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Vorratsdatenspeicherung gekippt

Europäischer Gerichtshof verwirft EU-Gesetz. 26 von 28 Mitgliedsstaaten dürfen trotzdem weiterschnüffeln *

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die massenhafte Sammlung von Telefon- und Internetdaten von Bürgern für rechtswidrig erklärt. Das EU-Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verstoße unter anderem gegen das Recht auf Privatsphäre und sei deshalb ungültig, urteilten die obersten europäischen Richter am Dienstag. Allerdings stellten sie die Datenspeicherung im Kampf gegen Terrorismus und schwere Kriminalität nicht generell in Frage.

26 der 28 EU-Staaten haben die nun gekippten Vorgaben allerdings bereits in ihr Recht übertragen. Die nationalen Gesetze bleiben von dem Urteil unberührt. Deutschland sammelt bislang offiziell keine Daten. Das Bundesverfassungsgericht hatte die 2007 von der damaligen großen Koalition beschlossene deutsche Regelung 2010 gekippt. Dem Widerstand des in der vergangenen Legislaturperiode von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) geführten Justizministeriums gegen die von den Unionsparteien favorisierten neuen Vorschriften ist es zu verdanken, daß noch kein neues deutsches Gesetz existiert.

Justizminister Heiko Maas (SPD) sagte am Dienstag in Berlin, mit dem Urteil aus Luxemburg gebe es nun »keine Richtlinie mehr, die wir umsetzen müssen«. Somit drohten auch keine Bußgelder mehr. Die EU-Kommission hatte Deutschland wegen der ausbleibenden Umsetzung des EU-Gesetzes verklagt. Die Vorratsdatenspeicherung war auf EU-Ebene 2006 eingeführt worden. Der EuGH hatte sich eingeschaltet, nachdem eine irische Bürgerrechtsorganisation, die Kärntner Landesregierung und mehrere tausend Österreicher dagegen geklagt hatten.

Union und SPD hatten im Koali­tionsvertrag vereinbart, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen. Sie hatten damit gerechnet, daß der EuGH lediglich Änderungen an der Richtlinie einfordern würde. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) betonte unterdessen am Dienstag, er dränge trotz des Urteils »auf eine rasche, kluge, verfassungsgemäße und mehrheitsfähige Neuregelung« in der BRD.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. April 2014


Besonders schwere Beeinträchtigung der Grundrechte

Der Europäische Gerichtshof folgt in seiner Argumentation der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts

Von Uwe Sievers **


Der Europäische Gerichtshof hat die Regelung zur Vorratsdatenspeicherung zurückgewiesen. Die Politik hält jedoch an ihr fest und will nun »eine rechtskonforme Regelung« finden.

Wer telefoniert wann mit wem, wo und wie lange? Metadaten werden diese Informationen genannt. Sie fallen bei Telefonaten an wie auch bei E-Mails, SMS und Datenverbindungen. Diese Daten sollen Telekommunikationsanbieter von jedem Bürger ohne Anlass speichern. Für den Fall, dass Ermittlungsbehörden darauf zugreifen wollen, also auf Vorrat. Die Befürworter, vornehmlich konservative Politiker und Vertreter von Polizei und Staatsanwaltschaft, sehen in dieser anlasslosen Vorratsdatenspeicherung (VDS) ein unverzichtbares Instrument zur Strafverfolgung und betonen dessen Bedeutung im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Indes fällt es ihnen schwer, ihre Notwendigkeit durch entsprechende Ermittlungserfolge nachzuweisen.

Kritiker sehen in der anlasslosen VDS einen schweren Eingriff in die Grundrechte, denn aus den Daten können Bewegungsprofile erstellt und das Kommunikationsverhalten jedes Einzelnen analysiert werden. Deshalb erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2010 »die anlasslose Speicherung aller Telekommunikationsverbindungen für unverhältnismäßig«. Sie verstoße gegen das Telekommunikationsgeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil »sich aus diesen Daten bis in die Intimsphäre hineinreichende inhaltliche Rückschlüsse ziehen« ließen. Die Richter befürchteten eine Beeinträchtigung von Meinungs- oder Demonstrationsfreiheit, weil diese Speicherung »ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorruft, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann«.

Dem schloss sich nun der Europäische Gerichtshof (EuGH) an: Er sieht in der EU-Richtlinie einen »Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere« in die Grundrechte der EU-Bürger und erklärt sie für rechtswidrig. Das Gericht besteht auf einer »Achtung des Privatlebens und auf dem Schutz personenbezogener Daten jedes Einzelnen«. Daher müsse die »Speicherung auf das absolut Notwendigste beschränkt werden«. Das Gericht bemängelt den fehlenden Schutz vor Missbrauch der Daten. Die Richter fordern – nicht zuletzt anlässlich der Enthüllungen Edward Snowdens –, dass die Daten nicht auf Servern außerhalb der EU gespeichert werden dürfen. Mit der Richtlinie habe der Gesetzgeber »die Grenzen überschritten«, rügen die Richter die europäischen Institutionen und nationalen Regierungen.

Die 2005 übereilt vom EU-Parlament beschlossene Richtlinie wurde 2006 ebenso übereilt vom Rat verabschiedet. Sie schreibt eine Speicherdauer von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren vor. Bereits ein halbes Jahr später wurde vor dem EuGH erstmals Klage dagegen eingereicht. In Deutschland wurde die Richtlinie 2007 dennoch umgesetzt. Im gleichen Jahr reichte der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung dagegen Klage beim BVerfG ein, welches bereits kurze Zeit später das Gesetz erheblich eingeschränkte und es schließlich 2010 aufhob. In anderen EU-Ländern wurden und werden die Metadaten teilweise weiter bis zu zwei Jahren gespeichert.

Nach dem Urteil des EuGH ist die Vorratsdatenspeicherung jedoch keineswegs vom Tisch. Kritiker wie der EU-Parlamentarier und Datenschutzspezialist Jan Philipp Albrecht (Grüne) fordern zwar ihre europaweite Abschaffung. Fakten zeigten, »dass dieser tiefe Eingriff in das Menschenrecht auf Datenschutz und Privatsphäre zu keiner erkennbaren Verbesserung der Strafverfolgung geführt hat«. Die EU-Kommission muss nun entscheiden, ob sie einen neuen Entwurf vorlegen möchte. Zuvor wird aber das EU-Parlament gewählt. Es könnte maßgeblich für die neue Richtung in Sachen VDS sein.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. April 2014


Die Union hat es eilig, die SPD bremst

Koalitionspartner ziehen verschiedene Schlüsse aus dem Urteil

Von Fabian Lambeck ***


Bei Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hat das schon Routine: Stets aufs Neue wies er Forderungen aus der Union zurück, er solle doch – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – die Vorratsdatenspeicherung einführen. Noch im Januar sagte Maas dem »Spiegel«: »Ich lege keinen Gesetzesentwurf vor, bevor der Europäische Gerichtshof endgültig geurteilt hat.« Nun ist das Urteil gefallen und Maas will es auch weiterhin gemächlich angehen lassen. »Es besteht jetzt kein Grund mehr, schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen«, sagte Maas am Dienstag. Man werde mit der Union »das weitere Verfahren und die Konsequenzen ergebnisoffen besprechen«.

Vertreter von CDU und CSU zeigten sich gestern weniger geduldig. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) betonte, dass er durchaus Handlungsbedarf sehe. »Ich dränge auf eine rasche, kluge, verfassungsmäßige und mehrheitsfähige Neuregelung«, so der Minister in Berlin. Zudem verwies de Maizière auf nicht näher benannte »Fachleute«, die sich einig seien, dass eine Vorratsdatenspeicherung »zum Zwecke der Aufklärung schwerer Straftaten« geboten sei. Offenbar zählen die Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nicht zu diesen Fachleuten. Im Februar 2011 war der Dienst zu dem Schluss gekommen, dass sich »die Erfolge der Vorratsdatenspeicherung in einem sehr kleinen Rahmen halten«. In dem Gutachten ist von einer um nur 0,006 Prozent verbesserten Aufklärungsquote die Rede.

Trotzdem drängen Konservative wie CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach auf die Einführung eines neuen Gesetzes. Gegenüber der »Welt« plädierte er am Montag für eine Speicherdauer von drei Monaten, wie sie im Koalitionsvertrag festgehalten sei. »Im Kern geht es jetzt noch um die Klärung der Frage, für die Abwehr und Aufklärung welcher Straftaten die Daten genutzt werden dürfen«, sagte er. Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) will eine schnelle Lösung des jahrelangen Streits um die Vorratsdatenspeicherung. »Das brauchen wir, um schweren Straftätern auf die Spur zu kommen.« Auch Herrmann scheint das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes nicht zu kennen.

Tatsächlich ist die Bundesrepublik in den letzten vier Jahren ganz gut ohne ein entsprechendes Gesetz ausgekommen. Bereits im März 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung kassiert. Union und FDP hatten sich danach auf keinen neuen Gesetzentwurf einigen können.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. April 2014

Dokumentiert:

Pressemitteilung, 08. April 2014

Liga begrüßt Urteil des Europäischen Gerichtshofs und warnt vor Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung

Liga sieht in anlassloser Massenspeicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat generell eine „schwere Bedrohung von freier Kommunikation und Privatheit, von Berufsgeheimnissen und Pressefreiheit“ und fordert deshalb Verzicht in EU und Bundesrepublik.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute die EU-Richtlinie zur zwangsweisen anlasslosen Massenspeicherung von Telekommunikations- und Standortdatenn auf Vorrat für unverhältnismäßig, grundrechtswidrig und damit für ungültig erklärt. Kernsatz des EuGH-Urteils: Die EU-Richtlinie enthalte „einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, der sich nicht auf das absolut Notwendige beschränkt“. Die Maßnahme sei geeignet, „bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist“.

Mit diesem Urteil ist die Verpflichtung der EU-Mitgliedsstaaten, also auch Deutschlands, entfallen, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Doch ganz ist sie damit leider noch nicht vom Tisch. Denn das Gericht hat diese Methode, wie zuvor schon das Bundesverfassungsgericht, nicht generell verworfen: Der massive Eingriff in Grundrechte müsse sich aber auf das „absolut Notwendige“ beschränken. Was darunter zu verstehen ist, darüber wird es – trotz gerichtlich formulierter Kriterien - auch in Zukunft unterschiedliche Auffassungen geben.

Damit droht ein erneuter Angriff auf Datenschutz, Datensicherheit, Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung. Denn trotz des NSA-Skandals, in dem die massenhafte Ausspähung, Speicherung und Auswertung von Telekommunikations-Metadaten (Verbindungsdaten) eine große Rolle spielen, plant die Große Koalition ein neues Vorratsdatengesetz – nachdem das Bundesverfassungsgericht das erste Gesetz bereits 2010 aufgrund von über 35.000 Verfassungsbeschwerden für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben hatte.

Liga-Vizepräsident Rolf Gössner, einer der Beschwerdeführer gegen das erste bundesdeutsche Vorratsdatenspeicherungsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht, erklärt zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom heutigen Tag:

"Zu begrüßen ist, dass der Europäische Gerichtshof die EU-Richtlinie heute für unverhältnismäßig und grundrechtswidrig und deshalb für ungültig erklärt hat. Mit diesem Urteil kann eine grundsätzliche Abkehr von der Vorratsdatenspeicherung begründet und gerechtfertigt werden. Nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs und auf dem Hintergrund der NSA-Affäre ist die verdachtslose Vorratsdatenspeicherung jedenfalls diskreditiert und kaum noch verfassungskonform umzusetzen.“

Die Internationale Liga für Menschenrechte setzt sich daher zusammen mit vielen anderen Bürgerrechts- und Datenschutzvereinigungen und Berufsverbänden dafür ein,
  • dass die Vorratsdatenspeicherung weder auf EU-Ebene noch in der Bundesrepublik wiedereingeführt wird und
  • dass die Bevölkerung endlich wirksam vor Massenüberwachung und Digitalspionage und weiteren verfassungswidrigen Attacken geschützt wird.



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