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Kleinere Staaten backen

Schottland stimmt über die Eigenstaatlichkeit ab. Welche Folgen hätte ein Sieg der Befürworter für das Machtgefüge in Europa? Wem würde ein "Yes" nützen?

Von Jörg Kronauer *

Eine Woge des Separatismus schwappt vor dem morgigen Schottland-Referendum über den europäischen Kontinent. Kaum eine Region, die ebenfalls nach Abspaltung strebt – und von diesen gibt es viele in Europa –, läßt die mögliche Zerlegung Großbritanniens kalt. Darf, wenn Schottland über seine Eigenstaatlichkeit abstimmt, Flandern dies nicht ebenfalls für sich fordern? Was ist mit dem reichen Norden Italiens, den die dortigen Separatisten »Padanien« nennen, was ist mit Katalonien? Muß in Südtirol dann nicht auch ein Referendum stattfinden oder in den ungarischsprachigen Gebieten Rumäniens? Die Debatte ist neu entflammt – und sollte die Mehrheit in Schottland mit »Yes« stimmen, dann dürfte das Thema die Staaten Europas noch eine ganze Weile bewegen. Womöglich sogar stärker als bisher.

Kaum diskutiert werden bislang die Folgen, die die Spaltung von Staaten für das Machtgefüge auf dem europäischen Kontinent mit sich brächte. Daß sie sich auswirkt, liegt auf der Hand; man kann das exemplarisch aus der Zerschlagung Jugoslawiens lernen, die den einzigen Staat Südosteuropas zerstörte, der mit seinem politisch-wirtschaftlichen Potential der deutschen Vormacht etwas hätte entgegensetzen können. Auch die Zerlegung westeuropäischer Staaten hätte Konsequenzen, die geeignet wären, die deutsche Stellung weiter zu stärken. Beispiele zeigen das.

Da wäre etwa Flandern, die nördliche Hälfte Belgiens, die im 19. Jahrhundert das Armenhaus des Landes war, heute aber viel reicher ist als die französischsprachige Wallonie. Lange hat der Vlaams Belang auf der äußersten Rechten die Flagge der Abspaltung hochgehalten. Heute setzt sich neben ihm auch die konservative Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) für die flämische Eigenstaatlichkeit ein. Ökonomisch ist Flandern eng an Deutschland angebunden. Die Bundesrepublik ist wichtigster Abnehmer flämischer Waren und zweitwichtigster Lieferant für die Region. Der Hafen von Antwerpen – »der größte ökonomische Motor Belgiens«, wie der Chef des Hafenbetriebs erklärt – ist einer der wichtigsten für deutsche Firmen und ein Investitionsschwerpunkt der deutschen Chemieindustrie. Mehr als ein Drittel der Container, die in Antwerpen umgeschlagen werden, gehen nach Deutschland; »ohne ein starkes Deutschland gibt es kein starkes Antwerpen«, urteilt der Repräsentant des Hafens in der Bundesrepublik, Dieter Lindenblatt. Auch die politischen Bindungen sind eng. Anfang 2011 bilanzierte die griechische Zeitung To Ethnos, die angesichts der deutschen Spardiktate kritischer als andere auf die europäische Hegemonialmacht blickte: »Es besteht kein Zweifel, daß es im Fall der Unabhängigkeit Flanderns einen weiteren Satellitenstaat Deutschlands geben würde.«

Dann wäre da Norditalien. Die ultrarechte Lega Nord, die einst die Abspaltung von Italien forderte, hat sich offiziell auf Föderalisierung verlegt; doch würde sie wohl wieder auf Eigenstaatlichkeit setzen, sollten sich neue Chancen ergeben. Im März ergab eine Internetabstimmung im wohlhabenden Veneto eine überwältigende Zustimmung für eine Sezession. »Padanien«, der reichste Teil Italiens, ist, wie es einmal die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest beschrieb, »traditionell auf eine Kooperation mit dem südlichen Deutschland ausgerichtet«. »Padaniens« Unternehmen investieren dort – man denke an die Übernahme der Münchner Hypovereinsbank durch die UniCredit aus Mailand –, sie betrachten die Bundesrepublik als »Tor zu Nord- und Osteuropa«. Deutschland ist auch ihr wichtigster Handelspartner in der EU, der im Norden Italiens rund ein Fünftel der Einfuhren liefert – fast doppelt soviel wie im Süden. Die Lombardei, ein Teil »Padaniens«, kooperiert seit 1988 kontinuierlich mit Baden-Württemberg; der Rahmen ist eine Übereinkunft, die unter dem Namen »Vier Motoren für Europa« der gegenseitigen ökonomischen Bindung der Beteiligten dient. Außer Baden-Württemberg und der Lombardei gehören die französische Region Rhône-Alpes und Katalonien dazu.

In Katalonien, der reichsten Region Spaniens, hat vor einigen Jahren die Frankfurter Buchmesse für erregte Debatten gesorgt: 2007 – damals tobte schon hitziger Streit über die Abspaltung – hatte sie ganz gegen den sonstigen Brauch nicht einen Staat, sondern ein potentielles Sezessionsgebiet zum »Gastland« erklärt. Die Auswahl erfolgt in Absprache mit dem Auswärtigen Amt. Und während die abspaltungswilligen Teile der katalanischen Bourgeoisie jubelten, beklagten sich Autoren, die in Katalonien lebten, es aber vorzogen, in spanischer Sprache zu publizieren, sie würden in Frankfurt ausgegrenzt. 2016 wird übrigens Flandern – nicht Belgien! – Gastland sein, gemeinsam mit den Niederlanden. Letztes Jahr sprang dann aus heiterem Himmel die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) dem katalanischen Separatismus bei. Sie brach ein Tabu – und plädierte dafür, Katalonien nach seiner Abspaltung in die EU aufzunehmen. Daß der Weg in die EU für Regionen verbaut sein könnte, die sich gegen den Willen der Zentralregierung abspalten – wie die Krim von der Ukraine –, das galt bisher als stärkstes Hindernis für die Sezession.

Wie muß man es einordnen, daß sich wohlhabende Regionen mit teils sehr engen Bindungen an Deutschland aus ihren schwächeren Staaten zu lösen suchen? Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise hat der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser einmal geschrieben, es gebe im Herzen Europas »eine relativ einheitliche Wirtschaftskultur«: »Über Jahrhunderte ist sie von Skandinavien bis Norditalien (!) und von der Seine (!) bis an die Oder im engen Austausch der Märkte entstanden.« Geprägt sei sie von »Denk- und Handlungsweisen, Spielregeln und Organisationstypen, die das soziale System der Produktion« ausmachten. Ihre »Arbeitsbeziehungen« etwa seien »kooperativ«, während sie außerhalb – im Süden Europas zum Beispiel – »konfliktorientiert« seien. In guten Zeiten sei das nicht so schlimm; in der Krise aber führe das zu Problemen. Während Abelshauser dies schrieb, schlugen andere für das von ihm beschriebene Gebiet die Einführung eines »Nord-Euro« vor, und in der Lega Nord wurde gefordert, Süd­italien die Lira zu verpassen und es abzustoßen, selbst aber den Euro zu behalten. Abspaltungen bieten in der Tat die Chance, »Wirtschaftskulturen« gegebenenfalls neu zusammenzufügen – je nach Bedarf des europäischen Zentrums.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 17. September 2014

Hintergrund: Eigenstaatlichkeit, Autonomie, Sonderstatus **

Die Scottish National Party (SNP), die unter ihrem Chef Alex Salmond mit aller Macht für die Abspaltung Schottlands von Großbritannien kämpft, ist auf europäischer Ebene in der European Free Alliance (EFA) organisiert. Diese wiederum ist ein Zusammenschluß von Organisationen, die in ihren jeweiligen Staaten entweder für eine weitreichende ethnisch definierte Autonomie oder gar für Eigenstaatlichkeit eintreten. Ihr gehören unter anderem die belgische Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), die Esquerra Republicana de Catalunya, Eusko Alkartasuna, die südpolnisch-»schlesische« Autonomiebewegung Ruch Autonomii Slaska, Die Friesen, die Bayernpartei, Unser Land aus Nordost-Frankreich und die Süd-Tiroler Freiheit an.

Die Süd-Tiroler Freiheit, die eine Abspaltung Schottlands begrüßen würde und vergangene Woche mit einer Delegation auf der katalanischen Unabhängigkeitsdemo vertreten war, vertritt politisch das völkische Milieu der rechten Südtiroler »Schützen«. Sie setzt sich für einen Austritt Südtirols aus Italien und für eine »Wiedervereinigung« Tirols ein, also für den Anschluß an Österreich. Im Frühjahr hat eine Parteidelegation sich zu politischen Gesprächen mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache getroffen. Nicht ganz so weit geht Unser Land (Le Parti Alsacien). »Das Elsaß ist eigentlich eine Nation, das heißt eine Gemeinschaft von Menschen, die sich ihrer historischen, kulturellen und sprachlichen Identität bewußt sind«, heißt es in den Grundsätzen der Partei. »Elsässer haben ein Recht auf Selbstbestimmung.« Ein nicht näher definierter »Sonderstatus« soll dazu aber offenbar ausreichen.

Die EFA hat jahrelang auf ihrer Website eine Landkarte verbreitet, auf der ein völkisch gegliedertes Europa zu sehen war: Spanien, Frankreich und andere Staaten waren in mehrere Teile zerschlagen, Deutschland hingegen um Österreich, Südtirol, die deutschsprachige Schweiz und Ostbelgien gewachsen. Inzwischen ist die Landkarte offenkundig entfernt worden. Die EFA ist mit sieben Abgeordneten im Europaparlament vertreten, die mit den Grünen eine Fraktionsgemeinschaft bilden. (jk)

** Aus: junge Welt, Mittwoch 17. September 2014




Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich

Von Jörg Kronauer ***

Offiziell bezieht die Bundesregierung zum Referendum in Schottland natürlich keine Position. Die Folgen einer Abspaltung wären jedoch für Deutschland durchaus weitreichend. Klar ist: Großbritannien würde erheblich geschwächt, womöglich mit spürbaren Folgen für sein militärisches Potential, das Berlin eigentlich im Rahmen von EU-Interventionen nutzen möchte. Allerdings hat Londons Schwächung aus deutscher Perspektive nicht nur Nachteile – schließlich gibt es genügend Streitpunkte zwischen beiden Ländern, die die Bundesrepublik leichter zu ihren Gunsten entscheiden könnte, hätte das Vereinigte Königreich ein geringeres Gewicht. Und: »Es stünde zu erwarten, daß die Vereinigten Staaten ihr Sonderverhältnis zu Britannien dann überwiegend aus der Erinnerungsperspektive betrachten«, kommentiert die FAZ. »Noch mehr als bisher würde Washington nach Berlin blicken, wenn es auf der Suche nach einem leistungsstarken Verbündeten wäre, der in weltpolitisch bewegten Zeiten die Europäer beisammenhält und der Amerika Lasten abnimmt.« Aus der Perspektive der Autoren ist das wohl positiv gemeint – als ein weiterer Schritt zu einer Position Deutschlands auf Augenhöhe mit den USA.

Machtpolitisch vorteilhaft für Berlin wäre die Schwächung Londons übrigens auch indirekt. Frankreich hat immer wieder, um sich im Machtkampf gegen Deutschland behaupten zu können, Anschluß an Großbritannien gesucht. Zuletzt haben die beiden Länder im November 2010 weitreichende militärpolitische Vereinbarungen getroffen, die es ihnen ermöglichen, auch unabhängig von der Bundesrepublik gemeinsam Krieg zu führen – ein Schritt, der in Berlin nicht gern gesehen wurde, weil er ein partielles Gegengewicht gegen die deutsche Dominanz in der EU schafft. Berliner Regierungsberater haben denn auch – mit Bezug auf das britisch-französische Bündnis von 1904 – von einer »neuen Entente cordiale« gesprochen. »Trotz aller Uneinigkeiten in zahlreichen Fragen sind Frankreich und Großbritannien enge strategische Partner, besonders bei Sicherheits- und Verteidigungsfragen«, schreibt Vivien Pertusot vom Institut français des relations internationales (Ifri) in Paris: »Ein Vereinigtes Königreich ohne Schottland wäre eine schlechte Nachricht für Frankreich, das spüren würde, daß die Bedeutung dieser Partnerschaft beschädigt ist.«

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 17. September 2014


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