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Ein Blick ins Gesetz

Die EU ist neoliberal, militaristisch und weithin undemokratisch – diese Wertung der Linken wird durch die Grundverträge der Europäischen Union bestätigt

Von Gregor Schirmer *

Ein Satz im Entwurf des Parteivorstands für das Programm der Linkspartei zur Europawahl im April hat zu Kontroversen geführt: »Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht«, heißt es in der Einleitung. Der Satz stimmt und sollte so stehenbleiben. Er wird durch den Wortlaut der gegenwärtig verbindlichen zwei Grundverträge in der Lissaboner Fassung, dem EU-Vertrag (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), bestätigt. Juristen gebrauchen gern die Redensart, »ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung«.

Neoliberal

Nach Artikel 119 Absatz 1 AEUV ist die Tätigkeit sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten »dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet«. Dieser Grundsatz ist das oberste Gebot des Neoliberalismus. In Absatz 2 wird festgestellt, daß dieser Grundsatz auch für die Währungspolitik gilt. Im Artikel 120 AEUV steht über die Wirtschaftspolitik der Satz: »Die Mitgliedstaaten und die Union handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb«. Artikel 127 AEUV schreibt dem europäischen System der Zentralbanken vor, sich von diesem Grundsatz leiten zu lassen. Der neoliberale Impetus beherrscht nicht nur die Wirtschafts- und Währungspolitik, sondern auch andere Politikbereiche der EU. Überall geht es um offenen Markt und freien Wettbewerb. Schranken gegen Steuer- und Lohndumping sind nicht zu finden. Sicher, es gibt auch Artikel über schöne Ziele der Sozialpolitik – aber die bestimmen nicht den Charakter der EU. Der Neoliberalismus ist fest und mit unbegrenzter Geltungsdauer im Primärrecht der EU verankert.

Militaristisch

Während die Europäischen Gemeinschaften bis zum Vertrag von Maastricht 1992 ohne eigene Militärmacht auskamen, enthält der Lissaboner EU-Vertrag unter der irreführenden Überschrift »Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) handfeste Bestimmungen über die Militarisierung der Union. Nach Artikel 42 Absatz 1 des EU-Vertrags sichert die GSVP »eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union [also überall auf der Welt] zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen [also auch ohne Beschluß des Sicherheitsrats] zurückgreifen.« Absatz 3 stellt klar, daß die GSVP die »Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten« »achtet« und mit der NATO-Politik »vereinbar« ist. Ohnehin sind 20 von 28 EU-Mitgliedern zugleich in der NATO. Die militaristische NATO dominiert die EU. Absatz 3 bestimmt: »Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.« Dabei hilft entsprechend Artikel 45 des EU-Vertrags die »Europäische Verteidigungsagentur«. Zu den GSVP-Missionen gehören nach Artikel 43 EUV »Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten«. Der Lissaboner Vertrag konstituiert die EU als Militärmacht.

Weithin undemokratisch

Mit Lissabon hat die EU ein paar beachtenswerte demokratische Klauseln aufgesetzt bekommen. In den EU-Vertrag wurde ein eigener Titel II »Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze« hineingenommen. Die »Bürgerinitiative« nach Artikel 11 ist zu begrüßen, aber so ausgestaltet, daß wenig dabei herauskommt. Das strukturelle Demokratiedefizit bleibt erhalten. Das Sagen haben nicht die EU-Bürger und die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten, nicht das EU-Parlament, sondern die Regierungen der Mitgliedstaaten und die von ihnen personell bestimmte und nur formell unabhängige Europäische Kommission. Das oberste Entscheidungsgremium ist nicht das Parlament, sondern der Europäische Rat, der exklusive Club der Staats- und Regierungschefs. Er darf zwar nach Artikel 15 »nicht gesetzgeberisch tätig werden«, aber »gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest«. Dem Parlament ist er nicht verantwortlich. Seine Fraktionen und Abgeordneten haben kein Recht, Gesetzesinitiativen zu ergreifen. Diese Aufgabe liegt nach Artikel 294 AEUV bei der Kommission. Über Gesetzgebungsakte hat das Parlament kein souveränes Letztentscheidungsrecht. Der Rat der nationalen Minister, also ein Exekutivorgan, und das Parlament müssen beide nach einem langwierigen Vermittlungsverfahren zustimmen, sonst »gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen«. Als Kommissionspräsident kann das Parlament nur den vom Europäischen Rat bestimmten Kandidaten wählen. In der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat das Parlament so gut wie nichts zu entscheiden. Also: Die EU ist zwar nicht gänzlich, aber »weithin« undemokratisch.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Januar 2014


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