollen. Europa verdient Anerkennung dafür, dass es auch außerhalb des Westens die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefördert hat. Wenn Europa aber vom Geist der Aufklärung, der Gleichheit und der Demokratie beseelt ist, dann muss die Türkei in diesem friedliebenden Europa ihren Platz haben. Genau wie ein Europa, das sich nur auf das Christentum stützte, wäre eine Türkei, die ihre Kraft nur aus der Religion bezöge, eine die Realitäten verkennende, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandte Festung.

Nun lässt sich unschwer vorstellen, dass jemand an die Europäische Union glaubt, der so wie ich in Istanbul in einer westlich orientierten, laizistischen Familie aufgewachsen ist. Schließlich spielt mein Lieblingsverein Fenerbahçe schon seit meiner Kindheit im Europapokal. Millionen von Türken sind wie ich aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass die Türkei ihren Platz in Europa hat. Viel wichtiger aber ist, dass heute auch die große Mehrheit der konservativen religiösen Türken und deren politische Vertreter die Türkei in der Europäischen Union sehen und gemeinsam mit Ihnen an der Zukunft Europas mitwirken möchten.

Es dürfte schwer sein, nach jahrhundertelangen Kämpfen und Kriegen diese freundschaftlich ausgestreckte Hand zurückzuweisen, ohne es später einmal bereuen zu müssen. So wie ich mir keine Türkei vorstellen kann, die nicht von Europa träumt, so glaube ich auch nicht an ein Europa, das sich ohne die Türkei definiert.

Entschuldigen Sie bitte, dass ich so viel von Politik gesprochen habe. (...)

Orhan Pamuk wurde 1952 in Istanbul geboren. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie auf, studierte Architektur und Journalismus, ehe er sich dem Schreiben zuwandte. Heute ist er einer der bedeutendsten türkischen Schriftsteller. Seine Werke sind auf der ganzen Welt erschienen.
"Schnee" (deutsch 2005), Pamuks Roman über den Dichter Ka, der in eine verschneite anatolische Provinzstadt reist, den Putsch eines Schauspielers miterlebt, die Liebe entdeckt und einen Gedichtzyklus in Form eines Schneekristalls schreibt, wurde von der Kritik hoch gelobt und in der "New York Times" als das beste ausländische Buch des Jahres 2004 gefeiert.



Quelle: Frankfurter Rundschau, 24. Oktober 2005 (Dokumentationsseite).
Die Übersetzung ins Deutsche der von der FR in Auszügen dokumentierten Rede wurde von Gerhard Meier besorgt. Aus den in der FR veröffentlichten "Auszügen" dokumentieren wir unsererseits nur einen Auszug. Die komplette Rede wird in einem Buch dokumentiert werden, das der Börsenverein des deutschen Buchhandels herausgibt. Es wird voraussichtlich im November 2005 erscheinen und kann über den Buchhandel bestellt werden.



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