Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wer rudert und wer steuert das Boot?

Andreas Wehr über den europäischen Traum und die europäische Wirklichkeit

Von Uli Gellermann *

Wahlforscher prophezeien, dass die die Alternative für Deutschland (AfD) bei den Europawahlen gute Aussichten auf Parlamentssitze habe. Dies ist auch hinsichtlich anderer rechter Parteien in Europa zu befürchten. Da stellt sich die Frage: Warum? Antworten darauf bietet das neue Buch von Andreas Wehr, das sich mit der Europäischen Union und den in ihr zusammengeschlossenen Nationen befasst, mit dem Traum und der Wirklichkeit auseinandersetzt. Diskutiert werden intellektuelle Positionen. Es sind vor allem Jürgen Habermas, Jeremy Rifkin, Ulrich Beck, Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt und Martin Schulz, an denen sich Wehr reibt.

»Der Europäischen Union« kommt die Legitimation abhanden.« Diese Feststellung untermauert der Autor mit dem »Nein« zur europäischen Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und Holland, mit sinkenden Wählerzahlen und der Negierung einer Union des Kaputtsparens: »Nach Osteuropa entsteht im Süden eine zweite Armutszone.«

Für den US-Amerikaner Rifkin ist der Traum von Europa besser als der »American Dream«, denn auf europäischen Straßen sah er »nur selten Obdachlose« und auch weniger »schwergewichtige Menschen«. Auch freute den Soziologen: »Europäer sind gern faul. Sie nehmen sich Zeit, an Rosen zu schnuppern.« Wehrs gnadenloses Urteil: »Der Europäische Traum von Jeremy Rifkin ist Science Fiction.«

Habermas will Wehr nicht so einfach abbürsten. Immerhin ist der deutsche Philosoph gut sozialdemokratisch vernetzt, und seine These der »Transnationalisierung der Demokratie« erfreut sich allgemeiner Beliebtheit. Aber nicht bei Wehr, der nachweist, dass die Verlagerung sozialer Probleme ins Transnationale, sprich auf die europäische Ebene, einem Transport ins Unverbindliche gleichkommt; darum sei bereits auf nationaler Ebene der Kampf um soziale Gerechtigkeit zu führen. Auch die (nicht nur) bei Habermas als neu begriffene Globalisierung sieht Wehr in einer kapitalistischen Kontinuität, die er mit einem Zitat aus dem »Kommunistischen Manifest« belegt. Während Habermas einer Teilung der »Volkssouveränität zwischen den Bürgern der Europäischen Union und den Völkern Europas« das Wort redet, ist Wehr an der Wirklichkeit interessiert, die nun mal eine nationale Staatsangehörigkeit vor die Unionsbürgerschaft setzt und auch deshalb bisher kaum ein einheitliches europäisches Bewusstsein entstehen ließ.

Dem deutschen Soziologen Beck lässt der Autor die laxe Formulierung »Die Abgabe von Souveränitätsrechten geht einher mit einem Gewinn an politischer Gestaltungsmacht« nicht durchgehen. Das wirtschaftliche Auseinanderdriften der europäischen Staaten entlarve den von Beck konstatierten »Gewinn« als Phrase. Dem sprachgewaltigen »Manifest für Europa« von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt wiederum attestiert Wehr »ein eurozentrisches, ja eurochauvinistisches Weltbild«. Die beiden würden Europa primär als ein Produkt der Konkurrenz zu Staaten wie China und Indien begreifen, die gemeinsam mit den USA, »die westliche Vormachtstellung verteidigen« müssten. Das in deren Manifest auftauchende nebulöse Wörtchen »wir« verfrachte alle EU-Bürger in ein Boot, ohne zu fragen, wer denn rudert und wer steuert.

Schließlich streitet Wehr mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments. Bei Martin Schulz kann er nicht »den Hauch einer volkswirtschaftlichen Erklärung« erkennen, was angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme der EU schon erstaunlich sei. Und angesichts Schulz’ Kritik, die EU sei zur Zeit ein eher neoliberales Projekt, erlaubt sich der Autor, den Sozialdemokraten daran zu erinnern, dass die Deregulierung der Märkte wesentlich von der sozialdemokratisch geführten Regierung Schröder betrieben worden ist.

Der EU-Mitarbeiter der Linkspartei Andreas Wehr hat ein streitbares Buch verfasst, das mit einem Plädoyer für den »Nationalstaat als Raum politischer Kämpfe und Klassenauseinandersetzungen« endet – nicht als Gegensatz zu einem vereinten Europa, sondern als Basis, von der aus ein anderes, ein soziales und gerechtes Europa zu erreichen wäre. Dass Wehr angesichts der Militäroperationen diverser EU-Mitgliedsländer die Beschwörung des europäischen »Friedensprojektes« als leeres Gerede demaskiert, ist ein kluges Additiv seiner auf soziale und ideologische Fragen zentrierten Arbeit.

Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit: Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen . PapyRossa, Köln 2013. 155 S., br., 12,99 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. März 2013


Zurück zur EU-Europa-Seite (Beiträge ab 2014)

Zur EU-Europa-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage