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Wenn die europäische Integration linke Ursprünge hat, dann waren der frühere Kollaborateur Robert Schuman und sein Partner Konrad Adenauer revolutionäre Kämpfer

Von Pierre Lévy *

Die europäische Integration ist eine linke Idee«, behauptete Gregor Gysi kürzlich. Die These verdient zumindest eine Prüfung. Zuvor aber eine Bemerkung: Die europäische Integration ist keine »Idee«, sondern ein real existierender Prozeß, der aus Verträgen, Regeln und Leitlinien (dem »Acquis communautaire – gemeinschaftlichen Besitzstand«, d. h. der Gesamtheit des gültigen EU-Rechts) besteht, aus Institutionen und Prozeduren sowie aus einem politischen Inhalt, der sich daraus unausweichlich ergibt.

Um zu bewerten, inwieweit dies Ganze von der Linken angeregt wurde, ist ein Umweg durch die Geschichte nötig. Die beiden Personen, die den Beginn des »europäischen Abenteuers« symbolisieren, sind Robert Schuman und Jean Monnet. Die Rede des ersteren vom 9. Mai 1950 wurde als Gründungsakt dessen bezeichnet, was die europäischen Gemeinschaften, später die Europäische Union werden sollten. Als Mitglied der ersten Regierung von Philippe Pétain im Jahr 1940 wurde der Christdemokrat Schuman nach Ende des Zweiten Weltkrieges wegen »nationaler Unwürdigkeit« für seine Kollaboration mit den deutschen Besatzern verurteilt, übernahm aber dennoch wenige Jahre später hohe Regierungsfunktionen, darunter die des Außenministers (1947 bis 1952). Jean Monnet wiederum wurde einer der Chefarchitekten des »europäischen Aufbaus«. Er war ein typischer Parteigänger für Freihandel und Auflösung der europäischen Nationalstaaten. Außerdem steht fest, daß er zu denen gehörte, die euphemistisch als »Einflußagenten« Washingtons in Europa bezeichnet werden.

Revolutionäre Kämpfer

Zu den »Gründungsvätern« werden außerdem traditionell insbesondere Konrad Adenauer und der Belgier Paul-Henri Spaak gezählt. Auf diese bekannten revolutionären und proletarischen Kämpfer folgten einige »Großeuropäer«, wie sie für die radikale Linke stets typisch waren. Es genügt, auf die französisch-deutschen Paare hinzuweisen: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing, Helmut Kohl und François Mitterrand – nicht zu vergessen Jacques Delors.

Aber erinnern wir uns an die Zeit vor 70 Jahren. Das »Dritte Reich« war noch nicht niedergerungen, als sich Washington bereits damit beschäftigte, dem Einfluß zu begegnen, den die Sowjetunion nach dem sich abzeichnenden Sieg würde ausüben können. Man begann mit der Wiederverwertung zahlreicher Überläufer des Naziregimes und plante, dem, was die Bundesrepublik werden sollte, eine Schlüsselrolle bei der europäischen Einigung einzuräumen. Diese gesamte Periode ist umfassend dokumentiert, zumindest in Frankreich – besonders durch die marxistische Historikerin Annie Lacroix-Riz, deren Arbeiten zu den Archiven jener Zeit große Anerkennung gefunden haben.

Sie schrieb kürzlich: »Washington beabsichtigte, Europa eine Einigung am Gängelband der BRD aufzuzwingen, einem Land, dessen kapitalistische Strukturen die am meisten konzentrierten waren, die modernsten und die am engsten mit den Vereinigten Staaten verbundenen (die USA hatten in der Zwischenkriegszeit Milliarden US-Dollar in Deutschland investiert). Dieses Europa wäre ohne jeden Schutz gegen die Exporte Amerikas und dessen Kapital gewesen: Die Motive der transatlantischen Lenker waren nicht nur geostrategischer, sondern auch wirtschaftlicher Natur.« Und die Historikerin präzisierte: »Zwischen 1945 und 1948, also vor der offiziellen Gründung der BRD, stellten sich die westdeutschen Führer unentwegt als ›Europas beste Schüler‹ dar, wobei sie eine wohlkalkulierte Strategie verfolgten: Jeder Fortschritt bei der europäischen Integration bedeutete zugleich eine weitere Tilgung der Niederlage und bildete ein Faustpfand für die Rückgewinnung der verlorenen Macht.«

Traum Karls des Großen

Zweifelt jemand daran? »Nichts könnte uns willkommener sein als zu erfahren, daß die Staaten Westeuropas entschieden haben, Delegierte in einer Stadt Europas zusammentreten zu lassen mit dem Auftrag, die Gründungsakte eines Europa aufzusetzen, und daß ab 1. Januar Westeuropa wie eine Föderation arbeiten wird.« Dieser drängende proeuropäische Appell wurde von General Dwight D. Eisenhower formuliert, der seinerzeit noch nicht im Weißen Haus saß, sondern sich als Oberkommandierender der NATO für Europa äußerte – selbstverständlich eine Garantie für eine echte linke Position. Eisenhowers Plädoyer erschien in der französischen Zeitschrift Paris Match am 27. Oktober 1951. Anders gesagt, der Urheber für die Idee einer europäischen Verfassung war ein Amerikaner. Im Klartext: Die europäi­sche Integration wurde im und für den Kalten Krieg geboren. Erinnern wir uns, daß nicht ein führender Politiker in den sechs Gründungsstaaten riskierte, das Projekt einer Volksabstimmung zu unterwerfen.

Denn in der Tat: Geopolitische Strategie, wirtschaftliche Interessen … das europäische Projekt hatte stets noch eine dritte Säule: Jedem Volk die Freiheit der Wahl jener Politik, die seine Zukunft bestimmt, entziehen und sie durch eine »immer engere Union« ersetzen, die ein gemeinsames »Schicksal« (welches Symbol in diesem Wort!) organisiert. Kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten der Französischen Republik wandte sich der radikal-linke Nicolas Sarkozy 1997 an seine Mitstreiter: »Stellen wir uns vor, was aus Frankreich und seiner politischen Debatte hätte werden können, als wir kommunistische Minister und Sozialisten in der Regierung hatten. Glücklicherweise gab es Europa, um sie daran zu hindern, ihre Ideologie und Logik zu Ende zu führen. Auch das ist Europa!«

Derselbe Sarkozy sah im Wahlkampf 2007 »in der Herausbildung eines europäischen Bewußtseins« den »zerbrochenen Traum Karls des Großen und des Heiligen Römischen Reichs, die Kreuzzüge, das große Schisma zwischen Orient und Okzident, den verflossenen Ruhm des Ludwig XIV. und Napoleons« wiederauferstehen. Einige Jahre später umriß Dominique Strauss-Kahn diese historische Sichtweise mit den Worten: »Dieses Europa, wenn es denn weiter existiert, wird das Mittelmeer wieder zum Binnenmeer machen und den Raum wiedergewinnen, den die Römer und in jüngerer Zeit Napoleon zu schaffen versuchten.« Muß noch daran erinnert werden, daß die höchste Auszeichnung der EU der Aachener Karlspreis ist?

Zusammen mit vielen anderen verlegen Sarkozy und Strauss-Kahn den Ursprung der europäischen Idee weit vor die 1950er Jahre zurück. Allerdings vergessen sie ungerechterweise einen anderen bekannten Anhänger des »neuen Europa«. Am 21. März 1943 stellte Joachim von Ribbentrop im Namen des Reichs einen »Plan zur Gründung eines Europäischen Staatenbundes« vor (Akten zur deutschen Auswärtigen Politik, Serie E, Band V, Dokument 229). In Wirklichkeit engagierte sich das deutsche Großkapital bereits seit den 1920er Jahren mit aller Macht für eine europäische Integration.

Bleibt noch zu verstehen, auf Grund welcher politischen Alchemie das »europäische Abenteuer« von Menschen verteidigt wird, die im Gegensatz zu diesem Gründungshintergrund stehen. Zweifellos herrscht Verwirrung über den Begriff Internationalismus: Wo das europäische Projetk darauf zielt, die Nationalstaaten zu zerstören oder wenigstens abzuschwächen – und mit ihnen die Demokratie im Sinne des Wortes zu beseitigen –, müßte der wahre Internationalismus seinerseits auf Solidarität und Zusammenarbeit gegründet werden – und zwar nicht nur im kleinen Maßstab eines Subkontinents. Solidarität und Zusammenarbeit aber können nur in einem Rahmen existieren, in dem jedes Volk frei ist, kollektiver Akteur für seine Zukunft zu sein. Hätte aber Gregor Gysi recht mit der Behauptung, Europa sei eine linke Idee, dann muß man sich wahrscheinlich die Frage stellen, was aus dem Begriff Linke zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworden ist.

* Der Autor ist Chefredakteur der französischen Monatszeitung Bastille – République – Nations.

[Übersetzung: Arnold Schölzel]

Aus: junge welt, Montag, 10. Februar 2014


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